Tobias Escher

22. Oktober 2020

Als der Hamburger SV den 1:0-Treffer gegen Erzgebirge Aue erzielte, schaute Trainer Daniel Thioune nur kurz auf. Wenige Sekunden später war er schon wieder vertieft in den Notizblock des Trainerteams. Diese Akribie spürt man auf dem Platz: Der neue Trainer des HSV lässt sich jeden Spieltag etwas einfallen, um perfekt auf den Gegner vorbereitet zu sein.

Im Nachholspiel gegen Erzgebirge Aue kam erneut die Dreierkette zum Einsatz. Gideon Jung, Stephan Ambrosius und Jan Gyamerah bildeten die Abwehrkette. In der Mittelfeldreihe davor gab es eine faustdicke Überraschung. Damit sind nicht etwa Khaled Narey oder Aaron Hunt gemeint, die beide auf ihren Paradepositionen als rechter Außenverteidiger bzw. als tiefer Spielmacher zum Einsatz kamen. Auch Bakery Jatta begann als linker Außenverteidiger in einer Rolle, die er schon einmal gespielt hatte.

Die größte Überraschung fand sich neben Hunt: Moritz Heyer begann auf der Doppelsechs. Der Neuzugang kam diese Saison bereits als Innenverteidiger und Linksverteidiger zum Einsatz. Seine Präsenz im zentralen Mittelfeld sollte für Stabilität sorgen: Neben dem offensiver denkenden Hunt besetzte Heyer die frei werdenden Räume. Wenn Hunt sich im Spielaufbau fallen ließ, rückte Heyer etwas weiter nach vorne. Wenn Hunt im Pressing nach vorne stürmte, sicherte Heyer den Sechserraum ab. Es war eine auf den ersten Blick ungewohnte, aber durchaus passende Aufgabenteilung.

Aue ohne Zugriff

Dass Thioune seine Mannschaft in einer 3-4-3-Formation aufgestellt hat, dürfte in erster Linie dem Gegner geschuldet gewesen sein. Gegen Aue musste der HSV das Spiel übernehmen. Die Erzgebirgler traten zunächst eher defensiv auf. Aus einer nominellen 4-1-4-1-Formation versuchten sie, dem HSV mit Manndeckungen Einhalt zu gebieten. Gerade im Mittelfeld deckten die Auer Spieler ihre Hamburger Gegenspieler eng. (Aus diesem Grund dachte der Analyst dieses Artikels lange, Aue spiele mit einer Fünferkette. Es war aber nur Außenstürmer Florian Krüger, der praktisch permanent an den Fersen des offensiv auftretenden Jatta hing.)

Der HSV stand gegen diese Auer Mannschaft vor zwei Herausforderungen: Zum Einen brauchten sie einen stabilen Spielaufbau. Nur so konnten sie den Gegner ins Laufen bringen und eigene Angriffe vorbereiten. Dazu war die Dreierkette prädestiniert: Hamburgs Innenverteidiger ließen die Kugel laufen. Häufig störte sie nur ein gegnerischer Stürmer, was ihre Arbeit erleichterte. Sobald Aue die Außenstürmer hochschob und zu einem höheren Pressing ansetzte, bezogen Hamburgs Innenverteidiger Keeper Sven Ulreich ein. Er überzeugte erneut mit seiner Ruhe am Ball und Übersicht.

Zum Anderen mussten die Hamburger dieses Ballbesitzspiel im zweiten Schritt in die gegnerische Hälfte tragen. Um die mannorientierte Grundordnung des Gegners durcheinanderzubringen, tauschten Hamburgs Spieler häufig die Positionen. Gerade Manuel Wintzheimer und Sonny Kittel kam diese Aufgabe zuteil: Nominell begannen beide versetzt hinter Stürmer Simon Terodde. Kittel setzte sich jedoch immer wieder nach Linksaußen ab, während Wintzheimer sich zwischen den gegnerischen Linien anbot. Zusammen gelang es ihnen, Freiräume für die Außenspieler zu erzeugen.

