14. Oktober 2020
Die Macher der „Rautenperle“ baten mich, aus psychologischer Sicht etwas zum Thema „Umgang mit Druck“ zu sagen. Aktueller Anlass dieser Bitte ist natürlich die momentane Situation des HSV:
Es wurde viel darüber spekuliert, ob der HSV in den letzten beiden Saisons an dem zu hohen Erwartungsdruck gescheitert ist, unbedingt aufsteigen zu müssen/sollen. Die vielen Niederlagen durch Gegentore in den Schlussminuten wurden durchaus zutreffend als „Versagensangst“ beschrieben. Daraus hat der HSV – zu Recht – die Konsequenz gezogen, vor der aktuellen Saison verbal kleinere Brötchen zu backen. Es wurde sogar davon geredet, dass der HSV nun ein etablierter Zweitligaverein wäre, auch wenn er natürlich zum Kreis der Aufstiegsfavoriten gehöre. Nach den ersten zwei Spieltagen lässt sich nun nicht verleugnen, dass der HSV der Favorit für den Aufstieg ist. Nicht nur, dass die ersten zwei Spiele gewonnen wurden, auch die Neuverpflichtungen – allen voran Terodde und Ulreich – machen den HSV zum Favoriten für den Zweitligameister. Es wäre jetzt auch sinnvoll, die bisherige vornehme Zurückhaltung aufzugeben und den Aufstieg als klares Saisonziel zu verkünden, womit natürlich der Druck auf die Mannschaft wieder steigt.
Nicht nur der kollektive Druck steigt, auch der Druck auf einzelne Spieler. Wenn Neuverpflichtungen mit viel Vorschusslorbeeren zur Mannschaft stoßen, wird zweifellos erwartet, dass sie die Qualität der Mannschaft verbessern. Simon Terodde hat nachdrücklich bewiesen, dass er mit dem Druck, Tore schießen zu müssen, umgehen kann. Bei Ulreich sieht das etwas anders aus. Während sich Stürmer durchaus Fehler (d.h., das Tor aus aussichtsreicher Position nicht zu machen) erlauben dürfen, solange sie überhaupt Tore schießen, wird ein Torwart immer an seinen Fehlern gemessen. Ein einziger Torwartfehler, allemal wenn er zu einem Gegentor führt, kann in der Wahrnehmung der Fans, Kollegen und des Trainers nicht dadurch kompensiert werden, dass er zwei „100%ige“ hält. Und es ist ja nicht so, dass der HSV bisher nur schlechte Torhüter gehabt hätte, die reihenweise durch ihre Fehler aufgefallen wären. Heuer-Fernandes und Mickel sind beide solide Torhüter. Ulreich wird sich nicht dadurch von ihnen abheben können, dass er bloß eine solide Leistung bringt, sondern er darf keinen einzigen Fehler machen. Zusätzlich muss er noch den einen oder anderen Unhaltbaren verhindern, um die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Ulreich steht also unter einem ganz anderen Druck als Terodde.
Was hat Leistungsdruck für psychologische Auswirkungen? Druck erhöht zuerst einmal die Anspannung. Der Zusammenhang zwischen Anspannung und Leistung wurde vor über hundert Jahren von zwei Psychologen in dem sogenannten „Yerkes-Dodson-Gesetz“ wie folgt beschrieben:
Mit steigender Anspannung steigt die Leistung – aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Danach sinkt die Leistung wieder ab (man spricht von einer „umgekehrten U-Funktion“). Wo das Maximum der Leistungsfähigkeit liegt, hängt von der Art der Aufgabe und der jeweiligen Person ab. Während für einfache Tätigkeiten (Aufräumen, Staubsaugen, 100-Meter-Lauf) ein relativ hohes Niveau an Anspannung hilfreich ist, ist bei komplexen Aufgaben (Halten eines Vortrags, Schreiben einer Klassenarbeit) das „Zuviel“ an Anspannung schneller erreicht.
