Marcus Scholz

27. Januar 2020

Dieter Hecking wollte dringend etwas loswerden - und das hat er gestern durchgezogen, wie Ihr hier alle lesen konntet und natürlich auch noch könnt. Dass der HSV-Trainer von sich aus um eine Runde mit uns Journalisten bat, kam bislang so noch nie vor. Und angesichts der Tatsache, dass am Freitag nach der Präsentation von Neuzugang Joel Pohjanpalo auch Sportvorstand Jonas Boldt urangefragt plötzlich vor die Kameras trat, hatte dieses Wochenende schon  etwas Besonderes. Oder ist es die Nähe zum Rückrundenauftakt am Donnerstag, die die Verantwortlichen noch einmal den Bedarf verspüren lässt, sich mitzuteilen. Denn, und das ist angesichts der Vorgeschichte ganz klar, das Spiel gegen den 1. FC Nürnberg ist angesichts der Vorgeschichte mit dem Protest der Franken gegen die Spielwertung kein Spiel wie jedes andere. Und es wird zusätzlich angeheizt: „Gegen Nürnberg haben wir noch eine Rechnung offen“, sagte Boldt am Freitag und sprach davon, dass das Stadion brennen werde.

Letzteres hoffen wir mal nicht, zumal der HSV-Sportvorstand sicher keine teuren und gefährlichen Pyro-Aktionen im Sinn hatte, sondern die Ränge, wie sie einst stimmungsvoll eskalierten, als Hakan Calhanoglu mit Bayer Leverkusen und dem damaligen 04-Sportchef Boldt das erste Mal als Ex-HSVer nach Hamburg zurückkam. Und auch in Nürnberg weiß man um die Brisanz des Spiels am Donnerstag. „Für beide Mannschaften ist das Spiel sehr wichtig. Wir wollen Stabilität reinbekommen, weil wir wissen, was uns in der Rückrunde erwartet. Und der HSV hat ja auch noch große Ziele“, ist Robert Palikuca um eine sportliche Einstufung der Partie bemüht. Dabei weiß der Sportvorstand der Nürnberger nur zu gut, dass die Partie am Donnerstag für die Hamburger eine deutlich übergeordnetere Rolle hat. Mit der Rautenperle sprach der Nürnberger Sportvorstand das erste Mal seit den eingelegten Protesten über die Folgen und vor allem über die Lehren des Einspruchs aus dem vergangenen Jahr - die vor allem auch für ihn Folgen hatten.

Palikuca - das Gesicht des Nürnberger Protestes

Denn Palikuca ist so etwas wie das Gesicht des Protestes der Nürnberger geworden. Niemand wurde im Zusammenhang mit dem Einspruch damals so oft abgebildet und zitiert wie der 41-Jährige, der die ganze Geschichte in der Rückbetrachtung inzwischen so einzuschätzen vermag, wie er es damals, im August 2019, hätte machen müssen. „Der HSV war im Hinspiel brutal effektiv, das stimmt. Aber er hat das Spiel auch absolut verdient gewonnen. Der HSV war an dem Tag deutlich aggressiver, physisch stärker“, erinnert sich Palikuca an das 0:4 im Hinspiel mit Grauen. Noch schlimmer laste allerdings auf ihm, was im Anschluss passierte. „Wir hatten damals nur wenige Stunden Zeit zu entscheiden, ob wir Einspruch einlegen oder nicht. Es gab keinen vergleichbaren Fall zu diesem Zeitpunkt.  Wir standen damals im Vorstand und mit dem Aufsichtsrat im intensiven Austausch und haben mit der DFL telefoniert und nachgefragt. Wir wussten es selbst nicht einzustufen und haben dann aus rein rechtlichen Gründen den Einspruch pro forma eingelegt. Und schon um uns gegen mögliche Regresse zu schützen, entschlossen wir uns damals dazu, die Vereinsinteressen zu wahren. Welche Tragweite dieses Thema haben würde, war uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.“

In meinem Gespräch mit dem ehemaligen Profi des FC St. Pauli wird schnell deutlich, dass Palikuca seinen Fehler nicht nur erkannt, sondern vor allem auch eingesehen hat. Vereinsintern gab es seither viele Gesprächsrunden. Auch mit den eigenen Fans, die den Einspruch gegen die Spielwertung von damals in großen Teilen selbst verurteilten. Palikuca, den ich Freitag das erste Mal dazu gesprochen hatte, sagte mir erstaunlich offen: „Wir müssen uns ganz klar den Vorwurf machen und gefallen lassen, dass wir in der Zeit zwischen dem Einspruch und dem Rückzug des Einspruchs unsere Haltung zu diesem Thema besser hätten kommunizieren müssen. Wären wir transparenter gewesen, wäre nie jemand auf die Idee gekommen, uns als 1. FC Nürnberg in die rechte Ecke zu drängen. Das war ein großer Fehler von mir.“

Man habe es schlichtweg verpasst, das ganze Thema in der Außendarstellung sachlich zu halten. „Hier ist ein sportrechtliches Thema zu einer politischen Diskussion auf dem Rücken eines jungen Mannes ausgetragen worden“, sagt Palikuca, dem anzumerken ist, dass ihm mit jedem ehrlichen, entschuldigenden Wort in Richtung Jatta ein Stück Last von den Schultern fällt. Ob er heute den Protest noch einmal einlegen würde? Palikuca überlegt lange, wie er diese Frage beantworten soll. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen seinem persönlichen, moralischen Denken und dem, was er als Repräsentant des FCN sagen darf. „Ich hoffe, dass es einen solchen Fall nie wieder geben wird.“