Äußerst positiv war die Einbindung der äußeren Innenverteidiger. Diese blieben nicht etwa in der eigenen Abwehrlinie stehen. Sobald die Hamburger den Gegner über die Außen nach hinten gedrängt hatten, rückten sie auf. So konnte etwa Gideon Jung aus der gegnerischen Hälfte den Führungstreffer der Hamburger einleiten (18.).

Taktische Aufstellung HSV - Erzgebirge Aue
Taktische Aufstellung HSV - Erzgebirge Aue

 

Zweites Tor nach Pressing

Dass sich der HSV unter Thioune nach Führungen etwas zurückzieht, dürfte mittlerweile bekannt sein. Auch gegen Aue war dies nicht anders. Während der HSV bis zur 20. Minute über 75% (!) Ballbesitz hatte, lag der Wert für die weiteren siebzig Minuten bei knapp über 50%. Gerade in der zweiten Halbzeit formierte sich der HSV häufiger in einer defensiven 5-2-3-Formation.

Mittlerweile agiert der HSV dabei aber nicht mehr ganz so passiv, wie er dies noch in den ersten Saisonspielen tat. Auch wenn der Gegner den Ball hat, versucht der HSV, aktiv nach vorne zu verteidigen. Dazu nutzt er eine mannorientierte Spielweise: Die Stürmer lenken den gegnerischen Spielaufbau ins Mittelfeldzentrum, dort decken die Hamburger ihre Gegenspieler eng. Gegen Aue rückte beispielsweise Hunt immer wieder vor, um den gegnerischen Sechser Philipp Riese zu attackieren. Nach einer Balleroberung Hunts erzielte Kittel den zweiten Hamburger Treffer (57.).

Aktuell fällt aber noch auf, dass der HSV zwar in der gegnerischen Hälfte Druck aufbaut. Sobald das Pressing überspielt wurde, weicht der HSV in der eigenen Hälfte schnell zurück. Gerade die Abwehrreihe orientiert sich eher nach hinten als nach vorne. Auch wenn der Vergleich etwas hochgestochen ist, aber der FC Bayern München hält im Pressing den Druck auch im zweiten oder dritten Versuch hoch. Ob das noch Kinderkrankheiten des Hamburger Pressings sind oder ob Thioune die zurückweichende, etwas weniger riskante Art der Restverteidigung bevorzugt, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.

Gegen Aue war dieser Faktor ohnehin nicht relevant. Die Auer präsentierten sich im Spiel mit dem Ball äußerst einfallslos. Ihre Positionswechsel waren zu schematisch, um den HSV zu überraschen: Sechser Riese ließ sich routinemäßig fallen, die Außenverteidiger rückten vor, die Außenstürmer ein. Das stellte den HSV nicht vor Probleme. Es half den Auern auch nicht, dass sie in der zweiten Halbzeit wesentlich raumorientierter verteidigten. Sie erhielten in ihrem 4-1-4-1 weiterhin keinen Zugriff auf den Hamburger Spielaufbau.

Ganz, ganz verhaltene Euphorie

So darf sich der HSV am Ende über einen verdienten Sieg über schwache Auer freuen. Trainer Dirk Schuster tat nicht wirklich gut daran, seine Elf vor dem Spiel umzustellen. Deshalb sollten HSV-Fans den 3:0-Sieg mit Vorsicht genießen: Der HSV zeigte eine stabile Leistung gegen einen Gegner, der in weiten Teilen neben sich stand. Zwar dürften die Würzburger Kickers am Wochenende kein viel schwererer Prüfstein sein. Spätestens der FC St. Pauli wird im Derby wesentlich körperbetonter zur Sache gehen.

Dennoch darf man nach vier Siegen aus vier Spielen ganz, ganz verhaltene Euphorie aufkommen lassen: Der HSV wirkt wesentlich flexibler als noch in der vergangenen Saison. Das ist ein Verdienst von Taktiktüftler Thioune. Der Grundstein für eine erfolgreiche Saison ist gelegt.

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