Marcus Scholz

29. Oktober 2017

Jetzt also. Jetzt geht es los und der HSV findet in alte, ungeliebte Schemata zurück. Soll heißen, in der Tabelle im Abstiegsbereich, den Trainer in der Diskussion und von selbigem wird alles mit der Ansage versehen, dass sich jetzt etwas ändern muss und vieles auch ändern wird. Härter durchgreifen, Veränderungen auf Kaderebene, härtere Einheiten. Logisch, nach acht Spiele in Folge ohne Sieg muss etwas passieren, zumal davon sogar sieben verloren und aus den insgesamt zehn Partien nur sieben Punkte geholt wurden. Selbst die Spiele gegen schwache Gegner wie zuletzt Mainz und gestern Berlin werden nicht nur nicht gewonnen – sie werden sogar verloren. „Weil wir Fehler machen, die man nicht machen darf. So holt man nichts“, wütete Gisdol schon gestern direkt nach dem Spiel über die Tatsache, zwei Standardgegentreffer zugelassen zu haben. Und er legte heute noch mal nach: „Der Gegner hatte keine Mittel, um aus dem Spiel heraus gefährlich zu werden und dann lassen wir solche Standards zu. Wer solche Fehler macht, dem helfen auch alle Werte sonst nichts. Dann machen wir uns jedes Spiel kaputt.“ Stimmt.

 

 

Die Frage ist nur, wie ändert man das bzw. was ändert man zuerst? Direkt den Trainer wechseln, fordern die einen. Den Kader ausmisten und vermehrt auf junge Talente umstellen, sagen die anderen, während sich eigentlich fast alle darin einig sind, dass die großen Fehler bereits im Sommer bei der Kaderzusammenstellung gemacht worden sind. Vom Vorstand bzw. hier natürlich insbesondere vom Sportchef Jens Todt. Der hatte den Kader zuletzt immer als „ganz bewusst so zusammengestellt“ bezeichnet. Das hat ihm zwar eh kaum einer geglaubt, weil alle wissen, dass man hier aus der Not versucht, eine Tugend zu machen. Aber es wird ihm am Ende auf die Füße fallen, da bin ich mir sicher. Soll heißen: Die alten Kontrolleure diskutieren seine Personalie schon, werden sich aber so kurz vor ihrer Abwahl noch zurückhalten. Die dann Ende des Jahres neu gewählten bzw. bestimmten Räte werden allerdings gleich mal ein Zeichen setzen und etwas zum Guten verändern wollen. Und dann könnte es (ergänzt: über den vom AR eingesetzten Vorstand) schnell den  Sportchef treffen. Ihn – und vielleicht auch gleich noch den Trainer. Das hängt natürlich alles an den nächsten Spielen.

Aber vielleicht hilft es ja noch mal, die Fehlerkette nachzuzeichnen, da sie nur allzu offensichtlich ist:

 

