Marcus Scholz

6. September 2020

Ok, das jetzt ist wieder einer dieser Momente, in denen man viel falsch machen kann. Es ist das Ende der Vorbereitung und der HSV hat in einem Test gegen einen guten Gegner ein wirklich gutes Spiel gemacht. Er hat sogar gewonnen. Hinten zu null – vorne gleich zweimal erfolgreich. Mit einem Aaron Hunt als Leader auf dem Platz, wie ich ihn in der abgelaufenen Saison nur ein- oder zweimal gesehen habe. Mit einem Sonny Kittel, der Ballverlusten nachjagte, Zweikämpfe annahm und nach vorn kreativ wirkte. Lukas Hinterseer, dem seine HSV-Zeit in den letzten Wochen in Hamburg nicht wirklich leichtgemacht wurde, traf und Debütant Tomi Leistner machte trotz einiger natürlicher Abstimmungsprobleme einen guten Eindruck. Und dann scheint heute auch noch die Sonne – also alles gut? Mitnichten. Aber es ist ein Weg, der richtig gut werden kann…!

Denn das, was ich gestern auf dem Platz gesehen habe, ist genau das, was Trainer Daniel Thioune vor ein paar Wochen bei seinem Amtsantritt angekündigt hatte. Da sprach der HSV-Coach vom „Spiel gegen den Ball“, das man erst einmal wieder in die Köpfe der Spieler bekommen müsse. Er sprach davon, defensiv stabil stehen zu müssen und erst einmal die Basis in den Vordergrund der Trainingsarbeit stellen zu müssen. Zudem wolle man taktisch variabler werden, sich taktisch immer auch am jeweiligen Gegner ausrichten können. Und alles das war in den zwei Testspielen gegen Feyenoord und jetzt Hertha BSC zu sehen. Wobei hier die Betonung eben auch auf „Test“-Spielen liegen muss. Denn auch die Gegner haben getestet, also eben nicht so gespielt, wie sie unter normalen Wettkampfbedingungen auftreten müssen. Hertha beispielsweise fehlten gestern zehn Nationalspieler...

Thioune setzt Vorstellungen konsequent um

Von daher versuchen wir es in aller Vorsicht, heute zu beschreiben, was mir gestern schon sehr gut gefallen hat. Aber ich werde dabei nicht aus Prinzip den Ball flach halten. Vielmehr weiß ich, dass alles das, was man in Testspielen erarbeitet, letztlich auch auf dem Platz im Ligawettbewerb umgesetzt werden kann. Anders – aber es geht. Aber okay, bleiben wir bei den oben genannten Beispielen: Aaron Hunt zum Beispiel ist der beim HSV in den letzten Jahren wahrscheinlich am meisten diskutierte Spieler. Und das nicht nur, weil er immer scheiße spielt, sondern vor allem auch, weil er wichtig ist. Kurioserweise für bislang alle Trainer. Denn in den letzten Jahren setzten alle immer wieder auf den heute 34-Jährigen. Und mit Spielen wie beispielsweise gestern demonstriert Hunt auch, warum. Das Problem hierbei ist und bleibt: Konstanz. Denn die fehlt Hunt. Altersbedingt, sagen die einen. Ich persönlich glaube tatsächlich, dass es eine Mischung aus Physis und Psyche ist. Und ganz offenbar hat Thioune seinen Ältesten noch einmal gereizt.

Zumindest hat der neue Trainer allen Spielern deutlich gemacht, dass er es ernst meint, wenn er sagt, dass die Einstellung zum Team die oberste Prämisse sei. Wer nicht fleißig ist, hat keine Chance. Siehe Ewerton. Wer sich dem Team nicht unterordnet, hat keine Chance – siehe Pollersbeck? Oder ist es bei dem Keeper doch eher etwas anderes? Nach dem Test gegen Hertha sprach Thioune von einem sehr langen, sehr guten Gespräch mit dem Torhüter am Vortag des letzten Tests. Und in diesem Gespräch habe er eine gewisse Müdigkeit beim Keeper ausgemacht.

