Dr. Olaf Ringelband

16. Juli 2020

In dem Film „Moneyball“ (2011) geht es um ein Baseballteam, das wenig Geld für Spielerkäufe zur Verfügung hat und es mit Hilfe mathematischer Analyse von Spielerdaten schafft, talentierte, unterbewertete Spieler zu identifizieren und zu verpflichten. Mit diesem Team von namenlosen Spielern ist die Mannschaft dann sehr erfolgreich. Der Film basiert auf einer wahren Geschichte, die in dem Buch „Moneyball – The Art of Winning a Unfair Game“) beschrieben wird.

Im Fußball stützen sich die Vereine in den großen Ligen in den letzten Jahren auch zunehmend auf Spielerdatenbanken, um Talente zu identifizieren. Bis hinunter in die unteren Ligen und die Jugendmannschaften der Bundesliga gibt es Statistiken über Passquoten, Scorerpunkte, Laufstrecken, Verletzungen von Spielern. Mit Hilfe dieser Datenbanken versuchen die Vereine, talentierte und bisher unbekannte Spieler zu entdecken (das wird in dem sehr lesenswerten Buch „Matchplan“ von Christoph Biermann erläutert).

Bei der ganzen Analyse der Spieler vor ihrer Verpflichtung wird jedoch ein wichtiger Bereich nicht berücksichtigt: die Psychologie. Wie häufig hat der HSV in den letzten Jahren vielversprechende Spieler verpflichtet, bei denen sich dann später „charakterliche Mängel“ zeigten, die „nicht ins Team passten“, die „nicht richtig motiviert waren“, „die mit dem Druck nicht umgehen konnten“ oder „ihr Potenzial nicht abrufen konnten“?

Allerdings könnte man den psychologischen Bereich vor der Verpflichtung von Spielern genau so gründlich untersuchen wie deren Spielerdaten - und somit die Quote der Fehleinkäufe deutlich reduzieren.

Psychologische Diagnostik in der Wirtschaft

Es gibt einen Bereich in der Psychologie, der sich „psychologische Diagnostik“ nennt. Dieser versucht herauszufinden, wie Menschen ticken – und zwar nicht nur im Bereich von psychischen Krankheiten, sondern auch bei gesunden Menschen, z.B. um deren Eignung für bestimmte Berufe festzustellen. Ich selbst arbeite in einer Beratungsfirma, die genau das macht: wir prüfen (in der Regel relativ hochrangige) Manager vor ihrer Einstellung oder Beförderung daraufhin ab, inwieweit sie für die neue Aufgabe geeignet sind. Wohlgemerkt – die Manager, die wir untersuchen, wurden von Personalberatern (sogenannten „Headhuntern“) in der Regel gezielt angesprochen, ihr Lebenslauf wurde akribisch durchleuchtet und sie hatten mehrere Gespräche mit ihrem zukünftigen Vorgesetzten. Unternehmen engagieren jedoch Beratungsfirmen wir die unsere, weil sie in der Vergangenheit häufiger die bittere Erfahrung gemacht hatten, dass Manager, die auf dem Papier und in den Vorgesprächen einen sehr guten Eindruck gemacht hatten, sich später als Fehlbesetzungen herausstellen.

Wohl jeder, der in einem Unternehmen arbeitet, hat schon einmal einen inkompetenten Chef gehabt, der zwar formal gut qualifiziert war, aber nicht mit Menschen umgehen konnte, faul und unmotiviert war oder der charakterliche Mängel hatte. In den meisten Fällen kann man solche Fehlbesetzungen durch eine gründliche psychologische Analyse im Vorfeld verhindern.

Fußballspieler durchleuchtet

Worauf würde ich bei der psychologischen Analyse von Fußballspielern achten? Was Trainer, Funktionäre und Journalisten „Charakter“ nennen, heißt in der Psychologie „Persönlichkeit“. Man beschreibt Menschen anhand einer Handvoll (fünf oder sechs) grundlegender Dimensionen. Einige dieser Persönlichkeitsdimensionen erlauben erstaunlich treffsichere Vorhersagen darüber, wie ein Mensch sich verhalten wird, wie erfolgreich er in Beruf und seinen privaten Beziehungen sein wird und wie zufrieden er generell mit sich und seinem Leben sein wird.

Die wichtigste Persönlichkeitseigenschaft, die Erfolg (in Schule, Ausbildung, Beruf) bestimmt, ist Gewissenhaftigkeit. Darunter fallen verschiedene Aspekte wie Selbstdisziplin, Durchhaltevermögen, das Einhalten von Regeln und Fleiß. Ganz sicher ist Gewissenhaftigkeit auch bei Fußballspielern eine wichtige Persönlichkeitseigenschaft. Auch beim HSV gab es viele großartige Fußballspieler, die wegen fehlender Gewissenhaftigkeit den HSV wieder verlassen mussten und als „verkannte Genies“ auch später ihr Potenzial nicht nutzen konnten. Umgekehrt gibt es immer wieder Fußballspieler, die weder technisch noch athletisch besonders begabt sind, die es aber mit ungeheurem Ehrgeiz und Biss schaffen, wertvolle Bestandteile der Mannschaft zu werden. Manche Spieler, die so gestrickt sind, bringen es sogar bis zum Stammspieler in der Nationalmannschaft.