  • Sportchef Jens Todt spricht von zwei Innenverteidigern und zwei Linksverteidigern, die auf jeden Fall kommen sollen. Zudem wird einigen Spielern ein Wechsel freigestellt bzw. sogar nahegelegt. Heribert Bruchhagen spricht von sehr intensiven, guten Gesprächen mit Herrn Kühne, der dem HSV Geld für Transfers anbietet.
  • Papadopolos wird aus der Leihe für knapp 7 Millionen Euro zzgl Prämien rausverpflichtet, Andre Hahn kommt für 6,5 Millionen, U21-Nationalkeeper Pollersbeck für knapp vier Millionen Euro. Die sonstigen Verhandlungen stocken bzw. führen nicht zum Erfolg. Nur noch Rick van Drongelen (3 Mio) und Bjarne Thoelke (den man aber gleich mit der Verpflichtung zum Verteidiger Nummer vier abqualifiziert) werden für die Defensive verpflichtet. Das Geld aber ist weg.
  • Alle anderen Spieler (Stafylidis, Roussillon und andere) sind zu teuer bzw. nicht zu bekommen. Auch, weil der Aufsichtsrat weitere Kühne-Zuschüsse gegen Sicherheiten ablehnt. Bilanz: Knapp 20 Millionen Euro ausgegeben, Bobby Woods Ausstiegsklausel wird für eine Gehaltsverdoppelung verlängert 5,5 Millionen eingenommen und weniger Spieler als vorher im Kader. Todt spricht das erste Mal davon, dass das alles ganz bewusst so gemacht wurde, um den jungen Talenten eine Chance offenzuhalten.
  • Alarmierende Testspielniederlagen wie gegen Holstein Kiel werden runtergespielt – zumal der HSV die ersten beiden Spiele glücklich (Augsburg) und verdient (in Köln) gewinnt. Alle sind zufrieden.
  • Nicolai Müller verletzt sich schwer und legt früh das Offensivproblem offen, das ein seit Monaten fortwährend formschwacher Bobby Wood noch verschlimmert. Trainer Gisdol deutet an, dass er schon im Sommer gewarnt hätte, der Kader sei quantitativ zu dünn.
  • Als letzte Reaktion wird der vertragslose Sejad Salihovic nachverpflichtet. Zudem rücken die erfolgreich in der Regionalliga gestarteten Amateure wie Tatsuya Ito, Törles Knöll, Patric Pfeiffer und U17-Nationalspieler Jann Fiete Arp zu den Profis hoch. „Wir dürfen von ihnen nicht zu viel erwarten“, warnt Gisdol hier noch und spricht davon, die Spieler langsam heranführen zu wollen.
  • Allein alles das hilft nichts. Der HSV fährt nach den ersten beiden Spielen nur noch einen Punkt ein bis heute und setzt sich in der Abstiegszone fest. Logische und in Hamburg nur zu gut bekannte Folge: Jens Todts Position wird diskutiert und auch Gisdols Position als Cheftrainer wackelt. Die jungen Spieler werden plötzlich doch als Hoffnungsträger zugelassen - und alle hoffen darauf, dass Kühne im Winter noch mal Geld gibt, damit die Fehler des Sommers ausgebügelt werden können.

Auch Gisdol weiß, das es eng für ihn wird. Trotz der Rückendeckung von Heribert Bruchhagen und Todt. „Wir arbeiten als Trio sehr eng zusammen, da passt kein Blatt zwischen. Aber wir brauchen auch nicht drumrumreden, zum Schluss bin ich als Trainer verantwortlich.“ Dennoch, Stand heute ist klar, dass Gisdol gegen Stuttgart als Trainer auf der Bank sitzen wird. Und er wird das unter Beobachtung machen, denn noch eine Niederlage kann und darf sich dieser HSV bei aller Hilfe aus Köln und Bremen (die sind wirklich keinen Deut besser als der HSV, eher das Gegenteil!!) nicht mehr erlauben.

Auch deshalb verändert sich die Tonlage des ansonsten immer spielerfreundlich argumentierenden Gisdols drastisch. Heute morgen mussten die Spieler um 8.30 Uhr am Volksparkstadion sein, damit sie vor den Besuchen bei den Fanclubs ihre Einheit abhalten und an einer gemeinsamen Besprechung teilnehmen konnten. Einer mit verschärftem Ton. „Es wird natürlich Veränderungen geben“, so Gisdol, „auch im Umgang.“ Ob er sein Vertrauen in die Mannschaft missbraucht sieht? „Gute Frage“, so Gisdol sicht- und hörbar nachdenklich, „aus der Erfahrung kann ich sagen, dass es jetzt eher nicht hilft, den Spielern das Vertrauen zu entziehen. Aber es ist schon so, dass wir es auch mal zurückgezahlt haben wollen.“

