Marcus Scholz

21. November 2020

Ich weiß noch, wie ich nach Hause kam. Freudetrunken, weil der HSV gewonnen hatte. Ich setzte mich auf die Couch im elterlichen  Wohnzimmer zu meinem Vater, der nicht minder – dafür aber um Jahrzehnte länger HSV-Fan war (und es ehrlicherweise heute noch ist). Armin Eck hatte den Siegtreffer geschossen, der HSV gewann 1:0 gegen den Tabellennachbarn FC Bayern München. Für mich überraschend und daher umso mehr ein Grund zur Freude. Und ich wollte mir das Spiel in der Zusammenfassung nur zu gern noch einmal anschauen. Selbst das Sportstudio war als TV-Termin für später schon fest gebucht. Und nachdem wir die Zusammenfassung in der Sportschau gesehen hatten, sagte mein Vater nur: „Aber richtig gut war das nicht.“  Eine Haltung, die sehr viele zum HSV haben. Dementsprechend werden aus zwei Remis, die zuletzt durchaus Schwächen offenbarten, plötzlich  sogar schon schwache Spiele gemacht. Obgleich die Gegner gut waren. Selbst hier im Blog liest man immer wieder: „Aber überzeugend war das nicht.“ Eine unausgewogene Sichtweise und daher auch eine falsche Haltung, wie ich finde. Denn bei allem, was man weiterhin immer kritisch betrachten muss, darf man eben nicht vergessen, auch das Positive zu sehen und zu benennen.

 

Es muss eine Balance her, die man hier in Hamburg offensichtlich nicht findet. Ein Beispiel: Ich habe in der abgelaufenen Woche aus privaten Gründen sehr viel und oft mit Verwandten und Freunden sprechen müssen, die über ganz Deutschland verteilt leben. Und selbst die, die wenig bis nichts mit Fußball zu tun haben, sagten mir : „Beim HSV läuft es ja ganz gut, oder?“. Nur die Hamburger Verwandten/Freunde sagten: „Gegen Bochum müssen sie sich aber steigern und endlich mal wieder gewinnen. Sonst wird es wieder eng.“ Erkennt ihr, was ich meine?

Dieser HSV ist nur für diese Saison vorgesehen

Und ja, es stimmt: Der HSV hat zehn Jahre in Folge insgesamt sehr schlecht gearbeitet. Im Ergebnis ist das deutlich abzulesen. Erster Abstieg der Vereinsgeschichte, zehn Jahre trotz Millionenzuschüssen durch Anteilsverkäufe und Darlehensgeschenke bilanziell Verluste erwirtschaftet, eine unfassbare Fluktuation auf dem Trainerposten und in der Führungsetage. Kurz: Eine Ausgliederung, die komplett für den Arsch war. So, dass man kaum sechs Jahre danach schon ganz offen über weitere Anteilsverkäufe spricht. Zudem hat man in der zweiten Liga in entscheidenden Phasen geschwächelt und zweimal unnötig den Wiederaufstieg hergeschenkt. Dass sich mein geschätzter Blogkollege Simon zuletzt Gedanken darüber machte, dass der HSV eine Schwäche habe, in diesen Momenten zu punkten, kann ich mir erklären – aber inhaltlich nicht annehmen. Ich höre zudem immer wieder „in dieser Konstellation hat der HSV in der Ersten Liga nichts zu suchen. So würde man doch abgeschossen werden.“ Und wisst ihr was? Ja klar ist das so! Aber was bitteschön soll das denn heißen? Glaubt wirklich irgendjemand, dass der HSV in dieser Konstellation die Erste Liga angehen würde?

Nein! DIESER HSV ist in dieser Konstellation ausschließlich für DIESE Saison zusammengestellt und soll das Ziel Wiederaufstieg erreichen. Er liegt nach sieben noch nichts sagenden Spieltagen mit drei Punkten (und einem Spiel weniger als der seit heute erste Verfolger SC Paderborn) an der Tabellenspitze und ist in der Liga ungeschlagen. Was ich sagen will? Ganz einfach: Dieser HSV kann aus der jüngsten Historie heraus und darf auch sonst aus keiner Sicht den Anspruch haben, diese Zweite Liga zu dominieren. Möglichst gut durchkommen und am Ende wenigstens ein My besser sein als Platz drei – DAS ist alles. Schafft der HSV das, hat er sein Ziel erreicht.

 

Dass wir uns auf dem Weg dahin über einzelne Szenen zusammen ärgern – okay. Sie zu kritisieren – auch völlig okay. Und ja, es gibt parallel zum Gesamtziel Wiederaufstieg noch Etappenziele wie die Ausbildung der eigenen Talente.  Auch diesen Weg darf man nicht nur, gerade beim HSV MUSS man diesen Weg kritisch begleiten. Und ich kann Euch versprechen, das habe ich nicht nur gemacht, das werde ich weiterhin machen! Aber lasst uns bitte aufhören, aus einer einzelnen Enttäuschung immer gleich das Gesamtkonstrukt in Frage zu stellen. Denn genau daraus resultiert das uns Hamburgern angedichtete „schwierige Umfeld“. Und ganz deutlich gesagt: Fans und Presse geben sich hierbei nicht viel.

Meckern ohne einen Lösungsansatz zu liefern nervt. Von daher will ich Euch meinen Lösungsansatz aktuell gern nennen: Es ist die Haltung des Trainers. Denn abgesehen von seinen inhaltlichen Qualitäten, den HSV sportlich zu führen, sehe ich in seiner Art auch für das „schwierige Umfeld“ einen Lösungsweg. Er bemisst selten bis nie Dinge übertrieben. Und genau das, was auf viele schon „langweilig“ wirkt, sehe ich als Stärke und Chance, diesem HSV auf Sicht endlich ein sympathisches, nicht mehr so überhebliches Gesicht zu verleihen. Thioune weiß, dass fünf Siege in Folge nicht bedeuten, dass dieser HSV das Maß der Dinge ist. Er behält seine Ansichten in den guten wie in den schlechten Tagen bei – und das macht ihn authentisch.

