Tobias Escher

22. Juni 2020

Als die Hamburger Aufstellung über den Bildschirm flimmerte, wurden unschöne Erinnerungen wach. Erinnerungen an den 33. Spieltag der vergangenen Saison, als der Hamburger SV unter Trainer Hannes Wolf seine letzte Aufstiegschance wahren wollte. Wolf hatte sich entschieden, eine gänzlich neue taktische Ausrichtung auszuprobieren. Wie es endete, wissen wir alle. Mit Douglas Santos als Zehner und Gotoku Sakai als Linksverteidiger ging der HSV 1:4 unter.

Vorspulen um ein Jahr. Am 33. Spieltag musste der Hamburger SV gegen Heidenheim gewinnen, um sich zumindest sicher für die Relegation zu qualifizieren. Zugleich hätte ein Unentschieden genügt, um in der Tabelle vor Gegner Heidenheim zu bleiben. Trainer Dieter Hecking tat das, was Wolf vor einem Jahr erfolglos gewagt hatte: Im wohl entscheidenden Spiel der Saison wählte er eine gänzlich neue taktische Ausrichtung.

Hohes Pressing und aggressives Nachschieben

Erstmals seit der Corona-Pause begann der HSV mit einer Dreierkette in der Abwehr. Auch das Mittelfeld sortierte sich gänzlich neu: Gideon Jung sicherte vor der Abwehr ab, versetzt vor ihnen agierte eine Doppelacht aus Aaron Hunt und Jeremy Dudziak. Auch im Sturm kam eine unerprobte Variante zum Einsatz, hier begann Martin Harnik neben Knipser Joel Pohjanpalo. Es war eine waschechte Premiere für den HSV: Noch nie unter Hecking hatten sie ein Spiel in einer 5-3-2-Formation begonnen.

Die Parallelen zur Vorsaison endeten in dem Moment, als die Partie angepfiffen wurde. Anders als im vergangenen Jahr präsentierte sich der neu eingestellte HSV nicht als überforderter Hühnerhaufen. Vielmehr übernahmen sie von der ersten Minute an die Kontrolle über die Partie. Sie zwängten Heidenheim das eigene Spiel auf, sowohl bei eigenem Ballbesitz als auch bei gegnerischem Ballbesitz.

Im Spiel gegen den Ball fiel auf, wie aggressiv der HSV agierte. Dudziak rückte fast permanent aus dem Mittelfeld heraus, um die Kreise der gegnerischen Sechser zu stören. Sobald sich ein Heidenheimer Mittelfeldspieler fallenließ, stand Dudziak ihm auf den Füßen. Dabei ging er vor allem Niklas Dorsch hart an. Der Spielgestalter, der auch mit dem HSV in Verbindung gebracht wird, ist in dieser Saison der Taktgeber der Heidenheimer. Er soll von den Innenverteidigern bedient werden und das Spiel in die offensiven Zonen tragen. Dudziak nahm ihn in der ersten Halbzeit effektiv aus dem Spiel.

Aber auch auf den anderen Positionen präsentierte sich der HSV hellwach. Die eigenen Außenverteidiger standen wesentlich höher als in den vergangenen Partien – kein Wunder, agierte der HSV doch mit einer Fünferkette. Jan Gyamerah und Tim Leibold schossen permanent nach vorne, um die gegnerischen Außenverteidiger anzulaufen. Heidenheim bekam keinerlei Kontrolle in das eigene Aufbauspiel; in der ersten halben Stunde lag ihre Passgenauigkeit bei unter 70%.

Taktische Aufstellung Heidenheim - HSV
Taktische Aufstellung Heidenheim - HSV

 

Bedachter, aber dominanter Spielaufbau

Das hohe Pressing war ein Faktor, warum der HSV bis zur Pause über 60% Ballbesitz sammelte – sie nahmen Heidenheim häufig den Ball weg. Der zweite Faktor war das Aufbauspiel. Während der HSV praktisch permanent Zugriff erhielt auf die gegnerischen Verteidiger, gelang dies Heidenheim nur selten. Die Schwaben schienen sichtlich überrascht von der taktischen Umstellung der Hamburger. Ihre Formation sah vor, die Hamburger in einem 4-4-1-1 zu pressen. Die Außenstürmer rückten diagonal nach vorne, um nach Rückpässen der Hamburger Innenverteidiger den Druck zu erhöhen. Die Variante schien jedoch darauf abgestimmt zu sein, dass der HSV den Ball nur zwischen zwei Innenverteidigern hin und her spielen kann – und nicht zwischen drei.

So gelang es dem HSV immer wieder, den freien Innenverteidiger auf der gegenüberliegenden Seite zu finden. Heidenheim konnte aus dem Mittelfeld nicht wuchtig nachrücken, sonst hätten sie diesen Raum für den umtriebigen Dudziak geöffnet. So musste Heidenheim nach wenigen Minuten den Versuch einstellen, mit einem Angriffspressing die Hamburger Innenverteidiger zu stellen. Stattdessen zogen sie sich in einem 4-2-3-1 in die eigene Hälfte zurück und schlossen die Zuspielwege ins Mittelfeld.

