Marcus Scholz

24. April 2020

 

Die Zeit eignet sich bestens dafür, in Fettnäpfchen zu treten. Corona hat die Menschen derart sensibilisiert, in Angst versetzt und leider in einigen Teilen auch in existenzielle Nöte gebracht, dass die Unsicherheit auch bei den ansonsten souveränen Menschen unter uns greifbar ist. Wie verhalte ich mich den anderen gegenüber, wenn ich sie auf der Straße treffe? Wie verhalte ich mich, wenn mir mal einer zu nah auf die Pelle rückt? Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber grundsätzlich empfinde ich den Umgang der Menschen in Deutschland noch immer als sehr diszipliniert und respektvoll. Anstehen vor Supermärkten ohne zu Meckern, Nachbarn, die sich gegenseitig im Bewältigen des Alltages helfen - die Maßgaben der Regierung werden befolgt. Und auch den Auftritt von DFL-Boss Seifert gestern empfand ich als sehr angemessen. Ganz im Gegensatz zu den Klubs, die im Anschluss an diese Pressekonferenz, die vielen Vereinen neue Hoffnung aufs Überleben gegeben hatte, nichts Besseres zu tun haben, als sich über vermeintlich entstehende Nachteile zu beschweren.

„Wenn du die über 80.000 Fans, alleine die fast 25.000 auf der Südtribüne, auf einmal nicht mehr in deinem Rücken hast, ist das sicherlich kein Vorteil“, sagte der Leiter der Lizenzspielerabteilung beim BVB, Sebastian Kehl. Klingt an sich nicht schlimm. Und einige denken jetzt sicher darüber nach, ob er Recht hat oder nicht. Aber ganz ehrlich: Steht es einem einzigen Bundesliga-Beteiligten wirklich zu, sich im Rahmen der überbordenden Ausnahmegenehmigungen, die an sich schon moralisch schwer genug zu vertreten sind, auch noch zu beschweren? Ich sage ganz klar: Nein! Ich halte es da mit Jonas Boldt. Der HSV-Sportvorstand hatte sich in den letzten Wochen öffentlich in der Angelegenheit stets zurückgehalten, aber immer betont, dass es nicht die Umstände seien, Wünsche zu haben. Man müsse vielmehr froh darüber sein, wenn es überhaupt weitergehen kann. Und so und nicht anders ist es!

Liga übt sich in Demut - um zu retten, was zu retten ist

„Es ist die einzige Möglichkeit, die Bundesliga am Leben zu erhalten. Ich bitte alle um Nachsicht und Unterstützung“, hatte Seifert gestern betont und in der Diskussion über die Fortsetzung um Augenmaß gebeten. Etwas, was der DFL und dem DFB in den letzten Jahren zweifellos abhanden gekommen ist. Zu wichtig war die Kommerzialisierung. An Nachhaltigkeit in den wirtschaftlichen Planungen wurde nicht nur nicht gedacht. Ehrlich gesagt wussten alle, dass das Konstrukt Profifußball mit den TV-Einnahmen steht und fällt. Es wurde eine Abhängigkeit zugelassen, die fahrlässig ist. Das Einzige, was niemand wusste, war, dass eine Pandemie hier dafür sorgen würde, dass dem schwerkranken Konstrukt Fußball mit einem Brennglas die peinliche Fülle von inhaltlichen Schwächen aufgezeigt würden. Wenn in dieser Angelegenheit einer wirklich froh darüber sein sollte, nicht öffentlich angeklagt zu werden, dann ist es der Profifußball in seiner aktuellen Struktur.

Auch deshalb äußern sich Seifert und Co. seit Wochen demütig. Sie sind auffällig nah an die Politik gerückt und lassen keine Gelegenheit aus, zu betonen, wie solidarisch sie sich mit allen Entscheidungen der Politik und dem Rest der Bundesrepublik zeigen wollten. Oder sollte ich sage: zeigen müssen? Denn Fakt ist, dass es in den Händen der Politik liegt, ob die Bundesligen ihren Betrieb wieder aufnehmen können oder nicht. Dafür hat die DFL ein Sicherheitskonzept entwickeln lassen. Die von DFB-Chefmediziner Tim Meyer geleitete Taskforce erarbeitete klare Vorgaben für Hygienemaßnahmen in allen Bewegungsbereichen der Bundesliga-Akteure (das ganze Manuskript hier!).

 

Die Spieler werden sehr regelmäßig auf das Coronavirus getestet, mindestens einmal pro Woche. Rund 20.000 Tests seien dafür vonnöten, wird vermutet. Dafür wurden Kooperationen mit insgesamt fünf Laborverbänden abgeschlossen. Der Kritik, anderen, bedürftigeren dadurch Testkapazitäten so vorzuenthalten, widersprach Seifert. Der Profi-Fußball würde die Testkapazitäten derzeit nicht signifikant belasten. Sollte sich das aber ändern, würde man selbstverständlich zurücktreten und wenn es nötig ist, nicht mehr testen. Seifert nach der Vollversammlung der 36 Profiklubs: „Alle Labore haben uns schriftlich versichert, dass die derzeitigen Kapazitäten ausreichend sind und durch Covid-19 keine Limitierung der Testkapazitäten auftreten.“