 

Der HSV-Trainer ist einfach kein aktionistischer Typ, sondern reflektiert neben den Leistungen seiner Spieler auch sich und seine Aktionen sehr kritisch. Immer. Nach jedem Spiel bislang. Er macht sich zum Teil der Mannschaft und spricht  nicht von: „DIE MANNSCHAFT hat es heute nicht umgesetzt“ bei Niederlagen und von „WIR haben es richtig gemacht“ bei Siegen. Ich kann  Thioune Fehler schneller verzeihen, weil ich ihm im Gegensatz zu einigen verbohrten und selbstverliebten  Vorgängern sehr wohl zutraue, diese Fehler bei sich nicht nur schnell zu erkennen, sondern sie auch bewusst zu beheben. Oder anders formuliert: Dieser Trainer holt sich und den HSV runter auf den Ist-Zustand. Er setzt die Entwicklung nach vorn in den Mittelpunkt, während der HSV vor Thioune seinen Ist-Zustand leugnete und stattdessen alten Erfolgen hinterherlief. Man nannte es zwar auch da „Entwicklung“ – aber es war alles vom Blick her immer nach hinten gerichtet. Auch von uns. Umso schöner ist es, jetzt mal einen anderen Weg zu gehen bzw. ihn vorgeführt zu bekommen - von Thioune.

Und der Trainer selbst wird gegen Bochum taktisch wohl einen anderen Weg wählen als zuletzt in Kiel.  Nicht wenige rechnen mit einer Viererkette inklusive Toni Leistner in der Startelf. Aber wenn man sich die Startelf-Vorschläge von meinen Kollegen und mir gestern einmal anschaut, erkennt man vor allem, dass Thioune eben nicht annähernd so leicht zu durchschauen ist wie seine letzten Vorgänger. Während Hecking und Co. fast immer mit der Startelf im Abschlusstraining übten, sagte Thioune zuletzt, dass er das „nie“ machen würde. Also auch heute nicht, wo neben einer Turnierform auch Standards auf dem Plan standen. Der Fokus hierbei lag vorrangig auf der Defensive. Und dabei wiederum konnte sich der kopfballstarke Leistner sicher wieder anbieten.

 

Dennoch würde ich eines nicht machen, was meine Mopo- und Abendblatt-Kollegen aber erwarten: Ich würde Stephan Ambrosius nicht auf die Bank setzen, sofern es dafür keine besonderen Gründe gibt. Ich würde auch Amadou Onana (Tipp: Ein sehr nettes Interview mit seiner Schwester und Beraterin im Abendblatt heute!) nicht freiwillig auf die Bank setzen, sondern beiden die Möglichkeit geben, auch mal ein schwaches Spiel oder eine nicht so starke  Trainingswoche zu haben, ohne sie dafür abzustrafen. Vertrauen schenken, solange es mit Leistung zurückgezahlt wird. Und auch hier gilt wie beim Gesamten: Weitblick statt Momentaufnahme.

Womit ich auch noch zu einem Punkt in eigener Sache kommen möchte, ehe ich diesen Blog für heute beende: In den letzten Tagen kam immer wieder Kritik an dieser Stelle auf, was unser neues Format „HSV, was geht ab“ betrifft. Inhaltlich in vielen Punkten zurecht. Und versprochen: Das nehmen wir uns zu Herzen und arbeiten daran! Wenn ich aber lese, dass wegen dieses neuen Formates einige hier alles in Frage stellen und daraus eine generelle Tendenz ableiten, dann sehe ich da eine gefährliche Parallele zu der eingangs erwähnten pauschalen Beurteilung des HSV. Als Erklärung: Gerade in Zeiten von Corona, die uns wie die allermeisten von Euch wahrscheinlich auch hart getroffen hat, versuchen wir Euch nicht nur auf dem Laufenden zu halten. Content-Manager Kevin, Janik, Olli und ich  versuchen sogar, unser Angebot noch zu verbessern. Ohne den Anspruch zu haben, alles richtig zu machen! Von daher nur als Anregung: Wenn uns das mal nicht gelingt (was natürlich schon vorgekommen ist und was auch immer wieder vorkommen wird), dann kloppt nicht gleich alles in die Tonne. Kritisiert uns stattdessen – möglichst differenziert. Denn dann entwickeln wir uns alle gemeinsam nach vorn. Im Grunde so, wie wir es auch vom HSV verlangen.

 

In diesem Sinne, bis morgen! Da laden wir Euch übrigens wieder ganz herzlich zu unserer Live-Couch ein! Ab 13 Uhr werden Janik und Kevin wieder live für Euch im Studio sein, während ich immer wieder mal aus dem Stadion zugeschaltet werde. Ich – nein: WIR freuen uns auf den nächsten gemeinsamen HSV-Nachmittag mit Euch!

Scholle

 

 
Meine Wunschaufstellung - die von der wahrscheinlichen durchaus abweicht: Ulreich – Gyamerah, Ambrosius, Leistner, Leibold – Onana, Heyer – Wintzheimer, Dudziak, Kittel - Terodde
Die wahrscheinliche Aufstellung des VfL Bochum: Rieman – Gamboa, Lampropoulos, Leitsch, Danilo Soares – Losilla, Tesche – Zoller, Zulj, Holtmann - Ganvoula

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