Gestern nach dem Test führte der HSV-Coach dieses Thema noch ein wenig aus: „Ich habe mich nicht für zwei andere, sondern gegen einen entschieden. Die anderen sind einfach einen Schritt weiter als er. Julian hatte eine ordentliche Vorbereitung, aber ich habe bei ihm eine gewisse Müdigkeit im Kopf festgestellt. Er hat ein paar Sorgen mit sich herumgeschleppt, es ist aber wichtig, dass wir alle mit unseren Gedanken im Hier und Jetzt sind. Und er hat einfach im Training nicht so abliefern können.“ Thioune sagte auch, was er sich von seiner neuen Nummer eins erhoffe: „Ich hätte mir mehr Lautstärke gewünscht von hinten heraus und ich brauche einen Keeper, der bei 100 Prozent ist. Das ist den anderen beiden ein bisschen besser gelungen. Beide haben sich nun noch einmal gebattelt. Und das Ergebnis spricht für sich, beide haben die Null gehalten.“

 

Wer die neue Nummer eins sein wird, ist also weiter offen. Aktuell reduziert sich der Kampf auf das Duell Heuer Fernandes vs. Tom Mickel. Sollte Pollersbeck allerdings noch gehen und der HSV bei der Suche nach einer klaren Nummer eins extern fündig werden, scheint nicht einmal das mehr ausgeschlossen. Ob bei Pollersbeck noch einmal Bewegung reinkommen könne? Sportdirektor Michael Mutzel will nichts ausschließen: „Die Entscheidung hat der Trainer getroffen. Da gibt es keine Diskussion – der Trainer trifft die sportlichen Entscheidungen. Da stehen wir natürlich dahinter“, sagt Mutzel. „Ob da jetzt Bewegung reinkommt oder nicht, werden wir sehen. Das Transferfenster hat bis zum 5. Oktober offen und wir schauen, was bis dahin noch passiert.“

Pollersbeck selbst postete gestern ein Foto, auf dem er in HSV-Klamotte lachend beim Training steht. Ich habe daraufhin die Frage gestellt, was er uns damit sagen wolle – so unmittelbar nach seiner Degradierung. Eine Antwort habe ich nicht erwartet – es sei denn von Pollersbeck selbst. Aber der schweigt. Zurecht. Denn er ist im Kader neben Ewerton der einzige, der nicht als Gewinner bezeichnet werden kann. Seine Situation hat sich sogar noch einmal verschlechtert. Wobei das auch für den HSV gilt, sofern man den Keeper noch verkaufen will.

Pollersbeck: Thioune spricht von Müdigkeit

Zur Erinnerung: Ich hatte vergangene Woche schon geschrieben, dass der HSV sich in einer Zwickmühle befinden würde. Zum einen will man die Torwartfrage klar beantworten – zum anderen wussten und wissen alle, dass ausschließlich Pollersbeck einen Markt haben könnte. Dass dieser dem HSV gerade noch einen Bruchteil der einst gezahlten rund drei Millionen Euro bringen würde war da schon klar. Und jetzt dürfte sich diese Summe noch einmal reduziert haben, da alle wissen, dass Pollersbeck beim HSV aussortiert ist. Die Frage, die man aber hier zuallererst beantworten muss, bevor man urteilt, ist: Inwieweit wollte Pollersbeck nach dem Hin und Her der letzten Wochen und Monate überhaupt noch.

Einer von den Jungen, der so richtig will, ist Stephan Ambrosius. Robust, kopfballstark, schnörkel- und kompromisslos hat er sich als erste Alternative für den zweiten Innenverteidigerposten neben dem so genannten Säulenspieler zu empfehlen gewusst. Während Jonas David unter den jungen Defensivtalenten die spielerische Lösung darstellt, ist er der Typ Abräumer. Früher hießen Spielertypen wie er noch „Vorstopper“ und bekamen immer wieder den Satz mit auf den Weg: „Nimm deinem Gegenspieler den Ball weg und gib ihn gleich an einen Fußballer von uns weiter.“ Ambrosius zeigte zudem, dass er offensiv mit seiner Kopfballstärke für Gefahr sorgen kann.