Ein weiterer psychologischer Bereich, der betrachtet werden muss, ist die Teamfähigkeit. Jeder, der einmal selbst Mannschaftssport betrieben hat, weiß, wie ein einzelner Spieler, der sich nicht ins Team integrieren will, die ganze Mannschaft aus dem Tritt bringen kann. Auch dafür gibt es beim HSV in der Vergangenheit Beispiele. Wichtig sind Eigenschaften wie Empathie, Rücksichtnahme und Interesse an anderen. Für manche Rollen (etwa: Abwehrchef) ist auch eine gewisse Dominanz wünschenswert, um als Anführer von den anderen akzeptiert zu werden.

Menschen reagieren unterschiedlich auf Stress und Belastungen. Eine gewisse emotionale Stabilität hilft dabei, in Drucksituationen leistungsfähig zu bleiben. Ein ganz wichtiger Punkt ist die Frustrationstoleranz. Wie geht ein Spieler damit um, wenn er sich vom Schiedsrichter (oder vom Trainer) ungerecht behandelt fühlt? Wie sieht es in einem Spieler aus, wenn man sich kurz vor Schluss den Ausgleich fängt – denkt er dann „hoffentlich verlieren wir nicht noch!“ oder „scheißegal, dann schießen wir jetzt noch eines“.  Eine Mannschaft braucht einen gewissen Anteil an psychisch robusten Spielern, an denen sich die anderen in schwierigen Situationen aufrichten können.

Ein Aspekt der Motivation ist die grundlegende Leistungsbereitschaft. Ein anderer ist das, was genau einen Spieler motiviert. Denn: jeder Mensch wird durch andere Dinge angetrieben und motiviert, sich anzustrengen. Manche brauchen um sich ein harmonisches Team, manche haben einen starken inneren Leistungswillen, andere sind durch Anreize wie Geld motivierbar (z.B. die Spieler, die sich erst kurz vor der anstehenden Vertragsverlängerung voll ins Zeug legen). Manche brauchen Verständnis und Zuwendung, andere gewissen Druck und klare Vorgaben.

Grundsätzlich gibt es keine gute oder schlechte Motivation – ein Verein wie der HSV muss aber überlegen, welche Art von Motivation er von seinen Spielern erwartet.

Ein anderer Aspekt ist, dass der Trainer durch einen psychologischen Test bei der Einstellung von Anfang an bei einem neuen Spieler weiß, wie er ihn behandeln muss. Ein beim HSV häufig vernachlässigtes Thema ist m.E. das „Onboarding“ – das heißt, wie man einen neuen Spieler menschlich in die Mannschaft und das neue Umfeld integriert. Wenn man z.B. von vornherein weiß, dass ein Spieler introvertiert ist, aber ein großes Bedürfnis nach Kontakt und Austausch mit anderen Menschen hat, muss man ihn in der Anfangsphase stärker an die Hand nehmen. Wenn ein Spieler emotional weniger stabil ist, muss er behutsam aufgebaut und gestärkt werden.

Im Berufsleben ist Intelligenz eine wichtige Voraussetzung für Erfolg. Im Fußball spielen die technischen und athletischen Fähigkeiten sowie die Persönlichkeit sicher eine wichtigere Rolle als klassische Intelligenz. Für manche Positionen ist Intelligenz vielleicht sogar komplett irrelevant, ein klassischer Mittelstürmer darf sogar nicht zu viel nachdenken. Aber für manche Positionen ist Intelligenz durchaus hilfreich, z.B. auf dem Platz schnell taktische Muster oder sich öffnende Räume zu erkennen.

Ein tiefer Blick in die Augen reicht (nicht)

Warum wird bei der Verpflichtung von Spielern nicht auf die psychologischen Aspekte genauso geachtet wie auf die spielerischen und medizinischen? Ich weiß es nicht. Ich habe vor einigen Jahren einmal mit dem Präsidenten eines Bundesligavereins darüber gesprochen. Der meinte damals zu mir, „Herr Ringelband, Sie haben völlig recht, Charakter und Persönlichkeit bei Spielern sind wichtig – aber das kann ich selbst gut einschätzen.“ Diese Äußerung erinnert mich an die Haltung, die es früher in Unternehmen gab: Der Chef weiß selbst am besten, wer zum Unternehmen passt, da reichen ein Händedruck, ein Blick in die Augen und ein gutes Gespräch. Während man sich in Großteilen der Wirtschaft heute weiß, dass diese Art der Diagnostik wenig treffsicher ist, zu teuren Fehlentscheidungen führt und nutzt deshalb statt dessen treffsichere psychologische Verfahren bei Einstellungen und Beförderungen, ist der Profifußball in vielen Bereich seiner Zeit ziemlich hinterher.

Ein Verein – und hier denke ich natürlich an den neuen HSV -, der mit Hilfe psychologischer Diagnostik seine Trefferquote beim Einkauf von Neuverpflichtungen erhöht, hätte einen deutlichen Vorteil gegenüber seinen Mitbewerbern – ähnlich wie das Baseballteam im Film „Moneyball“.

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