Dr. Olaf Ringelband

15. August 2020

Scholle hat kürzlich einen sehr interessanten Beitrag über die Jugendleistungszentren (JLZ) geschrieben. Die Konzeption der JLZ finde ich hochinteressant, da sie sehr gut in meine Idee des „Moneyball“-Ansatzes passt, den ich in meinem letzten Gastbeitrag beschrieben habe. Ich habe mich kürzlich mit einem Freund und Kollegen unterhalten, der hauptamtlich als Psychologe die Jugendmannschaften eines Bundesligavereins betreut – dem Gespräch mit ihm verdanke ich einige Einsichten in das System der JLZ.

Nach dem enttäuschenden Aus der Nationalmannschaft bei der EURO 2000 wurde unter der Federführung des damaligen DFB-Präsidenten Meyer-Vorfelder ein Konzept zur Nachwuchsförderung (dem Vorbild Frankreichs folgend) entwickelt, nach dem alle Bundesligavereine ein Leistungszentrum zur Förderung des Nachwuchses einrichten mussten. Die Leistungszentren waren einerseits sehr erfolgreich (ohne diese wäre der WM-Gewinn 2014 vermutlich kaum möglich gewesen), andererseits weist das Konzept – trotz regelmäßiger Überprüfung (alle drei Jahre werden die JLZ auditiert) gewisse Mängel auf. Der auffälligste Befund ist, dass nur relativ wenige Spieler aus den JLZ den Schritt in den Profikader ihres Vereins schaffen. Zwar gibt es immer wieder Beispiele für erfolgreiche Jugendarbeit (Bayern, Stuttgart), aber beispielsweise ein Verein wie RB Leipzig, der ein sehr aufwändiges Scouting betreibt und viel Geld in die Ausbildung der Jugendspieler investiert, hat es bisher nicht geschafft, einen Spieler aus dem JLZ zum Profi zu machen.

Warum eigene Jugendspieler es schwer haben

Der Grund für die geringe Erfolgsquote der Nachwuchsspieler ist, dass andere Länder heute den Bundesligen im Punkt Nachwuchsarbeit voraus sind. In Frankreich und England gibt es viele Vereine, die an das sogenannte „Internat“ eine eigene Schule angeschlossen haben, in der die Jugendlichen diverse Schulabschlüsse ablegen können. Dadurch werden die fußballerische und die schulische Ausbildung eng verzahnt und unter dem Strich haben die Spieler beim Schritt in den Profifußball ungefähr viermal so viel Training und Taktikschulung absolviert wie die Jugendspieler eines deutschen JLZ. Die sogenannten „Fußballinternate“ der Bundesligavereine sind nämlich in Wahrheit keine echten Internate, sondern Wohnheime. Die Spieler besuchen tagsüber unterschiedliche Schulen, deren Anforderungen sich meist mehr schlecht als recht mit der fußballerischen Ausbildung vereinbaren lassen.

Für einen Bundesligaverein stellt sich deshalb die Frage, ob man einen Spieler mit Potenzial aus den eigenen Reihen zu den Profis holt – wohl wissend, dass der nicht „fertig“ ist und schon im fußballerischen Bereich weiter intensive Betreuung benötigt – oder ob man nicht lieber einen „fertigen Spieler“ im gleichen Alter von einem anderen Verein, womöglich aus dem Ausland, holt.