Erster Zweitligaklub steht vor der Insolvenz

Der Fußball muss sich erklären. Und er macht es in Person Seiferts tatsächlich auch sehr geschickt - was wiederum dringend nötig ist. Denn während (nicht nur) ganz Deutschland unter erheblichen Einschränkungen leben muss, weil man nur so die Pandemie zu stoppen glaubt, sollen sich auf dem Fußballfeld ausgewählte Profis schweißnass umgrätschen, jubelnd in den Armen liegen und alle ansonsten bundesweit geltenden Hygienevorschriften missachten dürfen. Schwer nachzuvollziehen - aber letztlich auch ein extrem komplexes Thema, das wie so vieles in der Coronakrise keinen Sieger finden wird. Dennoch glaube ich fest daran,  dass es hierbei sehr viele Teilerfolge geben kann. Ich bin hier bei dem HSV-Fanbeauftragten Cornelius Göbel, der es gestern auf den Punkt brachte und forderte, dass Diskussionen, die zu lange schon totgeschwiegen werden, endlich geführt werden müssen.

Der „Fußball in Erklärungsnot“ habe ich gestern getitelt. Und so sehe ich es auch heute. Womit ich weniger den Kampf der Liga um die Saisonfortsetzung meine. Die ist seitens der DFL als gefühlter Anwalt der Klubs  sogar deren Pflicht. Ebenso wie die Klubs ihrerseits die Existenzen ihrer Mitarbeiter sichern müssen. Wie wichtig eine Wiederaufnahme der Saison wirtschaftlich ist, muss man nicht mehr erläutern. Gerade heute, wo der hoch verschuldete Fußball-Zweitligist Karlsruher SC ankündigte, seine Mitglieder über die geplante Insolvenz in Eigenverwaltung abstimmen zu lassen. Noch in dieser Woche werden die KSC-Mitglieder zu einer außerordentlichen (und ob der Corona-Pandemie virtuell ausgetragene) Versammlung am 15. Mai eingeladen, um darüber zu befinden, ob der KSC eine Insolvenz anmeldet. Damit ist der KSC einer von vielen bedrohten Klubs.

Der KSC ist in meinen Augen aber lediglich der Vorreiter auf der Welle, auf der sich bis auf ganz wenige Ausnahmen eigentlich fast alle Bundesligaklubs für ihr wirtschaftliches Fehlverhalten der letzten Jahre erklären müssten. Die DFL explizit mit inbegriffen.

Finde ich es gut, wenn die Saison fortgesetzt wird? Ja. Aus Gründen.

Darf der Fußball so weitermachen? Nein!

Wird er so weitermachen: Leider ja.

So kann man die aktuelle Situation in aller Kürze aus meiner Sicht zusammenfassen. Der Fußball rettet sich in einer Notoperation auf die Intensivstation - und er muss weiter intensiv behandelt werden, um wieder auf die Beine zu kommen. Problem hierbei: Wenn sich der Fußball hier in Deutschland dem globalen Wettrüsten mit Mondverträgen und TV-Milliarden entzieht, wird sich diese kranke Kommerzialisierung lediglich an andere Orte bzw. Länder verschieben. Dann haben wir wahrscheinlich irgendwann nur noch in den finanzstärksten Ländern Weltklassefußball und obendrein Klubs, die Oligarchen oder Firmen gehören. Soll heißen: Es gibt noch keinen alternativ gangbaren Weg, ohne unvorhersehbare Kollateralschäden. Von daher ist und bleibt diese Diskussion auf Basis von Ethik und Moral und unter Ausblendung der realistischen Umstände nichts anderes als unsachlich. Erst, wenn die Fifa den Fußball weltweit einer kompletten Neuaufstellung unterzieht, kann es das werden, was sich die Fußballromantiker unter uns erhoffen: Gesund.

Geht es so weiter, kollabiert der Fußball von allein

Ich bin mir sicher, dass der Fußball wie alle anderen Wirtschaftsblasen irgendwann in sich kollabieren wird. Es wird dazu führen, dass die Schwachen wegsterben und sich die Konkurrenz für die großen, starken Klubs ausdünnt. Es monopolisiert einfach nur Kraft. Immer dahin, wi die Kohle ist. Viele Klubs, die heute noch gar nicht damit rechnen, werden dann plötzlich wieder auf der kleinen Kunstrasenplätzen in den unteren Ligen spielen müssen, wenn überhaupt. Von daher: Lasst uns alles unternehmen, um heute zu retten, was zu retten ist: Ligen, Klubs, Arbeitsplätze. Aber lasst uns nie vergessen, dass wir heute am Abgrund gestanden haben und froh sein, dass es wahrscheinlich nur ein heftiger Warnschuss war.

 

Ich zitiere ja immer wieder gern Menschen, die ich für besonders schlau empfinde oder empfunden habe. In diesem Fall ist es mein Geschichtslehrer Herr Pischke. Der hat uns in seinem Unterricht wirklich alle Fehler zugestanden. Aber alle nur einmal. „Einmal ist kein Mal, zweimal ist immer“ hat er uns gesagt. Und ich behaupte, das gilt für den Fußball in diesem Fall auch…

In diesem Sinne, Euch allen ein schönes Wochenende, habt einen schönen Abend, und vor allem: bleibt gesund!

Scholle

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