Marcus Scholz

30. Januar 2020

Oh nein, dachte ich mir noch, als ich las, dass sich Trainer Dieter Hecking am Tag des ersten Rückrundenspiels 2020 gegen Nürnberg plötzlich über so abseitige Themen wie sich selbst als Nachfolger von Bundestrainer Joachim Löw und die Nationalmannschaft äußerte. Warum vor allem? Gerade er, der zuvor immer betont hatte, dass in diesem so wichtigen ersten Spiel gegen den 1. FC Nürnberg der Fokus ausschließlich auf dem Sportlichen liegen sollte. „Wenn der HSV das Ding verliert, bekommt er das um die Ohren“, war die einhellige Meinung – aber der HSV verlor nicht. Zum Glück sogar ganz im Gegenteil: Denn die Mannschaft von Trainer Dieter Hecking überzeugte über die 90 Minuten trotz eines kleinen Wackelmomentes zu Beginn der zweiten Halbzeit fast in Gänze und siegte vor 39.985 Zuschauern auch in der Höhe absolut verdient mit 4:1.

Und das mit einer nahezu so erwarteten Aufstellung. Statt wie geplant Ewerton über eine komplette Vorbereitung in die Startelf zu hieven und zum Abwehrchef aufzubauen, musste der Brasilianer auf der Bank Platz nehmen. Seine Leistung in Lübeck und seine Verspätung beim Training hatten Disziplin-Freund Hecking keine Wahl gelassen und ihn aus der ersten Elf fliegen lassen. Für Ewerton begann neben dem gesetzten Timo Letschert dessen Landsmann Rick van Drongelen. Auf der linken Außenbahn verteidigte wie gewohnt  Leibold gegen seinen Exklub, während auf rechts einer von zwei (Louis Schaub begann auf der Zehn) Neuen begann: Jordan Beyer.

HSV von Beginn an dominant - Schaub funktioniert

Und das Spiel begann, wie es beginnen musste. Mit einem aggressiven HSV in Spiellaune. Bis auf ganz wenige Ausnahmen spielte sich die Partie in den ersten 45 Minuten ausschließlich in der Nürnberger Hälfte ab bzw. mit HSV-Ballbesitz in der HSV-Hälfte. Dass es am Ende „nur“ 63 Prozent Ballbesitz in der ersten Hälfte gewesen sein sollen, kann ich ehrlich gesagt gar nicht glauben. Denn der HSV war so überlegen wie lange nicht mehr. Und er erspielte sich Torraumszenen und Chancen. Auch, weil im Mittelfeldzentrum die Dreier-Kombi Fein/Schaub/Dudziak hervorragend funktionierte und man über die Außenbahnen mit Jatta rechts und Kittel links immer Anspielpunkte hatte, die das Spiel nach vorn gefährlich machten.

Mit langen Bällen aus der Innenverteidigung hinter die FCN-Abwehr bzw. von außen mit flachen Hereingaben zwischen FCN-Keeper Christian Mathenia und Fünfmeterraum war der HSV immer wieder gefährlich. Und es war hier tatsächlich nur eine Frage der Zeit, wann der HSV die erste Chance zur Führung nutzen würde. Hinterseer per artistischen Fallrückzieher (13.), Beyer volley aus 20 Metern (15.), erst Schaub und dann Kittel mit einem verunglückten Rechtsschuss (16.) waren die Vorläufer für die in der 17. Minute hergestellte und hochverdiente Führung.

Ausgerechnet Jatta trifft zur verdienten Führung

Der aus meiner Sicht über die ganze Saison hinweg noch immer unterschätzte Dudziak erkämpft den Ball im Offensivpressing, Kittel geht über links durch, passt flach in die Mitte und findet dort – Bakery Jatta (17.). Was für eine Geschichte! Der Mann, wegen dem der Haussegen zwischen dem FCN und dem HSV seit Monaten kritisch schief hängt, sorgt für die Führung! Es passte hier und heute (fast) alles!

Und diese Führung setzte sogar noch einmal Kräfte frei, die der HSV in zunehmender Dominanz auch in weitere Chancen umzusetzen wusste. Dudziak legt sich den Ball nach langem Letschert-Pass frei vor Mathenia etwas zu weit vor (20.), Kittel per Volleyabnahme aus sieben Metern (23., Passgeber Dudziak) verpassen noch, ehe die inzwischen schon dritte elfmeterreife Szene des Spiels den ersten Elfer einbringt.  Mein MVP bis hierhin, der bärenstarke Dudziak, wird im Sechzehner von FCN-Verteidiger Mavropanos, der das Bein leicht rausnimmt, zu Fall gebracht. Für den Stuttgarter Schiri Schmidt gut zu sehen und eindeutig: Elfmeter. Lukas Hinterseer lässt sich die Chance in Abwesenheit von Hunt nicht nehmen und verwandelt sicher zum 2:0 (28.).

Nürnberg findet nicht statt - und trifft plötzlich

Der 1. FC Nürnberg? Der fand hier heute gar nicht statt. Erst ein diskutabler Freistoß aus 25 Metern, bei dem Schiri Schmidt die Mauer Schützen-freundlich auf gefühlt 11 oder  12 Meter wegstellt, sorgt für den hauch von Gefahr. Aber Heuer Fernandes kann den Geis-Freistoß parieren (32.). Diese Szene und ein Kopfball gut fünf Meter am Kasten vorei blieben die einzigen FCN-Lebenszeichen bis zum Halbzeitpfiff. Und: Dass der HSV hier nur mit 2:0 und nicht deutlich höher führte dürfte das Einzige gewesen sein, das Trainer Dieter Hecking zu monieren hatte.  Denn dieses Spiel hätte schon jetzt entschieden sein können.

