Tobias Escher

17. Juni 2020

Manchmal benötigt es keine ausführliche Taktikanalyse, um ein Fußballspiel zu sezieren. Manchmal genügen zwei Zahlen, um alles Relevante zu sagen. Im Fall der Partie zwischen dem Hamburger SV und dem VfL Osnabrück lauten diese Zahlen 193 und 244. 193 Pässe spielten Hamburgs Innenverteidigung Timo Letschert (104) und Gideon Jung (89). 244 spielte die gesamte Osnabrücker Mannschaft.

Das drittletzte Spiel des HSV auf dem Weg zum Aufstieg war keins für Freunde des Angriffsfußballs. Die Zahlen erzählen bereits die Geschichte eines Spiels, das langweiliger kaum hätte vonstattengehen können: Hamburgs Verteidiger spielten Querpass um Querpass, während die Osnabrücker sich zurückzogen und den HSV machen ließen. Das große Problem: Der HSV wusste zu keiner Zeit des Spiels, was er mit dem Ballbesitz-Anteil von fast 75% anfangen soll.

Osnabrück mit Manndeckung

HSV-Trainer Dieter Hecking setzt im Saisonendspurt auf Kontinuität. Im Vergleich zum 1:0-Sieg gegen Dynamo Dresden gab es nur eine Veränderung in der Startelf: Gideon Jung ersetzte Rick van Drongelen (Gelbsperre). Ansonsten begann der HSV in der gewohnten Mischung aus 4-3-3 und 4-2-3-1; letztere Formation ergab sich, sobald David Kinsombi aus dem Mittelfeld nach vorne rückte.

Der VfL Osnabrück hielt dem Hamburger Spielsystem eine rigorose Manndeckung entgegen. Normalerweise bin ich vorsichtig mit dem Wort Manndeckung, erweckt es doch häufig falsche Erwartungen. In den seltensten Fällen deckt ein Verteidiger durchgehend einen gegnerischen Angreifer; meistens verteidigen Teams heutzutage im Raum und folgen nur situativ ihrem Gegenspieler.

Osnabrück wählte jedoch die klassische Variante: Jeder Verteidiger bekam einen Gegenspieler zugeteilt, an dessen Fersen er sich heftete. So war Zehner Sebastian Klaas zuständig für Adrian Fein, Sven Köhler deckte Aaron Hunt, und auch die Außenverteidiger rückten sofort nach vorne, sobald Hamburgs Außenverteidiger den Ball bekamen. Damit Osnabrück überall auf dem Feld diese Manndeckungen herstellen konnte, stellten sie sich in einer Mischung aus 3-4-1-2 und 3-4-3 auf. Letztere Variante gab es vor allem zu bestaunen, sobald Fein sich zwischen die Innenverteidiger fallenließ.

Jedem Hamburger Feldspieler stand permanent ein Gegenspieler auf den Füßen – mit zwei Ausnahmen. Letschert und Jung in der Innenverteidigung wurden von ihren Manndeckern erst gestört, sobald sie die Mittellinie überquerten. Osnabrück wählte also eine Mittelfeldpressing-Variante: Der HSV durfte den Ball zwischen Innenverteidigern und Torhüter laufen lassen. Sobald er auf die Flügel oder ins Mittelfeld gespielt wurde, griff der jeweilige Manndecker zu.

Taktische Aufstellung HSV - Osnabrück
Taktische Aufstellung HSV - Osnabrück

 

Inspirationslos, ungenau, träge

Nun gibt es viele Wege, eine derartige Manndeckung des Gegners zu knacken. Oft genügt es, wenn der Ballführende Spieler sich im Dribbling gegen seinen direkten Gegenspieler durchsetzt. In der Folge muss ein anderer Gegenspieler seine Manndeckung aufgeben, um den Ballführenden Spieler zu stören. Man kann aber auch über Läufe in den freien Raum versuchen, die Manndecker des Gegners aus einem Raum zu ziehen, um diesen in der Folge dynamisch zu besetzen. Auch Positionswechsel eignen sich, um die Ordnung des Gegners auseinanderzuziehen.

Das große Problem des Hamburger SV an diesem Abend war, dass es ihnen genau ein einziges Mal gelang, einen dieser Tricks anzuwenden. Vor dem 0:1 (35.) wechselte Martin Harnik auf die linke Seite. David Kinsombi gesellte sich zu ihm und zog damit seinen Manndecker aus dem Mittelfeld. Ein simpler Doppelpass genügte nun, um Harnik in freie Position zu bringen.