Emotional unreife Spieler

Ein weiteres Problem der JLZ ist die unzureichende pädagogische und psychologische Betreuung. Scholle hat in seinem Beitrag die fehlende Konsequenz im Umgang mit Disziplinlosigkeiten bis hin zu Straftaten beschrieben. Man vergisst manchmal: Die Nachwuchsspieler sind ganz normale Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Sie haben die normalen Probleme, die viele Jugendliche haben: sie testen Grenzen aus, probieren sich aus, machen erste sexuelle Erfahrungen, sind verunsichert und auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz im Leben. Sie sind hin- und hergerissen zwischen der vagen Aussicht, als Profi viel Geld verdienen zu können und der Einsicht, dass nur wenige von ihnen tatsächlich den Schritt in den Profifußball schaffen werden. System der Fußballinternate schenkt diesen Aspekten zu wenig Aufmerksamkeit, die pädagogische und psychologische Betreuung ist zumeist unzureichend. Die Jugendlichen leben im Internat mit anderen Jungen zusammen und so entsteht dort eine typisch pseudo-männliche Kultur mit viel Machogehabe, in der man keine Schwächen und Gefühle zeigt. Die Spieler lernen deshalb kaum, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen und darüber zu reden.

André Schürrle hat in seinem Abschiedsinterview letzte Woche im SPIEGEL genau dieses Manko thematisiert. Er sagt dort:

Offen und ehrlich über Dinge zu sprechen, das ist in meiner Branche ja unmöglich und für mich noch ungewohnt. (...) Man muss ja immer eine gewisse Rolle spielen, um in dem Business zu überleben, sonst verlierst du deinen Job und bekommst auch keinen neuen mehr.

Er beschreibt in dem sehr lesenswerten Interview den Druck, den er verspürt hat sowie seine eigene Unfähigkeit, seine Gefühle auszudrücken.

Diese Fähigkeit ist jedoch wichtig, um als Leistungssportler erfolgreich zu sein. Gefühle wie Versagensangst, Unsicherheit, Ärger und Enttäuschung wahrzunehmen und auszudrücken ist ein wichtiger Aspekt der Fähigkeit zum „Selbst-Management“. Hier fehlt eine angemessene psychologische Betreuung der Spieler, um sie nicht nur fußballerisch, sondern auch emotional reifen zu lassen.

Lernen von den Besten

Die Mängel der Nachwuchsarbeit – und das gilt für die JLZ aller Vereine – sind bekannt. Nachdem die Einführung der JLZ 2001 ein großer Schritt nach vorn darstellte, hat der DFB es versäumt, das Konzept permanent weiterzuentwickeln.

Hier liegt aber meines Erachtens auch eine Chance für einen Verein wie den HSV, sich durch innovative Nachwuchskonzepte, die über die Vorgaben des DFB hinausgehen, von anderen Vereinen abzuheben.

Dazu kann man sich an den internationalen Klassenbesten (z.B. Arsenal, Barça oder Ajax Amsterdam) orientieren, die im Detail unterschiedliche Konzepte haben. Arsenal z.B. legt Wert auf eine möglichst enge Verzahnung von sportlicher und schulischer Ausbildung, so dass die Jugendspieler mehr Zeit für Training und Taktikschulung haben (wobei man sagen muss, dass Arsenal sich auch stark darum bemüht, ältere Jungendspieler aus anderen Ländern zu holen, die „fast fertig“ sind).

Der Ansatz von Ajax erscheint mir besonders interessant, da vor der Aufnahme ein strenges Auswahlverfahren steht, das nicht nur fußballerische Fähigkeiten (Technik) berücksichtigt, sondern auch Physis (Schnelligkeit) sowie die psychologischen Faktoren Intelligenz und Persönlichkeit. Interessanterweise hat Ajax kein eigenes Internat, die Jugendlichen sind in Gastfamilien untergebracht und erhalten so bessere Möglichkeiten, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu reifen. Die Ajax-Talentschmiede „De Toekomst“ gibt es seit 1996 und ist offenbar sehr erfolgreich – heute stammen 55 % aller holländischen Profispieler aus der Jugendarbeit von Ajax).

Natürlich hat der HSV nicht die Ressourcen von Arsenal, Barça oder Ajax. Aber allein mit einem systematischen und strukturierten Auswahlverfahren für die Aufnahme in die Nachwuchsförderung (s. Ajax) und einer intensiveren psychologischen und pädagogischen Betreuung der Jugendlichen könnte man heute die Weichen für zukünftigen Erfolg stellen.

