Marcus Scholz

12. Juli 2020

Viel mehr als theoretische Ansätze gibt es momentan nicht. Wie muss man etwas, und vor allem: was genau muss man besser und anders machen?  In den letzten Tagen haben wir sehr viel über den Bereich Kultur und Ausrichtung gesprochen. Wir haben Lösungsansätze geliefert und diese Dank der spannenden, fundierten Beiträge vom Psychologen Dr. Olaf Ringelband auch von wissenschaftlicher Seite her sehr verständlich untermauert. Wirklich schwer ist daran auch eigentlich  nichts – abgesehen eben von der Umsetzung. Ich werde heute auch nicht noch einmal alles von vorn aufrollen. Zusammengefasst geht es einfach darum, nachhaltig Werte über Personen zu stellen. Und in der Praxis kann das nur bedeuten, bei den Neuzugängen genau darauf zu achten, dass diese eben diesen Weg mitgehen. „Nur mit Talenten geht es nicht“ habe ich zuletzt immer wieder gehört und gelesen - und das ist richtig. Aber es geht besser mit Talenten. Und vor allem: Der HSV hat längst nicht nur Talente.

Im Tor hat der HSV mit Julian Pollersbeck einen zweifellos sehr talentierten Keeper, der in den letzten Wochen der Saison zeigen durfte, dass er ein Rückhalt sein kann. Aber gerettet hat er den HSV letztlich auch nicht. Und wenn man „Polle“ heute auf seinen Wechsel zum HSV anspricht, wird er nicht nur gute Worte finden. Es gab Phasen, da ließ man ihn schlichtweg allein. Von Vereinsseite wurde uns gegenüber lanciert, wie unprofessionell Pollersbeck sich verhalten hätte und zu dem damaligen Zeitpunkt noch verhalten würde. Kurzum: Der Verein warf uns Polle zum Fraß vor. Und einige Kollegen nahmen das auf – viele andere glücklicherweise nicht. Denn viele wussten schon damals darum, dass sich die Verantwortlichen zu selten und viel zu wenig um die Spieler kümmern.

Pollersbeck als mahnendes Beispiel, wie es falsch ist

Anstatt Pollersbeck aber damals, als er im Eiltempo aufgestiegen war, dabei beratend zur Seite zu stehen, wurde von ihm verlangt, was er noch nicht konnte. Es galt das großkotzige Motto „Wer nicht funktioniert, wird ausgetauscht“. Geld spielte schon lange keine Rolle mehr. Erst hatte man viel davon – später war der Schuldenberg so hoch, dass ein paar Millionen mehr offenbar keine Rolle mehr spielten. Man kaufte sich, was man mit ehrlicher Arbeit auch kostenfrei und deutlich effektiver hätte schaffen können. Auch deshalb waren die Positionen in der HSV-Führung immer so beliebt. Stichwort: Wohfühloase. Denn die galt längst nicht nur für Spieler, sondern noch mehr für die Verantwortlichen. Aber das ist Vergangenheit. Finanziell dazu gezwungen, müssen Sportvorstand Jonas Boldt und Co. jetzt ran. Sie müssen entwickeln. Und das ist gut so.

Und die von Herrn Dr. Ringelband und uns hier im Blog beschriebenen Werte werden vorgelebt. Im Fall Jatta wurde diese Loyalität zu den Spielern am deutlichsten. Aber auch sonst bekommt man nicht einmal mehr in Hintergrundgesprächen Schlechtes über Spieler zu hören. Und das nicht, weil Boldt, Hecking und Co. mit ihren Spieler so hochzufrieden waren. Das waren sie lange nicht. Aber sie verstehen sich als eine Gruppe, die nur zusammen auch funktionieren kann. Aussortierte Spieler gab es nicht mehr – übrigens auch nicht Kyriakos Papadopoulos, dem hier viele immer wieder hinterhergetrauert haben. Immer wieder habe ich versucht, zu ergründen, weshalb der Grieche so gar keine Rolle mehr spielte. Er selbst sagte mir vor fast einem Jahr nach der Vorbereitung, dass er sich gut fühle. Auch Hecking hatte Papadopoulos gelobt. Dennoch spielte Papadopoulos anschließend keine Rolle mehr, nachdem sich Trainer und Sportvorstand mit ihm zusammengesetzt hatten. Weil der Grieche nicht bereit war, die Rolle des Reservisten, des Backups zu übernehmen.