War es aber nicht. Und so passierte, was in dieser Saison schon zu oft passiert ist: Der HSV kassierte quasi aus dem Nichts ein Gegentor. Hier: den Anschlusstreffer. Tim Leibold hatte am eigenen Sechzehner den Ball erobert, trieb ihn zehn Meter weiter ins Mittelfeld und wollte Jatta kurz anspielen, während dieser den Laufweg nach vorn machte. Nürnbergs Eigentorschütze aus dem Hinspiel, Tim Handwerker ging dazwischen, nahm den Ball noch fünf Meter mit und zog aus 25 Metern ab – das 2:1 (51.). Der FCN war wieder im Spiel. Wahnsinn.

Handelfer - Videobeweis sorgt für Vorentscheidung

Apropos Wahnsinn, damit habe ich die Überleitung zum Video-Schiri glaube ich bestens getroffen. Und der entschied in der 64. Minute auf Handelfmeter für den HSV. Eine Kann-Entscheidung, aber schon hart. Zumindest würde sich jeder HSV-Fan andersrum mächtig drüber aufregen. Und auch die HSV-Fans skandierten „Fußball-Mafia DFB“ – obgleich der Videobeweis diesmal positiv für den HSV ausgelegt wurde. Denn Hinterseers mit dem Unterarm geblockter Schuss (aus kürzester Distanz für den Abwehrspieler nahezu nicht vermeidbar) führte zu dem Handelfer, den Kittel per Lupfer ebenso arrogant wie sicher zum 3:1 verwandelte (67.). Die Vorentscheidung, oder wie Gästertrainer Jens Keller sagte, "der Genickbruch" für die Gäste.

Im Anschluss nahm Trainer Hecking Schaub nach einem sehr guten Debüt vom Platz, brachte dafür den defensiveren Jung. Motto: Kein unnötiges Risiko mehr eingehen. Dafür waren die ersten drei Punkte und der gute Start in das Jahr 2020 hier und heute einfach zu wichtig. „Auch die anderen Mannschaften haben ihr Ding gemacht“, sagte Hecking nach dem Spiel und kündigte an: „Es wird ein Dreikampf bleiben.“

Positiv an der Vorentscheidung war auch, dass Neuzugang Joel Pohjanpalo so zu seinem HSV-Debüt (83. Für Hinterseer) kam. Genau eine Minute nachdem der HSV über die linke Seite - Kittel auf Leibold, der per Flanke auf Torschütze Jung - zum 4:1 kam. Ein wirklich sehr schön herausgespielter Treffer, der auch die allerletzten Zweifel am guten und erfolgreichen  Auftakt wegwischte.

 

Hecking: „Alle gewinnen - es bleibt ein Dreikampf“

Mit diesem Sieg kletterte der HSV wieder auf den zweiten Tabellenplatz und hielt dem Druck, den die Konkurrenten mit ihren vorgelegten Siegen (Bielefeld gegen Bochum, Stuttgart souverän gegen Heidenheim) ausgeübt hatten, Stand. Und dabei zeigte sich einmal mehr, dass der HSV über ein Mittelfeld verfügt, das offensiv den Unterschied ausmachen kann. Und das sage ich nur deshalb so, weil das Mittelfeld defensiv heute nicht gefordert wurde. Dabei wusste Schaub absolut zu überzeugen. Und obwohl das heute schon gut war, glaube ich, dass wir noch sehr viel bessere Spiele von ihm sehen werden. Zudem hat der HSV den alten Adrian Fein zurück, heute zumindest über weite Teile des Spiels.

Dennoch möchte ich diesen Blog nicht beschließen, ohne noch einmal – auch wenn ich Euch damit nerve – einen Spieler hervorzuheben, den ich noch immer als den am meisten unterschätzten beim HSV sehe: Jeremy Dudziak. Der Zugang vom Stadtrivalen ist der Mann, der immer anspielbar ist, der für alle Mitspieler nicht nur eine Lösung darstellt, sondern auch immer das Tempo mit in die Offensive nimmt. Kein Drehen auf dem Bierdeckel, sondern mutige, fast immer gewonnene Eins-gegen-Eins-Situationen, mit denen er dem HSV-Spiel die Räume eröffnet, die die schnellen Außen Jatta, Kittel oder auch Leibold gut zu nutzen wissen.  Das war für mich heute die Spielnote 1. Er ist für mich in einer insgesamt sehr guten Mannschaft der „Man oft he Match“.

In diesem Sinne, das war ein sehr gelungener Auftakt! Und: bis gleich. Da melde ich mich noch mit meinem Blitzfazit und der Pressekonferenz mit HSV-Trainer Dieter Hecking und Gästecoach Jens Keller.

Bis morgen!

Scholle

Das Spiel im Stenogramm:

HSV: Heuer Fernandes - Beyer, Letschert, van Drongelen, Leibold - Fein - Schaub (76. Jung), Dudziak (86. Kinsombi) - Jatta, Hinterseer (83. Pohjanpalo), Kittel

1. FC Nürnberg: Mathenia - Mühl, Margreitter, Mavropanos, Handwerker - Geis, Cerin (41. Nürnberger) - Schleusener (78. Zrelak), Behrens, Hack (89. Dovedan) - Frey

Tore: 1:0 Jatta (18.), 2:0 Hinterseer (27./FE), 2:1 Handwerker (51.), 3:1 Kittel (67./FE), 4:1 Jung (82.)

Zuschauer: 39.985

Schiedsrichter: Markus Schmidt (Stuttgart)

Gelbe Karten: Schaub (2.), van Drongelen (20.) / Frey (20.), Behrens (49.), Margreitter (66.)

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