Marcus Scholz

24. November 2020

„Der Hamburger SV hat den Herbstblues. Was mit einer Rekord-Siegesserie in dieser Saison begann, ist mittlerweile auf Frustmaß geschrumpft. Drei Spiele in der 2. Fußball-Bundesliga ohne Sieg, davon eine Heimniederlage zuletzt.“ So steht es in einem Artikel der Deutschem Presse Agentur. Weil der HSV gegen Bochum verloren hat. Und weil er wirklich schwach gespielt hat. Es sei ein Trend, der sich seit Wochen abzeichne, auch wenn Trainer Daniel Thioune die Ansicht nicht teilt. Es sei ein Trend nicht nur in der Punktausbeute, sondern auch in der Spielweise, heißt es in dem Artikel weiter. Und viele scheinen diese Ansichten zu teilen – was mich wiederum zu dem Schluss kommen lässt, dass hier in Hamburg noch immer nicht das Maß gefunden wurde, das man braucht, um einen  Neuaufbau erfolgreich stattfinden zu lassen. Vor allem von außen nicht.

 

Denn intern spricht man glücklicherweise weder verklärend gut noch zu schlecht über die letzten Spiele. „Bochum hat uns ein bisschen die Grenzen aufgezeigt“, räumt Thioune nach der 1:3-Niederlage gegen den VfL ein. „Wir hatten Probleme, was unser Ballbesitzspiel betraf, haben uns nicht so gut hinten 'rausgelöst.“ Thioune ist wahrlich kein Rechthaber. Er stört sich nicht daran, zuzugeben, „vielleicht auch die Taktik nicht richtig gewählt“ zu haben. Wie nach Bochum. Der 46-jährige Pädagoge hat nie den schnellen HSV-Aufstieg versprochen. Er spricht nicht nur von der „Entwicklung der Mannschaft“, sondern er meint das auch so.

Der Trainer lernt - das Umfeld leider noch nicht

Und DAS ist für mich für diesen Moment entscheidend. Einen Moment, in dem der HSV übrigens noch Tabellenführer ist. Noch muss dabei nicht übermäßig betont werden, denn ich glaube tatsächlich nicht, dass diese Mannschaft irgendwie etwas mit denen der letzten beiden Jahre gemein hat. Auch Daniel Thioune will übrigens keinen Wiedererkennungswert, er will weder Eingebranntes noch Vorhersehbares beibehalten. Er will den Wechsel, das Unstetige, die Überraschung. Deshalb viele verschiedene Formationen, unterschiedlich lange Ketten in Abwehr und Mittelfeld, wechselndes Positionsspiel der Profis, die mal hinten, mal vorn spielen. Und dabei schwingt neben der Hoffnung auf einen erfolgreichen neuen Weg immer auch das Risiko mit, dass der Trainer seine Mannschaft einmal überfrachtet. Wie gegen Bochum.

„Es ist immer noch der Prozess der Entwicklung“, sagt Thioune. Und für mich ist bei dieser Aussage entscheidend wichtig, dass er sich damit kein Alibi für Niederlagen einholen zu wollen.  Die Entwicklung der Mannschaft muss immer mit dem Gesamtziel Wiederaufstieg – und das ist tatsächlich ein mächtig schwieriger Spagat. Einige Trainer nutzen solche Phasen, um Druck von sich selbst zu nehmen und Niederlagen einzupreisen – Thioune tut das nicht. „Niemand entwickelt sich gern über Niederlagen“, sagt Thioune und will die jüngsten Spiele nicht als Alarmsignal werten. Er sagt völlig zurecht: „Wir waren weder euphorisch, noch brechen wir jetzt auseinander. Ich sehe es als Herausforderung und weniger als Bedrohung“, sagt er im NDR-Fernsehen.

Ich kann die Erinnerung an die beiden vorangegangenen Zweitliga-Spieljahre noch nicht teilen. Ich will auch nicht den Fehler machen, dem Trainer zu früh seine Wirkung auf die Mannschaft abzusprechen. Im Gegenteil: Thiounes zumeist sehr selbstkritischen und vor allem trefflichen Analysen zeigen mir, dass die Probleme erkannt werden. Er sprach von fehlendem Tempo in allen Bereichen. Spieltempo, Handlungsschnelligkeit, Defensivverhalten (griff vom Mittelfeld auf die Abwehr über) – alles habe gegen Bochum gefehlt. Auch, weil er taktisch Fehler gemacht habe, so Thioune, dessen Drang zu Veränderungen diesmal leider zu groß war.