 

Ebenso präsent war gestern auch wieder Manuel Wintzheimer. Der zuletzt an den VfL Bochum verliehene Angreifer ist unorthodox in seiner Spielweise. Er denkt nicht zu viel nach – er macht einfach. Immer und immer wieder. Der 21-Jährige ist extrem lauffreudig, fleißig – eben so, wie es sich ein Trainer von einem Talent erhofft. Auch deshalb lobte Thioune ihn gestern: „Manuel hat ordentliche Leistungen gezeigt. Er hat sehr viel Potenzial nach oben. Wir haben einige Spieler, die zurück sind und denen die leihen gutgetan haben. Manuel ist sicherlich jemand, der einem Trainer mehr Optionen gibt. Er war sehr flexibel in unseren Ordnungen, er nimmt an, er adaptiert sehr schnell. Da ist noch deutlich Luft nach oben. Aber klar ist: Wenn man eine Erwartungshaltung an ihn hatte, dann hat er sie übertroffen. Für uns schön zu sehen, dass er weiter wächst. Er ist sicherlich jemand, der berechtigt den Finger hebt, wenn es um die ersten elf Plätze geht.“

Gewinner der Vorbereitung? Das Trainerteam!

Ich wurde in den letzten Tagen immer wieder gefragt, wer der Gewinner der Vorbereitung ist. Wintzheimer? Oder Ambrosius? Onana vielleicht? Meine Antwort war bislang immer: „Kann ich nicht sagen.“ Und das mit leichter Tendenz zu Wintzheimer. Seit den letzten beiden Testspielen aber muss ich sagen, dass die bislang größte Verstärkung der Trainer und sein Team sind. Zu sehen, wie der HSV gestern variabel und stabil verschiedene Systeme umsetzte und gegen Hertha BSC defensiv ebenso bestand, wie man offensiv effektiv war – das macht mir Hoffnung, dass es tatsächlich dieses Jahr so wird, wie ich es seit Jahren erhoffe.

Es nährt auf jeden Fall meine Hoffnung, dass Thioune der Entwickler ist, den der HSV seit vielen Jahren nicht mehr hatte. Vielleicht ist Thioune endlich derjenige, der beim HSV den Reset-Knopf drückt und alles neu aufbaut.

Ansätze dafür gab es in den letzten beiden Testspielen zu sehen – und sie sind bei Thiounes Ausführungen zu hören. Denn dabei bleibt Thioune bewusst defensiv. „Das Spiel mit dem Ball ergab zwar wenige Chancen“, aber daraus habe man sehr viel Kapital geschlagen. Zudem habe das eigene Spiel „den Eindruck vermittelt, dass wir wirklich eklig sein können. So, wie wir es nächste Woche in Dresden erwarten müssen. Wir müssen schon sagen, dass wir noch Raum haben, uns zu verbessern“, sagte Thioune, , der aller Voraussicht nach auf Bakery Jatta gegen Dresden verzichten muss. Der Gambier zog sich gestern gegen Hertha eine Muskelverletzung zu.

 

Und klar, verbessern muss man sich immer. Zumal die Spiele keinen direkten Aufschluss auf  die bevorstehenden Partien im Pokal bei Drittligist Dresden und noch weniger auf die Partien in der Zweiten Liga geben würden: „Wir haben uns bislang mit keinem Zweitligisten gemessen und da werden wir auf unterschiedliche Herausforderungen treffen. Auch auf Mannschaften, wo wir sehr viel Ballbesitz haben. Und es hat gezeigt, dass wir am Anfang etwas Probleme mit dem Spielgerät hatten“, so Thioune.

Thioune warnt: Zweitligaspiele werden anders

Soll heißen: Das Kombinationsspiel, um tief stehende Mannschaften auszuhebeln, ist noch nicht so, wie es sich Thioune vorstellt. Und noch nicht so, wie es nötig sein wird. „Es war noch ein bisschen zu unsauber, aber daran arbeiten wir. Das wird ein längerer Prozess, ist noch nicht final. Aber wir entwickeln uns. Wir müssen uns in allen Bereichen noch steigern.“ Und das stimmt. Ganz sicher. Es gilt eigentlich immer und für alle. Aber das Gute diesmal: der Trainer scheint den richtigen Weg zu kennen.

In diesem Sinne, bis morgen!

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