Das Hamburger Führungstor sollte die große Ausnahme bleiben. Ansonsten agierte der HSV derart inspirationslos, wie man ihn selten in dieser Saison erlebt hat. Hunt und Fein ließen sich permanent fallen. Sie versuchten gar nicht erst, Freiräume im Mittelfeld zu erzwingen. Die Außenspieler trauten sich entweder nicht in Eins-gegen-Eins-Duelle oder verloren diese prompt. Die Innenverteidiger wählten wiederum in fast jeder Situation den Sicherheitspass, was zu der eingangs erwähnten, reichlich absurden Statistik führte, dass sie fast so viele Pässe spielten wie die gesamte Osnabrücker Mannschaft.

Mutige Osnabrücker

So kam es, dass die Osnabrücker trotz vollständig fehlendem Pressing in der gegnerischen Hälfte die besseren Chancen hatten. Ihre Spielidee nach Ballgewinnen war ebenso wenig innovativ wie ihr Spiel gegen den Ball: Sie spielten den Ball zunächst nach hinten, um den HSV in eine Pressingsituation zu locken. Erst wenn die HSV-Elf in die gegnerische Hälfte gerückt war, schlugen die Osnabrücker Verteidiger bzw. Torhüter Philipp Kühn den Ball hoch und weit nach vorne.

Den Osnabrückern muss man zugutehalten, dass sie diese langen Bälle konsequent und mutig nutzten. Schon vor dem langen Schlag postierten sich fünf Osnabrücker an der gegnerischen Abwehrlinie. Diese fünf Spieler starteten direkt in die Spitze. Gewann der VfL nun das Duell um den langen Ball, konnten sie sofort in die Tiefe spielen.

Nun ist diese Spielweise der Osnabrücker keineswegs neu. Dass viele Gegner sich auf diese Spielweise eingestellt haben, ist ein gewichtiger Grund, warum die Osnabrücker nach einer starken Hinrunde (26 Punkte) nur zehn Zähler in der Rückrunde sammelten. Der HSV machte jedoch genau jene Fehler, die man gegen Osnabrück nicht machen darf. Nicht nur vor dem 1:1 (57.) agierte die HSV-Viererkette nicht auf einer Höhe, sodass die Osnabrücker sofort wuchtig durchbrechen konnten, nachdem sie den langen Ball erobert hatten. Es war das große Glück des HSV, dass die Osnabrücker ihre hochkarätigen Chancen teils auf komödiantisch schlechte Art vergaben.

Keine Hilfe von der Bank

Auch im Verlaufe der zweiten Halbzeit verbesserte sich das Hamburger Spiel nicht. Heckings Wechsel waren fast gänzlich positionsgetreu. Weder die Idee, mit Louis Schaub einen spielstarken Akteur fürs Mittelfeld zu bringen, noch der Schachzug, Lukas Hinterseer als Rechtsaußen einzusetzen, gingen auf. Das HSV-Aufbauspiel dümpelte bis zur Schlussphase vor sich hin. Es dauerte bis zur 88. Minute, ehe Hecking mit der Einwechslung von Jairo Samperio (für Fein) das 4-2-3-1 auflöste und zu einem Zwei-Stürmer-System überging.

Dass der HSV am Ende beinahe doch noch gewinnen hätte, war der Tiefpunkt eines an Tiefpunkten nicht armen Abends. Doch weder Schiedsrichter Dr. Martin Thomsen noch der Videoassistent griffen ein, als Letschert klar im gegnerischen Strafraum gefoult wurde (92.).

Dennoch: Ein Hamburger Sieg hätte die Kräfteverhältnisse auf dem Platz falsch wiedergegeben. Osnabrück gelang es mit einfachen Mitteln, den Spielaufbau der Hamburger lahmzulegen. Dass der HSV jeglichen Esprit und Mut im Spiel nach vorne vermissen ließ, lässt vor den abschließenden Spielen gegen Heidenheim und Sandhausen alle Alarmglocken schrillen. Die Gründe dafür dürften jenseits jeder Taktikanalyse zu suchen sein. In vielen Phasen des Spiels gegen Osnabrück wirkten die HSV-Spieler schlicht nervös. Bleibt nur zu hoffen, dass sie diese Nervosität in den kommenden Tagen irgendwie ablegen können.

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