Marcus Scholz

20. Juli 2020

Als der HSV vor Beginn der abgelaufenen Saison Sonny Kittel als Zugang präsentierte, war ich ähnlich begeistert, wie ich es dieses Jahr über eine Verpflichtung von Heidenheims defensiven Mittelfeldspieler Niklas Dorsch gewesen wäre. Ich hatte die Hoffnung, dass sich der HSV tatsächlich auf der Position des zentralen Mittelfeldspielers offensiv neu aufstellt – und das mit einem herausragend veranlagten Fußballer wie dem jungen Kicker, der aus Ingolstadt zum HSV wechselte. Dass es am Ende anders kam wissen wir. Aner Daniel Thioune deutete schon an, dass er Kittel woanders als außen einplane. Die die Gefahr, dass es dennoch auch in der bevorstehenden Saison so kommt, besteht. Klar. Aber es gibt sie eben schon – die anderslautende Ansage von Neu-Trainer Daniel Thioune.

Der  hatte uns im ersten Gespräch schon mitgeteilt, dass er Kittel nicht zwingend auf der Außenbahn sondern sehr wohl als Kreativspieler sieht, dessen Qualitäten mit einer Portion Freiheiten zentral am besten ausgespielt werden können. Thioune hatte uns auch gesagt, dass der HSV in der abgelaufenen Saison vor allem auf der Sechs eine Schwäche hatte, die die Gegner – auch er mit dem VfL Osnabrück – zu nutzen wussten: Es fehlte der Abräumer. Zudem war es zu einfach, dem zu Saisonbeginn noch unterschätzt groß aufziehenden Adrian Fein mit Manndeckung kaltzustellen. Womit wir zur Analyse des Mittelfeldes kommen.

Ohne Dudziak war das Mittelfeld aufgeschmissen

Mit David Kinsombi und Kittel hatte der HSV zwei Top-Zweitligaspieler verpflichtet, die die Wahrscheinlichkeit aufzusteigen erhöhen sollten. Bei Kittel funktionierte es in Teilen – allerdings auf einer anderen Position als zunächst vorgesehen. Kinsombi indes verletzte sich gleich zu Beginn der Vorbereitung und fand bis zum Saisonende nie zu der Form, die ihn zu Kieler Zeiten für den HSV so interessant gemacht hatte. Ergebnis: das Mittelfeldzentrum blieb in zu vielen Spielen un(ter)besetzt. Hätte der HSV mit Jeremy Dudziak nicht einen absoluten Glücksgriff gehabt, wir würden heute das Mittelfeld vielleicht als die größte Baustelle der Saison bezeichnen.

So aber hatte der HSV das nötige Tempo im Umschalten, das letztlich einer der Schlüssel zum Erfolg war, den man bis kurz vor Saisonende noch vor Augen hatte. Dudziak auf der Acht sowie Kittel auf der Außenbahn vor dem gefährlichsten Vorlagengeber Tim Leibold links hinten – das war die Achse, die dem HSV die meisten Tore brachte. Aber ebenso wenig wie uns allen hier  blieb das den Gegnern nicht verborgen – es machte den HSV sogar leichter ausrechenbar.  Kittel schaffte in den ersten  20 Spielen 11 Tore und drei Torvorlagen – im Anschluss daran waren es noch vier Assists und kein Tor mehr. Bei Leibold war es ähnlich. Er schaffte bis zum 20. Spieltag 11 Assists und einen Treffer – in den letzten 14 Partien waren es nur noch 5 Torvorlagen.

 

Ich habe gestern die Abwehr als die mit Abstand größte Baustelle beim HSV beschrieben – personell zumindest. Und das sehe ich auch immer noch so. Bei der Gesamtanalyse aber muss zwingend mit einberechnet werden, dass der HSV offensiv ab dem 20. Spieltag massiv an Zug verlor. Aaron Hunt sprach heute von der Phase nach der Coronapause, die den Aufstieg gekostet habe. Allerdings hatte diese Phase schon vor der Coronapause begonnen. Die Mannschaft von Trainer Dieter Hecking war schlichtweg nicht mehr in der Lage, die Gegner so wie zuvor unter Druck zu setzen. Und wie heißt es im Fußball so schön: Was Du nicht nach vorne schaffst, bekommst Du hinten.

Das Mittelfeld war zu leicht ausrechenbar

43 erzielten Treffern folgten ab dem 21. Spieltag nur noch 19 eigene Tore. Dafür bekam man immer mehr Gegenangriffe und folglich 25 Gegentreffer in den letzten 14 Partien – womit der Aufstieg verspielt wurde. Anstatt den Punkteschnitt beizubehalten und mit 63 Punkten sicher Zweiter zu werden, sorgte ein Punkteschnitt von 1,21 Punkte pro Spiel aus den letzten 14 Partien für den Absturz auf den vierten Rang. Weil das Mittelfeld offensiv (auch durch den längeren Ausfall Dudziaks) nicht mehr effektiv genug war – und defensiv durchs Zentrum zu anfällig. „Der Sechser ist in meinem Spiel so etwas wie der Quarterback fürs Team“, sagte uns Daniel Thioune und umschrieb damit den Vorwurf an seinen Vorgänger, diese Position zu lange unterbesetzt gehalten zu haben.

