Dr. Olaf Ringelband ist Psychologe, Geschäftsführer einer Beratungsgesellschaft und lehrt Psychologie an der Universität Hamburg. Außerdem ist er bekennender HSV-Fan. Für die Rautenperle untersucht er die psychologische Situation beim HSV und schreibt darüber.

Fans, Trainer und Funktionäre sind sich einig, dass “Psychologie” eine wichtige Rolle für Erfolg und Misserfolg spielt, denn in Interviews fallen häufig Formulierungen wie “Barriere im Kopf”, “mental nicht frei”, “im Kopf woanders gewesen”.

Die Rolle der Psychologie im Fußball kann man durch den bekannten “Heimvorteil” illustrieren: die Heimmannschaft holt im Schnitt mehr Punkte, kassiert weniger Karten und bekommt mehr Elfmeter. Intuitiv betrachtet liegt das an der Unterstützung der eigenen Fans im Stadion, die für die nötige Motivation der Heimmannschaft sorgen. Wenn das so wäre, wäre der  Heimvorteil ein rein psychologisches Phänomen, denn rational gesehen gibt es keinen Grund, warum Fußballspieler nicht immer hochmotiviert ins Spiel gehen, egal ob daheim oder auswärts.

Vielleicht gibt es aber eine andere Ursachen für den Heimvorteil, vermutet werden z.B. Vertrautheit mit dem Platz, die fehlenden Reisestrapazen (Die Zeit), oder die Nähe zu der Familie. Die Geisterspiele geben Gelegenheit, die Ursache des Heimvorteils zu erforschen, denn die Mannschaften spielen bekanntlich in leeren Stadien ohne Unterstützung der Fans. In der Tat zeigt sich, dass  der Heimvorteil seit der Corona-Unterbrechung verschwunden ist (Statista), es gibt ungefähr gleich viel Siege der Heim- wie der Gastmannschaft. Der psychologische Effekt der Anfeuerung durch die Fans hat also dafür gesorgt, dass Mannschaften bei Heimspielen eine stärkere Leistung abrufen.

Zum HSV: es wird häufig gesagt, dass die Mannschaft zu schwach wäre, um aufzusteigen. Ich glaube das nicht: die Mannschaft hat laut transfermarkt.de einen Gesamtwert von 36 Mio. € (zum Vergleich: Arminia Bielefeld 20 Mio. €). Zwar mag der eine oder andere Fehleinkauf dabei sein, aber im Großen und Ganzen spiegelt der Marktwert einer Mannschaft deren Leistungsvermögen wider.

Die Gründe für den Nicht-Wiederaufstieg sind sicher vielfältig (taktische und individuelle Fehler, Verletzungen, Pech), aber es gibt auch eine Reihe psychologischer Gründe:

1. Motivation der Spieler.

Ein so hoher Spieleretat wie ihn der HSV hat,  hat einen gewaltigen Nachteil: Spieler, die schon heute so viel Geld im Jahr verdienen wie ein normaler Arbeitnehmer im ganzen Berufsleben, sind durch Geld kaum noch motivierbar. Man mag einwenden, dass die Spieler in den Champions League Vereinen noch viel mehr Geld verdienen und offenbar dennoch hochmotiviert zur Sache gehen. Hier greift ein interessantes Phänomen: Menschen definieren ihre eigenen Leistungserwartungen häufig am Maßstab der Menschen um sie herum. Das kennt mancher schon aus der Schule: wenn die Freunde alle 4er-Schüler sind, fühlt man sich mit einer “3” schon gut, während man mit lauter 1er-Schülern um sich herum eine “3” relativ schlecht anfühlt. In großen Vereinen ist das Leistungsniveau so hoch, dass das automatisch ein Ansporn für jeden Spieler ist.