Viele kleine Stellschrauben zum Erfolg

Um auf einige kritische Kommentare zu meinen letzten Beiträgen einzugehen: Ich behaupte nicht, dass die Psychologie der alleinige Schlüssel zum Erfolg beim HSV ist. Aber: der wichtigste Erfolgsfaktor ist der Aufbau einer Hochleistungskultur im Verein. Dem untergeordnet sind viele verschiedene unterschiedliche Maßnahmen: eine bessere Auswahl von Spieler und Management (s. „Moneyball und der HSV“), intensivere Jugendarbeit, professionelle Investitionsplanung, Ernährungsplanung, spieltaktische Variabilität, mentales Training, medizinische Betreuung, Taktikschulung, Scouting, und vieles mehr. Um als Verein erfolgreich zu sein, muss es für jeden erfolgskritischen Bereich ein Konzept geben, um ihn zu verbessern, denn der Erfolg ist fast immer das Produkt vieler kleiner Verbesserungen. Das ist mühsam, kostet viel Arbeit und man braucht viel externes Know-how. Auf der anderen Seite ist jedes Konzept, dass sich auf nur eine wenige vermeintlich identifizierte Schwachstellen fokussiert (sei es vermehrt auf junge Spieler zu setzen, mehr Empathie zu zeigen oder zwei starke Innenverteidiger zu kaufen) zum Scheitern verurteilt. Es braucht die Einsicht, den Willen und die Konsequenz, den Verein und die Spieler in allen Bereichen und an allen möglichen Stellschrauben zu verändern und zu verbessern, um kurz- und langfristig erfolgreich zu sein.

Nachtrag

Mein Freund und Kollege, der selbst als Psychologe in einem NLZ arbeitet, hat mir zu meinem Beitrag noch ein paar Kommentare geschickt, die ich gerne teile. Er schreibt:

Zur Kultur in den NLZ:

Wichtig erscheint mir: die Persönlichkeitsentwicklung ist (in den NLZ) oftmals eben nur zweit- oder drittranging. Man gewichtet das Sportliche immer höher. Man hat noch zu wenig verstanden, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt.

Zur Rolle des DFB bei der (fehlenden) Weiterentwicklung de Konzept der NLZ:

Der DFB will das Konzept schon gern weiterentwickeln. Er scheitert aber permanent an den Rahmenbedingungen (s. Schule) oder an der Vereinslobby. Man muss dem DFB zugutehalten, dass mit Einführung der verpflichtenden Stelle eines Psychologen im Nachwuchs ja erste Schritte gemacht werden. Gleichzeitig sehe ich das Problem noch etwas anders: Unsere Sportpsychologische Kultur im Fußball ist oftmals defizitär orientiert. Ein Teil der Initiative, Sportpsychologen zu verankern rührt aus dem „Trauma Robert Enke“ her. Das heißt, der Sportpsychologe wird (zum Teil) eben nicht als integraler Bestandteil eines umfassenden Konzepts gesehen, der mit positiven Inputs die sportliche und menschliche Weiterentwicklung der Jugendlichen begleitet. Vielmehr soll er als eine Art Sensor oder Prophylaxe eingebaut werden, damit keine neuen Deislers, Enkes, usw. „vorkommen“. Das verkennt die Wirklichkeit. Schon rein statistisch muss es ja unter den Heranwachsenden emotionale Krisen, Depression, Spielsucht – oder im schlimmsten Fall mal einen Suizid geben...

Zur Ajax Amsterdams Konzept, die Jugendliche in Gastfamilien unterzubringen:

Das Konzept gab es bei uns vor dem Internat: ganz schlimm... Ich will damit nicht sagen, dass das ein schlechtes System ist. Aber: Es kommt immer darauf an, WIE man das macht.

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