Um welche Art von Anspannung es sich handelt, ist dabei übrigens gleichgültig. Physiologisch gibt es keinen Unterschied zwischen einer negativen Anspannung (z.B. durch Angst vor Versagen oder Strafe) oder einer positiven (der Aussicht auf Erfolg). Deshalb kann das Erzeugen von Angst und Bestrafungen durchaus ein Instrument zur Leistungssteigerung sein (man denke nur an den Trainer Felix Magath). Kurzfristig kann man Spieler damit durchaus zur optimalen Leistungsfähigkeit bringen, langfristig überwiegen aber die negativen Nebenwirkungen (Verlust an Vertrauen, Trotzreaktionen).
Für den Trainer bedeutet das abzuwägen, ob er bei der Mannschaft gerade gezielt etwas Druck aufbaut (klassische Situation vor Spielen gegen vermeintlich unterlegene Gegner) oder im Gegenteil Druck herausnimmt („wir haben hier heute nichts zu verlieren“). Ein guter Trainer weiß genau, in welcher Situation er was zu tun hat, um „den Druck hoch zu halten“. Noch mehr gilt das für den Umgang mit den einzelnen Spielern. Das optimale Maß an Anspannung kann für jeden Spieler sehr unterschiedlich sein. Das hängt von seiner Rolle, seiner Stellung in der Mannschaft, nicht zuletzt aber auch von seiner Persönlichkeit ab.
Natürlich kann kein Mensch permanent maximale Leistung abrufen. Das gilt auch für Fußballspieler. Es gibt „Trainingsweltmeister“, die sich im Training durch optimale Leistung für die Startelf aufdrängen, die dann aber im Spiel über den optimalen Punkt ihrer Anspannungskurve bereits hinaus sind. Umgekehrt gibt es Spieler, die den Druck der Zuschauer und des Gegners spüren müssen, um ihre optimale Leistung bringen zu können. Der Trainer möchte zweifellos Spieler haben, die im Training gut genug sind, um sich für die Stammelf aufzudrängen und die dann ihren Leistungshöhepunkt im Spiel haben. Das ist aber nicht immer leicht zu erreichen. Bei Turnieren und während der Saisonvorbereitung werden die medizinischen Trainingspläne in der Regel so gestaltet, dass die körperliche Fitness „auf den Punkt“ da ist. Einen Trainingsplan für die psychologische Fitness zu entwickeln ist weitaus schwieriger.
Hier im Forum hat der User Alex auf einen Ausschnitt aus dem (sehr lesenswerten) Buch von Christoph Biermann hingewiesen, der Union Berlin ein Jahr lang als Journalist begleitet hat. Biermann beschreibt in dem Artikel, wie der Alltag der Bundesligaspieler aus zwei Stunden Training am Tag besteht, dazu kommt dann vielleicht noch etwas Krafttraining oder Physiotherapie. Ansonsten besteht er aus Videospielen und Langeweile. Alex meinte – m.E. völlig zu Recht – dass hier ein großes Verbesserungspotenzial für Spieler und Vereine liegt. Natürlich bringt es nichts, statt einer Stunde Waldlauf drei Stunden Waldlauf zu machen, weil dann physiologisch eher ein Übermüdungs- als ein Trainingseffekt dabei herauskommt. Aber es gibt viele Bereiche, in denen „mehr“ in der Tat „mehr bringt“. Wenn es um das Thema „Druck und Anspannung“ geht, muss man nämlich nicht nur das optimale Maß an Anspannung bei den Spielern erzeugen, um am Spieltag Höchstleistung zu bringen, sondern auch die Zeit zwischen den Spielen nutzen, um einen permanenten Zustand „angenehmer Anspannung“ bei den Spielern zu erzeugen. Dabei sollte dann nicht nur die körperliche Fitness, sondern auch die psychische Fitness und die Automatisierung von Abläufen im Zentrum des Trainings stehen.
