Marcus Scholz

29. Oktober 2020

96 Jahre nach dem ersten Derby, das der HSV übrigens mit 3:1 gewann, ist das Zweitliga-Duell um die Vorherrschaft in der Stadt immer noch eines der herausragenden Fußballspiele für die beteiligten beider Vereine und ihre Anhängerschaft. Und trotz der fehlenden Kulisse im Stadion und drumherum bleibt den Rivalen zumindest eines erspart: Sie müssen nicht vor der DFB-Gerichtsbarkeit zittern, die nach den Stadtderbys zuletzt gesalzene Strafen verhängte. 140 000 Euro Buße musste der HSV für die Pyro-Show im September 2019 zahlen, 90 000 der FC St. Pauli. Sechs Monate und damit eine Saison zuvor war der HSV mit schmerzhaften 150 000 Euro dabei, der FC St. Pauli berappte zähneknirschend 100 000 Euro.

Wer selbst einmal Sport getrieben und derlei spannende Rivalitätskonstellationen hatte, der weiß, wie viel Adrenalin sowas freisetzt. Auch diese Derbys. Bei mir war es als Ligaspieler des Niendorfer TSV früher immer das Duell mit unserem Vorort (zumindest sehe ich ihn so...) Schnelsen. Da gingen die Frötzeleien schon Wochen vor dem Derby los und beinhalteten insbesondere verbale Wichtigtuereien. Klar! Aber, und das ist der Unterschied zur heutigen Niendorfer Generation: Auf dem Platz ging es mächtig zur Sache. Mehr als sonst.

Da war der Schulfreund, der Studien- oder Arbeitskollege, mit dem man ansonsten gern HSV zusammen gesehen und dabei mit dem einen oder anderen Getränk angestoßen hat, kein Freund – er war Feind. Rote Karten gehörten zum Derby wie die Raute zum HSV. Wenn wir sonst Geldstrafen für unnötige Gelbe Karten erhielten, gab es her Applaus. Denn nicht nur auf dem Platz waren Derbys eben keine normalen Spiele – sondern anders. Es war der Verteidigungsakt des „eigenen Stammes“, wie ich inzwischen aus berufenstem Munde erfahren habe. Aber lest selbst, was unser Freund und Psychologe Dr. Olaf Ringelband mir auf meine Frage (was macht Derbys aus psychologischer Sicht besonders?) geantwortet hat:

Das Derby aus psychologischer Sicht

Das Derby HSV gegen St. Pauli ist psychologisch eine sehr interessante Situation, denn Derbys spiegeln den Kern der Fankultur, des Fußball-Fan-Seins wider. Der Mensch ist entwicklungsgeschichtlich ein Stammeswesen, das sich am wohlsten in einer Gruppe von Verwandten fühlt. Für den Gruppenzusammenhalt war es wichtig, sich von anderen Gruppen abzugrenzen, also eine klare Unterscheidung von „Wir“ und „Ihr“ zu treffen. Da die Stämme der Frühmenschen um die knappen Ressourcen (Nahrung, geschützte Unterkünfte) konkurrierten, war diese Abgrenzung umso wichtiger, je näher ein anderer Stamm war. Die Fankultur greift genau diese Situation auf: wir HSV-Fans sind Teil des Stammes „HSV“. Was uns eint ist nicht nur die Liebe zum Verein („nur der HSV“), sondern auch die Abneigung gegen die anderen „Stämme“ in der Nähe – also St. Pauli und Werder. Auch wenn wir Fans und freuen, z.B. gegen Würzburg zu gewinnen, ein Sieg gegen St.Pauli sorgt deutlich stärker für die Identifikation der Fans mit dem Verein und den Zusammenhalt untereinander.

Einstellung entsteht durch das Erzählen von Geschichten

Aber was heißt das „Derby“ für die die Spieler und die Mannschaft? Auch wenn die meisten Spieler des HSV nicht aus Hamburg kommen, werden alle Spieler um die besondere Bedeutung des Spiels am Freitag wissen – weil Geschichten über das Derby erzählt werden -  innerhalb der Mannschaft, im Verein, in der Presse, im Internet. Diese Geschichten erzeugen bestimmte Überzeugungen und Gefühle im Kopf der Spieler – im Positiven wie im Negativen. Hier ist der Trainer besonders gefragt, bei den Spielern die richtigen Überzeugungen entstehen zu lassen und die richtigen Geschichten zu erzählen. Ich glaube, dass die Spieler letzte Saison mit einer falschen Einstellung in die beiden Derbys gegangen sind. Zur Erinnerung: am 5. Spieltag reiste der HSV mit 10 Punkten aus den ersten 4 Spielen als Tabellenführer zum Auswärtsspiel ans Millerntor. Im Rückblick glaube ich, dass man damals den Gegner (der 14. war) nicht ernst genug genommen hat, und Hecking es nicht schaffte genug Anspannung in der Mannschaft zu erzeugen < https://www.rautenperle.com/content/erwartungshaltung-und-druck-im-profifussball>.