Der HSV fand trotzdem Mittel und Wege, vor das gegnerische Tor zu gelangen. Abermals war es Dudziak, der Präsenz zeigte: Wieder und wieder startete er in die Spitze und schuf Tiefe. Er drückte Heidenheim nach hinten, wodurch sie wiederum Räume im Zentrum und vor allem auf den Flügeln öffneten. Auch bei eigenem Ballbesitz agierten die Hamburger Außenverteidiger offensiv, wieder und wieder schalteten sie sich in das Angriffsspiel ein. Das Eckenverhältnis spiegelte wider, welche Mannschaft mehr Druck über die Flügel entfachte: Zur Halbzeitpause führte der HSV 6:1.

Bräsige Hamburger und offensiv entfesselte Heidenheimer

Nach der Pause war es soweit: Der HSV wandelte die eigene Dominanz in ein Führungstreffer um. Joel Pohjanpalo nutzte einen Abstimmungsfehler der Heidenheimer Viererkette nach einem langen Ball (46.). In den folgenden Minuten verwaltete der HSV die Führung.

Heidenheims Trainer Frank Schmidt sah nicht lange untätig zu. In der 64. Minute zog er bereits seine vierte Wechseloption, nach 74 Minuten hatte er sein Kontingent von fünf Wechseln gänzlich erschöpft. Seine Wechsel hatten auch eine taktische Dimension: Schmidt stellte im Verlaufe des Spiels auf eine Rautenformation um. So sah es zumindest auf dem Papier aus; in der Praxis postierten sich drei Stürmer im Strafraum, während die aufrückenden Außenverteidiger und der auf die Flügel ausweichende Achter Marc Schnatterer Flanken in den Strafraum schlugen.

Lange Zeit schien es so, als könne Heidenheim mit dieser Strategie nicht die nötige Gefahr entfachen, um den HSV ernsthaft unter Druck zu setzen. Doch der Schein trog. Bereits in dieser Phase entglitt dem HSV das Spiel. Das begann im eigenen Pressing: Dudziak störte weiterhin den gegnerischen Sechser. Doch der war nicht länger Dorsch, sondern Sebastian Griesbeck. Dorsch postierte sich nun im Achterraum und kam hier auch immer wieder frei an den Ball. Heidenheim gelangte nun wesentlich häufiger in die gegnerische Hälfte. Die Hamburger Wechsel stärkten Heidenheims Mittelfeld noch weiter. Denn der eingewechselte David Kinsombi konnte keinen so hohen Druck entfachen (67.), wie dies zuvor Dudziak gelungen war.

Erschwerend hinzu kam in dieser Phase, dass der HSV den Ball leichtfertig herschenkte. Heidenheims Pressing hatte sich in seiner Systematik im Vergleich zur ersten Halbzeit kaum verbessert. Sie rückten nun allerdings mit dem Mute der Verzweiflung nach vorne. Das genügte, um den HSV zu unkontrollierten langen Bällen und Fehlpässen zu verleiten. Der Ballbesitzanteil der Hamburger sank nach der Pause auf unter 50%. Die Kontrolle über die Partie war verlorengegangen.

Zwei Flanken schicken den HSV in die Hölle

Das alles sorgte in der Summe nicht dafür, dass Heidenheim Chance um Chance bekam. Vielmehr ging die Dominanz aus der ersten Halbzeit flöten. Heidenheim kam öfter geordnet aus der eigenen Hälfte, konnte öfter den Ball auf die Flügel herauslegen, konnte mehr Flanken schlagen. Viel mehr sah ihre Strategie auch nicht vor.

Dennoch: Auch unter diesen taktischen Voraussetzungen darf der HSV diese Partie niemals verlieren. Zwei suboptimale Flanken von Schnatterer genügten am Ende, damit Heidenheim die Partie drehen konnte. Bei beiden Hereingaben sah die Innenverteidigung der Hamburger alles andere als souverän aus. Beim ersten Treffer fehlte eine Absicherung am ersten Pfosten, beim zweiten Treffer blieb der hintere Bereich völlig unbesetzt.

Der HSV verschenkte damit ein Spiel, dass er nie im Leben verschenken darf. Zugleich wies der Ablauf der Partie zahlreiche Parallelen auf zum bisherigen Verlauf der Saison: Zu Beginn sahen die Ansätze durchaus vielversprechend ist. Die taktische Formation war clever gewählt, die Mannschaft setzte die Anweisungen des Trainers leidenschaftlich um. Doch diese Dominanz schwand mit der Zeit, ehe man sich in buchstäblich letzter Sekunde selbst um den Punkt brachte. Auch wenn der Spielverlauf nicht ansatzweise mit dem desaströsen Auftreten am Ende der vergangenen Saison zu vergleichen ist: Damals wie heute brachte der HSV sich im Saisonschlussspurt um den Aufstieg.

 

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