Kein Grund zur Panik: Fehler wird es weiter geben

So positiv diese Bereitschaft auch ist – sie funktioniert eben nicht immer. Gegen Bochum hatte er drei Wechsel vorher vorgenommen und nach dem 1:1 gleich vierfach gewechselt. Auf dem Platz führten diese Wechsel zu Langsamkeit, fehlende Abläufe und Fehler ob des hohen VfL-Pressings zu unnötigen Fehlpässen des HSV. Hat der Gegner eine kluge Defensivtaktik, zwingt er mit seinem weit nach vorn gelagerten Pressing die Hamburger zu Hektik und Fehlern, dann bringt er diese aus dem Konzept. Das war gegen Bochum tatsächlich ähnlich dem, wie es unter Dieter Hecking, Hannes Wolf, Christian Titz oder Markus Gisdol war. Die Spieleröffnung, zumal die schnelle, war ein Problem. Und es mangelt an Ideen und Mut. Wenn man also eine Parallel zu den letzten Jahren ziehen will, dann in diesem Punkt – und aus diesem Spiel. Der große Unterschied: Der Trainer hat das alles nach dem Spiel gegen Bochum genauso eingestanden.

Er kennt also die Fehler. Von daher schon halte ich es so – ich habe das hier schon einmal geschrieben – mit meinem Geschichtslehrer Herrn Pischke. Der sagte mir damals, als ich die Hausaufgaben mal nicht gemacht hatte (was sonst natürlich NIE passierte), dass einmal kein Mal wäre – zwei Mal dafür aber immer wären. Sollte heißen: Ich durfte jeden Fehler einmal machen, aber keinen doppelt, Weil ich es dann eben schon hätte besser wissen müssen. Er wollte erkennen, dass wir lernen. Und ich fand das in dem Moment gut, weil es mich vor einer Strafe schützte. Aber heute finde ich es schlau. Ich gebe es gern an meine Kinder so weiter. Und ich räume auch jedem anderen in meinem Umfeld dieses Recht zu (mit ganz wenigen Ausnahmen natürlich). Auch Fußballtrainern beim HSV.

Vor allem komme finde ich, dass diese Hysterie nach der ersten Niederlage arrogant ist. Wer gegen Kiel remis spielt und gegen Bochum verliert hat automatisch ein Problem? Abgesehen, dass es respektlos gegenüber kämpfenden Kielern und sehr stark aufspielenden Bochumern ist: Ist es beim HSV tatsächlich immer noch so, dass er allein entscheidet, wie die Spiele ausgehen? Auch hier sage ich: Nein. Das war es nie, und das ist es auch jetzt nicht. Aber zum Glück sieht das der Trainer ebenso. Er wiederholt das seit Monaten. Immer wieder. Übrigens auch nach den fünf Siegen in Folge hat er das gemacht. Die einzigen, die das nicht verstehen, sind offenbar wir. Uns reichen zwei Remis und eine Niederlage, um Fragen aufzuwerfen wie „Dritter Total-Absturz nach Traumstart?“ – und das als Tabellenführer.

Der HSV als oberstes Maß aller Dinge? Nein!

Nein, Realitätssinn geht anders. Und mich nervt das nur noch. Ich bin tatsächlich schwer genervt von der dauerhaft negativen Sichtweise, die selbst denen entgegenschlägt, die sie als einzige aufbrechen können. Es wird einfach mal Zeit, auch von außen mal realistische Bescheidenheit zu leben und anzuerkennen, dass man eben nicht das oberste Maß aller Dinge ist. Es wird Zeit, dass wir sie auch von außen nicht nur ständig von den HSV-Verantwortlichen fordern, sondern sie auch selbst leben. Ich fange damit an. Egal wie oft mir jetzt die Pseudo-Kritiker einzureden versuchen, ich würde Dinge beschönigen.

Denn das tue ich nicht. Ich nenne Bochum-Leistungen auch in Zukunft (zu) schwach, nenne Aue-Leistungen weiterhin stark. Und ich werte die Tabellenposition als Erfolg. Nennt es naiv oder sonst wie, ist mir sch….egal: Aber ich  blicke nur noch von Tag zu Tag und versuche den Moment zu beurteilen und nicht das, was vor einem Jahr war. Und auch nicht das, was mal sein kann. Aber ich glaube, dass die Chance mit Daniel Thioune größer ist, als das Risiko. Und allein das verdient mein Vertrauen. Mehr als eine Niederlage allemal. Mir ist das jedenfalls zu billig.

In diesem Sinne, bis morgen.

Scholle

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