Beim HSV hat sich über die Jahre ein mittelmäßiger Leistungsanspruch eingeschlichen, der dafür sorgt, dass kein Spieler das Gefühl haben muss, im Vergleich zu Mitspielern nicht genug gegeben zu haben. Interessanterweise spiegelt sich das nicht in den Statistiken zu Laufleistung und Ballbesitz wider, denn in beiden Punkten rangiert der HSV recht weit oben (Zweiter, bzw. Vierter). Es gibt also offensichtlich eine Mentalität, “Hauptsache, wir laufen und haben den Ball”. Dass sich Ballbesitz und Laufleistung nicht in Punktgewinnen widerspiegelt, mag auch eine Sache der falschen Taktik sein, aber das psychologische Problem ist, dass keiner der Spieler das Gefühl haben muss, nicht genug gegeben zu haben und nicht zu viele Fehler gemacht zu haben (bei der Passquote ist der HSV Dritter in der Zweiten Bundesliga). Was also fehlte, war, der Wille, nicht nur nicht schlecht dazustehen, sondern zu gewinnen. Das illustriert die Zweikampfstatistik der Zweiten Liga: Unter den ersten fünfzig  sind mit Timo Letschert (13.) und Gideon Jung (48.) nur zwei HSV-Spieler. Wie kann man aber eine “Siegesmentalität” in die Mannschaft bringen? Das bringt mich zum zweiten Punkt.

2. Führung.

Führung heißt, anderen Orientierung zu geben und sie zu Höchstleistungen zu motivieren. Beim HSV habe ich niemanden gesehen, der die Mannschaft geführt hat - weder auf dem Platz noch außerhalb. Das Problem ist, dass als Anführer nur akzeptiert wird, wer glaubwürdig Leistung von anderen fordert. “Glaubwürdig” heißt, dass er selbst das leistet, was er anderen abverlangt. Ein plumper Satz wie “weiter, immer weiter” (kolportierter Ausspruch von O.Kahn als Bayern kurzzeitig die Meisterschaft an Schalke verloren meinte) wirkt bei den Mannschaftskollegen nur dann, wenn er von jemanden kommt, der selbst daran glaubt und das durch Auftreten, Leistung und Körpersprache vermittelt. Die Führung kann auch von außen kommen, durch den Trainer oder sogar durch Funktionäre. Da ich Herrn Hecking nicht persönlich kenne, will ich mich mit psychologischen Aussagen über ihn zurückhalten. Er ist sicher ein erfahrener Trainer und ein ausgesprochen sympathischer Mensch. Aber bei seinen TV-Auftritten wirkte weder seine Körpersprache, noch seine Stimme oder das, was er sagte so als wenn er selbst 100% an den Erfolg glaubt und diesen Glauben anderen vermitteln will.

3. Verein.

Organisationen sind seltsame Gebilde - das gilt für Firmen wie für Vereine. Es gibt in Vereinen offenbar so etwas wie eine “Kultur”, die unabhängig von den jeweils handelnden Personen existiert. Beim HSV gibt es seit Jahren eine “Minderleistungskultur” - schlicht gemessen daran, wie groß die Differenz zwischen dem Platz in der Etat-Rangliste und dem in der Tabelle ist. Was ist “Kultur”? Das sind die unbewussten Prinzipien, nach denen sich alle Mitglieder einer Organisation verhalten. Diese Regeln sind erstens unbewusst und zweitens unabhängig davon, ob man Personen auswechselt oder welche Strategien/Konzepte man ausprobiert. Kultur wird von oben herab geprägt - wenn der Chef einer Baufirma auf der Baustelle keinen Helm trägt, prägt das die Kultur der Firma, wenn der Chef ein dickes Auto fährt und gleichzeitig Gehaltserhöhungen verweigert, ist das auch kulturprägend.

Auch hier will ich mich mit Ferndiagnosen zurückhalten, aber offenbar ist die Führungsmannschaft des HSV sich ihrer kulturprägenden Verantwortung kaum bewusst. Ein Beispiel eines anderen Vereins macht deutlich, wie stark das Verhalten des Top-Managements eines Vereins die Mentalität und damit die Leistung prägt, ist der kürzlich zurückgetretene Aufsichtsratschef von Schalke 04. Seit dieser mit rassistischen Äußerungen und skandalösen Arbeitsbedingungen in seinem Unternehmen aufgefallen ist, läuft in der Mannschaft kaum noch etwas - trotz einer starken Mannschaft und eines nach allgemeiner Einschätzung sehr kompetenten Trainers. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist.

Was ist also zu tun? Leider ist der Ausblick recht pessimistisch. Mit einem in der nächsten Saison deutlich geringeren Etat und damit einer schwächeren Mannschaft kann man nur dann erfolgreich sein, wenn der gesamte Verein von einer Haltung geprägt ist, “wir sind nicht die Reichsten, wir haben nicht die besten Spieler, aber geben alles, um es den besseren Mannschaften zu zeigen”. Und das ist eine Mentalität, die 180° entgegengesetzt zur vorhandenen Mentalität des HSV steht.

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