„Überlernen“ ist ein psychologischer Begriff, der beschreibt, dass man etwas nicht nur so lange lernt, bis es beherrscht wird, sondern danach noch weiter lernt. Ich lerne also die Vokabeln nicht nur, bis ich sie alle fehlerfrei aufsagen kann, sondern lerne danach noch weiter. Das erscheint wenig sinnvoll und zugleich ineffizient. Die zunehmende Sicherheit im Aufsagen der Vokabeln steht in keinem angemessenen Verhältnis mehr zum Aufwand, den es bedeutet, etwas weiterhin zu lernen, das man eigentlich schon ganz gut kann. Außerdem ist Überlernen eine ermüdende Angelegenheit. Man hat ja bereits das Gefühl, die Materie zu beherrschen.
Beim Fußball kann Überlernen jedoch ein wichtiges Instrument zur Leistungssteigerung sein.
Der Vorteil des „Überlernens“ ist hier, dass dadurch komplexe Abläufe automatisiert werden. Der Spieler muss nicht mehr so viel nachdenken und hat geistige Energie für andere Dinge zur Verfügung. Ein Beispiel aus dem Fußball ist das Umschaltspiel: Dort gibt es eine Reihe von immer wiederkehrenden Konstellationen, z.B. „Drei-gegen-Drei“, „Drei-gegen-Vier“, etc. Für eine solche Situation kann man bestimmte Lauf- und Passwege einstudieren, bis sie „überlernt“ sind. Das bedeutet, sie werden so automatisiert, dass ein Spieler nicht mehr überlegen muss, wohin er läuft, sondern reflexartig reagiert, z.B. 10 Meter vor dem Strafraum zu kreuzen.
Aus psychologischer Sicht besteht daher ein ganz klares Plädoyer dafür, bestimmte Spielsituationen und Standards häufiger einzuüben. Es gibt auch genügend anekdotische Hinweise darauf, dass Überlernen tatsächlich ein Erfolgsfaktor ist – angefangen mit Uwe Seeler, der nach dem Training noch eine Stunde ans Kopfballpendel ging, bis hin zu Beckham und Ronaldo, die freiwillig noch stundenlang Freistöße üb(t)en.
Während Klinsmanns kurzem Intermezzo als Trainer bei Bayern München, führte er viele neue Dinge ein. Unter anderem hatte er die Idee, die Spieler nicht nur zwei bis drei Stunden am Tag trainieren zu lassen, sondern für sie ein Trainingsprogramm rund um die Uhr zu organisieren. Wie vieles, was Klinsmann einbrachte, kam auch dieses Konzept ursprünglich aus dem American Football, der über eine weitaus höhere Professionalität verfügt als der deutsche Profifußball. Natürlich kann man Fußballprofis nicht acht Stunden am Tag Kurzpässe, Überzahlspiel und Flanken üben lassen (viele Trainer sprechen sich wegen des damit verbundenen Ermüdungseffekts gegen zu lange Trainingseinheiten aus). Aber es gibt genügend Dinge, die Fußballspieler helfen, professioneller zu werden und ihre Leistung zu verbessern: angefangen bei Taktikschulung (nicht nur beim HSV frage ich mich manchmal, ob alle Spieler die Ideen moderner Spielsysteme intellektuell wirklich verstanden haben), Ernährungswissen und Physiologie. Aber auch Persönlichkeits- und Teambildung sind Themen, die zur Professionalisierung beitragen. Vertrauen im Team aufzubauen, sich gegenseitig offen (kritische) Rückmeldung zu geben und zu erfahren, wie man selbst auf andere wirkt, sind Dinge, die sicherlich auch einmal nebenbei auf dem Übungsplatz oder in der Kabine passieren. Doch kann man solche Prozesse auch systematisch fördern und so die Leistungsfähigkeit des einzelnen Spielers und des Teams erhöhen.
Der Nebeneffekt einer intensiveren Ausbildung der Spieler ist, dass sie sich zwischen den Spielen vermehrt in einem Zustand „positiver Anspannung“ befinden. Denn, wie oben beschrieben, ist ein optimales Maß an Druck wichtig, damit Spieler ihre Höchstleistung bringen. Vermutlich befinden sie sich heute die meiste Zeit ihres Arbeitslebens nicht in einem Zustand optimaler Anspannung, weil sie entweder unterfordert (außerhalb der Trainings- und Spielzeiten) oder tendenziell überfordert sind (während kritischer Phasen eines Spiels).