Und dafür will Gisdol wider erste Ankündigungen nun doch mehr auf die jungen Talente setzen, wie er heute deutlich machte. Schöner wäre es gewesen, die jungen Spieler wie Ito, Arp und Co. im Schatten der erfahrenen Spieler langsam heranzuführen. Das sei weniger riskant. Aber das funktioniert eben nicht. „Deshalb müssen wir überlegen. Es kann sein, dass wir das Risiko etwas verschieben müssen.“ Soll heißen: Nichts mehr mit langsam heranführen. Wer mehr Schwung bringt, der spielt. Gisdol: „Die Leistung zählt.“ Wobei, das sollte sie eigentlich immer, nicht erst jetzt... Fakt ist auf jeden Fall, dass uns eine spannende Woche bevorsteht. Ich bin gespannt, was Gisdol alles ändern wird, denn „es wird diese Woche einiges passieren“, wie er heute ankündigte.

Wobei Gisdol in einer Zwickmühle steckt. Haut er drauf, nimmt er den eh schon angeschlagenen Spielern das letzte Fünkchen Selbstvertrauen. Bobby Wood ist da vielleicht das beste Beispiel. Den US-Amerikaner hat Gisdol zuletzt immer wieder demonstrativ in Watte gepackt und ihn protegiert. Weil er für ganz vorn niemanden hat – abgesehen von den Youngstern, die er ja lieber langsam und im Schatten der Erfahrenen herangeführt hätte. Dabei bin ich mir sicher, dass Gisdol Dinge über Wood gesagt hat, die er selbst nicht geglaubt hat. Um ihm irgendwie zu helfen. Bis heute. Heute nun sagte er: „Bobby hat sich in eine negative Spirale begeben. Er hat das Potential, ein guter Stürmer zu sein, ist aber nicht in Form.“ So viel zum ehrlichen Teil, bevor der zweckmäßige folgte: „Bobby hängt sich aber trotzdem voll rein“, sagt Gisdol - was nicht stimmt. Zumindest nicht im Training – und gestern in Berlin auch nicht. Dennoch, und das ist die Crux: „Wir werden ihn noch brauchen.“ DAS wiederum stimmt. Denn im Sommer wurde so schlimmschlecht ein- bzw. verkauft (Michael Gregoritsch), dass der HSV gar keine Wahl hat, als Wood wieder in Form zu bringen.

Nein, es muss tatsächlich etwas wesentliches passieren. Und ich befürchte bei der Anzahl der Ansatzmöglichkeiten hierfür wird wieder das populistischste dem wirkungsvollsten vorgezogen, soll heißen: Der Trainer wird gehen müssen, wenn gegen Stuttgart verloren wird. Dabei ist der Bauherr des Niederganges sicher eher der Sportchef, der vom aktuellen Aufsichtsrat berufen wurde. Klar, Gisdol hätte sich im Sommer mehr wehren und lauter auf die Mängel hinweisen müssen, wenn er sie denn tatsächlich schon gesehen hat. Aber abgesehen davon: Wenn Todt wirklich ernst meint, was er sagt - also, dass dieser Kader bewusst so zusammengestellt wurde und man damit zufrieden ist -, dann muss er schnellstmöglich abgelöst werden. Alles andere wäre von den Kontrollräten (egal ob die alten oder schon die neuen) samt Vorstandsboss fahrlässig. Denn dieser HSV braucht im Winter jemanden mit dem Überblick, wie man diesen Kader an seinen vielen Schwachstellen erfolgreich nachjustieren kann.

Alles andere ist nur Schönrederei und wird den Absturz nicht verhindern, sondern beschleunigen.

In diesem Sinne, bis morgen. Da ist übrigens trainingsfrei. Also: Erste Chance vertan, leider... Denn auch wenn es physiologisch sicher nicht unvernünftig ist, psychologisch wäre ein gestrichener freier Tag sicher die konsequentere Maßnahme gewesen, Herr Gisdol...!

 

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