 

Fragt man Hecking und Boldt bekommt man darauf nur die Antwort, dass es eine gemeinsame, sportliche Entscheidung war. War es ja auch. Irgendwie. Denn schon vor einem Jahr setzte der HSV zumindest auf der Position des Innenverteidigers auf die jüngeren Spieler Letwschert, van Drongelen und hoffte auf Ewerton, anstelle des teuren Griechen. Auch, weil Papadopoulos körperlich stark eingeschränkt ist ob seiner chronisch vorbelasteten Knie. Knorpelschäden links wie rechts sorgen für eine hohe Unberechenbarkeit des Fitnesszustandes. Das sagt beim HSV zwar keiner laut – aber das wissen von Gelsenkirchen bis Hamburg alle. Das soll auch bei Rene Adler, bei Valon Behrami und bei Bobby Wood so sein. Bei Letztgenanntem, der noch ein weiteres Jahr Vertrag beim HSV hat, soll man sicher davon ausgehen können, dass er schon aus körperlichen Gründen die 100 Prozent Fitness nicht mehr erreichen wird.

HSV kann sich „Kompromissspieler“ nicht leisten

Und das sind nur ein paar Beispiele für HSV-Profis, die genommen worden sind, obwohl alle vorher von den jeweiligen Einschränkungen wussten. Diese Spieler, die aufgrund von Defiziten für den HSV erschwinglich wurden (und trotzdem zu teuer bezahlt wurden), nenne ich „Kompromissspieler“. Und diese Sorte Profis hat beim HSV – darauf hoffe ich - keinen Platz mehr. Oder anders formuliert: Sie dürfen einfach keine Rolle mehr spielen. Deshalb sortierte der HSV unter der neuen Führung mit Boldt (und damals noch Hecking) Papadopoulos aus und legte Wood einen Wechsel nahe. Hätte Papadopoulos seine Rolle als Backup angenommen – er wäre mit Sicherheit für Hecking eine Option geblieben, solange er Vertrag hatte. Denn, und da kommen wir zu den Werten: Der HSV steht zu seinen Spielern. Wurde den ehemaligen Spielern früher von Vereinsspitze immer wieder jede Menge Dreck hinterhergeschmissen, kommt aktuell lieber kein einziges Wort, bevor ein schlechtes kommt.

Und das kommt gut an. Bei allen. Selbst Papadopoulos, der sich zu schade war, als Backup zu agieren und der nie einen Hehl aus seinen Gefühlslagen gemacht hatte, schimpfte nicht. Obwohl er enttäuscht war, wusste er, dass der HSV sich aus sportlicher Sicht korrekt verhalten hatte. Er trainierte fortan zunächst bei der U21, bis er es nicht mehr wollte. Er saß anschließend seinen Vertrag aus, bat um vorzeitige Freigabe - und er erhielt sie. Seit einigen Monaten schon postet er andauernd Fotos von sich in der Heimat, wie er seinen Hobbys nachgeht. Er durfte zwischenzeitlich wochenlang bei anderen Klubs vorspielen. Kurzum: Der Irrtum Papadopoulos wurde vom HSV konsequent bis zum letzten Moment ausgebadet. „Verträge sind keine Einbahnstraße“, sagt Boldt immer wieder. Und daran hält sich der HSV. Soll heißen: Es gibt dieses ständige „unten gegen oben“ beim HSV auf sportlicher Ebene nicht mehr.