Auch deshalb war der erste Neue unter Thioune mit Klaus Gjasula ein erfahrener, hart spielender Sechser. Spielerische Qualität alleine – wie bei Fein - würde in der Zweiten Liga nicht ausreichen. Davon überzeugte Thioune seine Vorgesetzten Michael Mutzel (Sportdirektor) und Jonas Boldt (Sportvorstand). Mit Gjasula will Thioune das größte  Problem im Mittelfeld lösen und einen Antreiber sowie Abräumer in einer Person auf dem Platz haben. Offensiv indes soll dafür  Kittel wieder herhalten. Denn der soll im Zentrum eingesetzt werden. Sagt Thioune. Ob das letztlich mit oder für Aaron Hunt passiert, das ließ Thioune offen.

 

Ebenfalls offen ist das System, mit dem der neue HSV-Trainer spielen lassen wird. Denn das variiert. Cotrainer Merlin Polzin ist hierbei zusammen mit den Analysten des HSV derjenige, der die Gegner analysiert und dann mit Thioune zusammen ein passendes taktisches Korsett erstellt. Dabei wird variiert. Zumindest ist Thioune der Trainer, der in der abgelaufenen Saison mit am meisten System hat spielen und wechseln lassen. Er selbst nennt es „flexibel sein“ – und dafür brauchte er den zerstörenden Sechser. Den hat er mit Gjasula gefunden. Sollte Thioune mit zwei Sechsern spielen wollen, könnte Hunt den gestalterischen Sechser neben Gjasula geben. Oder auch David Kinsombi. Duzdziak und Kittel gäben in diesem Fall dann den Kreativ-Part.

Fakt ist, dass der HSV im Mittelfeld im letzten Saisondrittel arge Probleme hatte – offensiv wie defensiv. Auf Letzteres hat man mit Gjasula reagiert. Zudem kommt mit dem ebenfalls 1,92 Meter langen Amadou Onana ein direkter Erbe Gjasulas aus der U19 von der TSG Hoffenheim. Und der belgische U19-Nationalspieler verfügt tatsächlich über fußballerische Qualitäten ebenso wie über die notwendige Härte in den Zweikämpfen. Er geht quasi in die Ausbildung bei Gjasula, bis er diesen beerbt - oder ihn eben vorher schon sportlich überholt.

HSV braucht weniger Allrounder - mehr Spezialisten

Ginge es nach mir, würde ich Gideon Jung entweder für die Innenverteidigung einplanen oder abzugeben versuchen. Ich hoffe ehrlich gesagt auch darauf, was Thioune im ersten Gespräch gesagt hatte: Er will Spezialisten für die Positionen. Genau das, was ich hier übrigens schon seit Jahren sage bzw. schreibe: Zu viele Allrounder sind nicht leistungsfördernd. Dann hat man überall von allem etwas – aber nirgendwo von einem Attribut alles. Allrounder bedeuten nahezu immer auch, Abstriche machen zu müssen. Und das ist einfach nicht gut. Auch bei Aaron Hunt kann man dieses Argument ansetzen – aber ich gehe eh davon aus, dass der erfahrenste HSV-Profi in dieser Saison die Rolle einnimmt, die ich ihm schon in der abgelaufenen zugeschrieben hätte: Er sollte als Backup fungieren für den Fall, dass die Youngster auf dem Platz Hilfe brauchen. Ein sehr gut bezahlter Ausbilder auf dem Platz sozusagen...

Dennoch, mal aus der Not heraus Spieler positionell zu verschieben ist dann doch noch mal was anderes, als einen Spieler von vornherein auf zwei, drei oder mehr Positionen einzuplanen. Diese „Kompromissspieler“ schaden am Ende mehr, als sie helfen. Siehe Jung. Ich behaupte sogar, dass es ihm selbst helfen und ihn stärker machen würde, wenn er wüsste, um welche eine Position er konkurriert.

 

 

 

Und wenn ich schon bei den Innenverteidigern bin, an dieser Stelle noch eine gute Nachricht: Bei Ewerton war ein gutartiger Tumor im Oberschenkel diagnostiziert worden. Der Tumor sei bei einer anderweitigen Untersuchung entdeckt worden und die Ärzte hätten empfohlen, ihn operativ zu entfernen, teilte der HSV heute mit. Vielleicht war ja dieser Tumor letztlich  der Grund für die ständigen Verletzungen des 31-Jährigen. Es wäre ihm zu wünschen. Der Brasilianer hat nun ein zweiwöchiges Belastungsverbot und darf danach wieder langsam ins Training einsteigen. Und ich wollte es nicht versäumen, ihm von dieser Stelle aus noch einmal gute Besserung zu wünschen:

Fique bem logo, Ewerton!

Und falls in meiner Mittelfeld-Analyse irgendjemand  Bakery Jatta, Martin Harnik und Xavier Amaechi vermisst haben sollte – die alle sind morgen Bestandteil der Offensive. Bis dahin Euch allen alles Gute, ich bin ab 7.30 Uhr wieder mit dem MorningCall bei Euch!

Scholle

 

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