Im Rückspiel war die Situation eine ganz andere: hier hatte die Erfolgsserie der Hinrunde erste Dellen bekommen, der HSV war nur noch auf Platz zwei und drohte, bei einer Niederlage aus den direkten Aufstiegsplätzen zu fallen. War die Niederlage im Hinspiel noch ein kleiner Betriebsunfall, da man lange Zeit ordentlich gespielt hatte, drohte eine erneute (Heim-)Niederlage zur Katastrophe zu werden: zwei Niederlagen innerhalb einer Saison gegen St. Pauli hatte es noch nie gegeben. Hier war der Druck immens und drohte von vornherein bei ungünstigem Verlauf Versagensängste zu erzeugen. Umgekehrt war die Situation für St.Pauli entspannt: man lag auf einem sicheren zwölften Platz und hatte das Hinspiel bereits gewonnen, hatte also nicht zu verlieren. Ich bin mir sicher, dass in den Köpfen der HSV Spieler der lähmende Gedanke „bloß nicht gegen St.Pauli verlieren!“ kursierte – mit dem bekannten Ergebnis, dass der HSV nach einer guten Anfangsphase ab dem ersten Gegentor fast gelähmt war.

Was sollte also Trainer also heute in Vorbereitung auf das Derby tun? Falsch wäre es m.E., „Wiedergutmachung“ für die letzte Saison zu fordern oder auf die besondere Bedeutung des Derbys für die Fans hinzuweisen (hier sehe ich es sogar als Vorteil, dass das Spiel vor leeren Rängen stattfinden wird), der Druck auf die Spieler ist nach den beiden verlorenen Derbys der letzten Saison groß genug.  Thioune sollte den Fokus der Spieler weniger auf die besondere Situation des Derbys ausrichten oder darauf, dass der Gegner St.Pauli heißt, als mehr auf die eigenen Stärken. Im Zweifel sollte er sogar eher etwas Druck herausnehmen und den Schwerpunkt auf die taktische Einstellung legen – ohne jedoch das Spiel am Freitag als „besonders“ zu behandeln; aus rein fußballerischer Sicht ist St.Pauli ein Verein wie 16 andere – die man schlagen kann und muss.

Mein Tipp für Freitag

Ich persönlich freue mich sehr auf das Derby und glaube, dass der HSV am Freitag den sechsten Dreier einfahren wird. Auch wenn St. Pauli mit dem neuen Trainer (m.E. der beste, den St.Pauli die letzten Jahre hatte) taktisch und kämpferisch stärker ist als die letzte Saison, hat Thioune jetzt schon gezeigt, dass er zwei Qualitäten hat, die viele seiner Vorgänger nicht hatten: taktische Variabilität und die Fähigkeit, Teamgeist entstehen zu lassen. Anders als viele HSV-Fans habe ich jedoch nichts gegen St.Pauli; ich wohne in der Schanze und viele meiner Freunde sind St.Pauli-Fans. Als Hamburger sähe ich am liebsten zwei Hamburger Vereine in der ersten Bundesliga, von daher freue ich mich über jeden St.Pauli-Sieg – außer wenn es gegen den HSV geht.        

Vielen Dank, Olaf!! Genau so hätte ich es auch gesagt… Aber im Ernst: Daniel Thioune hat von sich aus schon sehr viel von dem umgesetzt, was Olaf hier anspricht. Ebenso ein Grund, optimistisch in das morgige Derby zu gehen, wie die Personallage, die sich auch heute nicht verschlechtert hat. Bis auf Bakery Jatta (Adduktorenzerrung) und den Langzeitverletzten Rick van Drongelen hat Thioune alle Mann an Bord – also auch wieder Jeremy Dudziak, dessen fehlen ich im letzten Derby als einen ganz wesentlichen Faktor für das damalige 0:2 gesehen habe.

 

Auch deshalb würde ich Dudziak diesmal unbedingt von Beginn an aufbieten. Seine Dribblings, sein schnelles Umschalten und seine Kreativität konnte Sonny Kittel zuletzt nicht liefern. Kittel ist zwar noch einmal torgefährlicher – allerdings aktuell auch längst nicht so wie noch zu Beginn der abgelaufenen Saison. Zudem würde ich Aaron Hunt weiter spielen lassen, bis er platt ist. Mutig flankiert und abgesichert von dem zuletzt überragenden Amadou Onana, sofern dieser die kurze Verletzungspause zu Beginn dieser Woche gänzlich auskuriert hat.

Und ohne das Abschlusstraining mit in die Bewertung nehmen zu können, würde ich in der Innenverteidigung zwingend auf Stephan Ambrosius setzen. Allerdings mit Moritz Heyer (den ich üblerweise Marcel Heyer im „HSV, was geht ab“-Video genannt habe…) und nicht mit Toni Leistner daneben, da ich Heyer für seine Antizipation schätze und glaube, dass man mit ihm insgesamt deutlich flexibler wird. Dass Gyamerah und Leibold beginnen halte ich derweil für ebenso gesetzt wie es Manuel Wintzheimer im offensiven Mittelfeld und Simon Terodde im Sturmzentrum für mich sind.

Oder wie seht Ihr das? Wie würdet Ihr aufstellen?

 

Heute Abend hat die Mannschaft wie auch gestern Abend schon unter Flutlicht trainiert. Dabei hing ein Plakat von Fans am Zaun, auf dem geschrieben stand: „Unsere Stadt - macht den Saisonstart perfekt und haut die braunen Pisser weg.“ Nicht die originellste Idee – aber auch das ist egal. Es wissen alle, was gemeint ist…

In diesem Sinne, bis morgen. Da melde ich mich um 7.30 Uhr wieder mit dem MorningCall und allen letzten News vor dem Derby, ehe sich Kevin und Co. am Abend dann ab 18 Uhr live von unserer Couch melden, während ich aus dem Stadion zugeschaltet werde.

Bis dahin!

Scholle

 

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