 

 

Und das ist ein guter Anfang. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die große Kunst zur neuen Saison wird sein, solche Irrtümer gar nicht erst zuzulassen. Zu teuer einkaufen wird der HSV eh nicht. Kann er gar nicht. Aber er wird mehr in den Staff investieren müssen. In einen Psycholgen, der der Mannschaft zur Seite steht eh. Vor allem aber wird sich der HSV vermehrt mit Spielern ausstatten müssen, die eben noch nicht fertig sind, die nicht wie Papadopoulos Champions League gespielt und ein paar hundert Ligaspiele Erfahrung mitbringen. Von daher muss sich das neue Trainerteam stark auf Entwicklung ausrichten. Einen Pollersbeck wird man nicht mehr einfach links liegenlassen. Zum einen, weil ein Daniel Thioune an sich selbst eine andere Erwartungshaltung hat. Zum anderen aber auch, weil der HSV sich sowas einfach gar nicht mehr erlauben kann. Der HSV wird (endlich) dazu gezwungen, sein Spielermaterial maximal zu entwickeln. 

Ich weiß, das klingt sehr wirtschaftlich und irgendwie auch unmenschlich – ist aber tatsächlich nichts als der einzig richtige Weg. Und erst wenn der HSV diesen Weg konsequent eingeschlagen hat, werde ich hier von einer guten Ausbildungsphilosophie sprechen. Egal, wie richtig und lobenswert ich die Worte Thiounes auch finde, es ist noch ein weiter Weg. Und der beginnt bei den Neueinkäufen. Sie werden ein erster Fingerzeig sein, ob der HSV den angekündigten neuen Weg auch geht. Einer davon hätte sicherlich Hendrik Weydandt von Hannover 96 sein können. Aber der Angreifer, über den mir ein sehr guter Freund aus Hannovers Staff sagte, dass er eine Bereicherung für jede Mannschaft sei und Hannover 96 deshalb auch extrem um ihn kämpfen würde, soll offenbar in Hannover kurz vor einer Vertragsverlängerung stehen. Leider.

Spannenden Woche steht an - mit Entscheidungen

In der kommenden Woche sollen beim HSV die ersten wichtigen Personalentscheidungen gefällt werden. Der zweite Cotrainer soll bestimmt werden, die ersten Zugängen benannt. Und auf Führungsebene soll entschieden werden, ob und wer der dritte Vorstand wird. Eine Entscheidung, die vor allem im Hamburger Umfeld mit viel Spannung verfolgt wird, da es offenbar auch darum geht, inwieweit sich der HSV weiter bei Klaus Michael Kühne anbietet. Der Milliardär war in den letzten Jahren Fluch und Segen in einem für den HSV und hatte zuletzt angekündigt, sich zurückziehen zu wollen. Sollte der auf seinen Wunsch in den Aufsichtsrat beförderte Markus Frömming tatsächlich in den Vorstand aufrücken, wäre das ein Fingerzeig, dass man beim HSV weiter bereit ist, Kühnes Wünsche in die Abläufe einzuplanen. Sagen die einen, die sich auf dieser Position jemanden wünschen, der die Hamburger Unternehmer zu begeistern weiß. Denn neben der Neuausrichtung auf sportlicher Seite muss der HSV auch wirtschaftlich  umdenken. Aber dazu in den nächsten Tagen mehr.

Bekannt ist, dass der HSV zwei neue Innenverteidiger sucht, dass er mindestens einen kampfstarken Sechser und einen Mittelstürmer holen will. Ich werde in den nächsten Tagen neben dem Tagesaktuellen vor allem auf den aktuellen Kader eingehen, die abgelaufene Saison analysieren und darauf eingehen, was der HSV hier zur neuen Saison braucht. Wobei ich eine große Bitte habe, bzw. mich sehr interessieren würde, wo ihr die größten Baustellen im Kader seht. Meine Frage an Euch: Wo muss der HSV Eurer Meinung nach personell ansetzen? Und: welche Lösungsvorschläge/-ansätze seht ihr? Ich bin gespannt… Bis dahin wünsche ich Euch aber erst einmal einen schönen Restsonntag! Genießt den Abend und bis morgen! Da melde ich mich wieder mit dem MorningCall um 7.30 Uhr bei Euch.

Bis dahin! Scholle 

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