Dr. Olaf Ringelband

10. Juli 2020

In meinem letzten Beitrag “Psychogramm des HSV” habe ich drei Bereiche erwähnt, in denen ich psychologische Probleme beim HSV sehe: die Motivation der Spieler, die fehlende Führung und die Kultur des Vereins.

Mit dem letzten Punkt, der Kultur bzw. der “DNA” des Vereins, möchte ich mich heute etwas näher beschäftigen. Der HSV ist ein Verein mit einer großartigen Vergangenheit und Tradition. Aber Tradition sorgt nicht automatisch für Erfolge im Hier und Jetzt, das mussten schon viele Vereine (und Wirtschaftsunternehmen) erkennen. Am Beispiel des HSV kann man sehen, wie eine große Tradition auch lähmen kann - nämlich dann, wenn aus der Tradition ein Anspruch abgeleitet wird, der nichts mit der Realität zu tun hat. Was immer in den letzten Jahrzehnten an Ansprüchen formuliert wurde, hat nicht zu einer Kultur der Höchstleistung im Verein geführt, sondern eher zu einer der Minderleistung.

Das kenne ich aus Unternehmen: häufig werden nach außen und innen Ziele verkündet wie “Wir sind kundenorientiert”, “Wir produzieren höchste Qualität”, “Wir haben eine Null-Fehler-Kultur”, die von der Belegschaft nicht umgesetzt werden. Nicht, weil sie es nicht wollten oder nicht könnten, sondern weil die gelebte Kultur des Unternehmens diesen Zielen widerspricht.

Im schlimmsten Fall - und das war teilweise beim HSV so - entstehen aus dem Spannungsfeld zwischen dem idealisierten Selbstbild (“Traditionsverein”) und dem, was es an unausgesprochenen Regeln gibt (z.B. “Fehler werden bestraft, lieber keine Verantwortung übernehmen”) Verunsicherung und Ängste, die lähmen.

Kultur wird von oben geprägt

Die “Kultur” eines Unternehmens oder eines Vereins ist eine schwer greifbare Angelegenheit, sie ist unabhängig davon, ob einzelne Personen den Verein verlassen oder dazukommen. Schlicht gesagt, besteht die Kultur eines Vereins aus all den unausgesprochenen Regeln und Überzeugungen, nach denen sich alle richten.

Wenn jemand neu in ein Unternehmen/einen Verein kommt, versucht er, (zumeist unbewusst) sich an das neue Umfeld anzupassen. Er beobachtet, was andere machen und spricht mit Kollegen, hört sich Geschichten an über Geschehnisse, die er nicht selbst erlebt hat. Besonders bedeutsam ist dabei das, was die Führungsmannschaft macht und sagt, also die erfahrenen Spieler, der Mannschaftskapitän, aber noch mehr der Trainer, der Vorstand und der Aufsichtsrat. Je weiter oben in der Hierarchie jemand steht, desto mehr ist das, was er macht, kulturprägend - denn es gibt allen anderen Orientierung über die ungeschriebenen Regeln im Verein.

So nehmen Neuankömmlinge unbewusst schnell die Kultur eines Vereins auf und verhalten sich entsprechend. Das erklärt, warum beim HSV die Trainerwechsel zumeist wirkungslos waren und viele Spieler beim HSV schlechter wurden (und häufig danach wieder besser).

Wie man die Kultur verändern kann

Wie kann man  aus der “Minderleistungskultur” beim HSV eine Hochleistungskultur machen? Der erste Schritt ist zu überlegen, welches die Überzeugungen und Prinzipien sind, die man den Spielern vermitteln will. Das könnten Dinge sein wie “Jeder gibt alles für den Erfolg”, “Wir stehen füreinander ein und helfen uns”, “Wir übernehmen Verantwortung und tun etwas, statt zu warten”, “Wir ergreifen die Initiative und riskieren etwas”. 

Etwas in diese Richtung hat der HSV bereits unternommen. Auf der Webseite des HSV gibt es eine Datei “Unser Leitbild”, das auch bestimmte Werte definiert, die durchaus tauglich wären um einen Kulturwandel einzuleiten.

Um solche Prinzipien glaubhaft im Verein zu verankern, sind jedoch die Führungskräfte des Vereins gefordert. Diese müssen die Prinzipien vorleben und in den Verein tragen, mit den Mitarbeitern (damit meine ich nicht nur die Spieler) reden und aktiv an der Kulturveränderung arbeiten. Die Führungskräfte des Vereins müssen sich bewusst sein, dass sie aktiv gefordert sind, die Kultur des Vereins zu ändern, dass alles, was sie tun und sagen (oder auch gerade: was sie nicht tun) Einfluss auf die Kultur und damit die Leistung der Mannschaft hat. Das Verhalten der Führungskräfte vermittelt den Spielern bestimmte Erfahrungen, die ihre unbewussten Überzeugungen nachhaltig prägen.

Wenn man den Spielern z.B. das Prinzip des Füreinander-Einstehens vermitteln will, müssen Vorstand und Aufsichtsrat dieses Prinzip selbst leben. Sobald dort jedoch dieses Prinzip nicht vorgelebt wird (und Mitarbeiter wie Spieler sind durchaus sensibel genug, so etwas mitzubekommen), wird sich die Kultur nicht ändern.

Wenn man fordert, dass Spieler Verantwortung übernehmen und Risiken eingehen, darf man die Spieler, die den Mund aufmachen und den Mut zeigen, Fehler zu machen, nicht bestrafen. Denn so lernen die Spieler schnell, lieber nicht zu viel Verantwortung zu übernehmen und Fehler zu vermeiden.

Das größte Hindernis beim Aufbau einer Leistungskultur ist, wenn die Führung zu wenig sichtbar ist. Ich will mich hier mit Ferndiagnosen zurückhalten, da ich den HSV nicht von innen kenne - aber zumindest nach außen hin ist wenig vom Aufsichtsrat/Vorstand zu sehen. Wenn die Vereinsspitze schon nicht vorlebt, Verantwortung zu übernehmen und Mannschaftsgeist zu zeigen, wie soll dieser Spirit dann die Mannschaft erreichen?

Thioune wird es alleine nicht schaffen

Der neue Trainer, Daniel Thioune, macht auf mich einen sehr positiven Eindruck: klarer Fokus auf Leistung, selbstbewusst, motiviert, formuliert realistische Ziele. Ich stimme Scholles letztem Beitrag komplett zu, dass wir mit Thioune die Chance haben, beim HSV eine neue Kultur aufzubauen, in der wir kleinere Brötchen backen, Leistung anerkannt und Fehler gestattet werden. Aber: Die Organisationspsychologie kennt den schönen Satz: “Die Kultur verspeist die Strategie zum Frühstück.” Das heißt, auch wenn Thioune klare Vorstellungen einer neuen Ausrichtung des Vereins hat, besteht das Risiko, dass die vorhandene Kultur stärker ist und ihn früher oder später einfängt. Thioune allein wird die Kultur des Vereins nicht ändern können, erst wenn alle Führungskräfte des HSV sich ihrer Rolle in einem solchen Veränderungsprozess bewusst sind und aktiv daran mitarbeiten, wird Thioune erfolgreich sein können.

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