HSV lassen die Entschuldigungen kalt

Auf HSV-Seite lösen die Schuldeingeständnisse der Nürnberger nur wenig aus. „Wir haben damals zurecht gesagt, dass wir diesen Einspruch nicht verstanden haben“, so Hecking heute noch einmal deutlich. Er betonte dabei, dass er sich dem Thema Nürnberg rein sportlich nähern wolle. Aber es ist kein Geheimnis, dass sowohl er als auch Boldt die Vorgeschichte nutzen wollen, um die Mannschaft noch ein Stück weit mehr einzuschwören auf das Spiel gegen den 1. FC Nürnberg und den damit verbundenen wichtigen Start in die Rückrunde 2020. Hecking: „Für mich geht es um die sportliche Wertigkeit – wir wollen das Spiel wieder gewinnen, denn das ist immer die beste Antwort, die man geben kann.“

Und eine klare Antwort hätte ich dann auch auf die Frage erwartet, weshalb der 1. FC Nürnberg nach Prüfung eines möglichen Regresses - der nicht ohne Weiteres gültig zu machen gewesen wäre - den Einspruch nicht unabhängig vom Ausgang der DFB-Prüfung zurückgezogen hat. Palikuca überlegt wieder länger. „Unsere Hoffnung war stets, dass die Behörden hier schnell Klarheit schaffen und das Thema aus rechtlicher Sicht schnell erledigt wird. Denn die sportliche Niederlage hatten wir längst anerkannt. Uns ging es nie darum, drei Punkte am Grünen Tisch zu ergaunern, sondern rein um unsere Fürsorgepflicht dem Verein gegenüber. Deshalb haben wir auch direkt an dem Tag, als die Behörden Klarheit geschaffen hatten, unseren Protest zurückgezogen. Ebenso wie der Karlsruher SC und der VfL Bochum.“ Nun ja…

Aber was soll man auch machen, wenn man weiß, dass man einen Fehler gemacht hat, diesen aber nicht so einfach komplett eingestehen darf, ohne neben sich auch viele andere Verantwortliche - darunter auch Vorgesetzte -  ansehen zu lassen? Vor allem angesichts des Aufsichtsrates, in dem mit Vize Stefan Müller jemand sitzt, dessen engen geschäftlichen Beziehungen zur BILD-Gruppe schon im vergangenen August hier im Blog bekannt gemacht wurden und der mit seiner Agentur B&M Marketing inzwischen sogar zum Hauptvermarkter der SportBild befördert wurde. Zu viele Zufälle, als dass hier kein Zusammenhang zu erkennen wäre.

Palikuca entschuldigt sich bei „Vorbild Jatta“

Auch Palikuca weiß, wie das alles aussieht. Und er weiß auch, dass es nahezu unmöglich ist, in der Causa Jatta das Gesicht des FCN komplett zu wahren. So sehr es Palikuca auch versucht. Allerdings hält ihn das nicht von dem Versuch ab. Es ist das erste Mal überhaupt, dass der Sportvorstand der Nürnberger öffentlich zur Jatta-Thematik Stellung bezieht. Und das hat einen brisanten Hintergrund, denn Palikuca ist selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Er floh selbst als Jugendlicher vor dem schlimmen Bürgerkrieg in Jugoslawien und baute sich in Deutschland über den Fußball seine heutige Karriere auf. Palikuca hat bis heute Probleme, die die Bilder verarbeiten und hat seitdem nie wieder über die schlimmen Erlebnisse in  seiner Jugend zu gesprochen. Und das wollte er auch in unserem Gespräch, das ihr in Teilen auch in der heutigen Abendblatt-Ausgabe nachlesen könnt, nicht machen.

Dennoch war es Palikuca wichtig, zu betonen, dass er sehr wohl nachempfinden könne, wie sich Jatta und die vielen Hunderttausende, die in Deutschland Zuflucht gesucht haben, fühlen. Es sei für ihn unerträglich zu wissen, dass gerade er hier zum Bild der Nürnberger Proteste erhoben und letztlich sogar von vielen in eine rechte Ecke manövriert wurde. Palikuca: „Mir tut es unendlich leid für den Menschen, für den Fußballer und das Vorbild Bakery Jatta. Der ganze Einspruch, das ganze Thema verselbständigte sich schnell zu einer gnadenlos populistischen, politischen Diskussion, die auf seinem Rücken ausgetragen wurde. Dass er das alles fühlen musste, dass er diese Zeit durchlaufen musste, tut mir unendlich leid. Bakery Jatta ist ein toller und vorbildlicher Fußballer. Es freut mich, dass er diese Unterstützung erfahren hat. Zu sehen, wie beim HSV die Trainer, die Mannschaft und das gesamte Umfeld Bakery unterstützt haben, werte ich als Vorbild. Für alle. Auch für uns.“

Stimmung vor dem Spiel gegen FCN bleibt brisant

Ob die entschuldigenden Worte Palikuca in Richtung Jatta und HSV die Stimmung bis Donnerstag runterzukochen vermögen - ich bezweifle es. Aber ich ziehe den Hut vor der Offenheit, mit der Palikuca das Thema angeht. Denn eines machen seine Worte deutlich: Er weiß, dass Nürnberg und er hier für ein dunkles Kapitel deutscher Fußballgeschichte gesorgt haben. Und das sagt er auch.

In diesem Sinne, bis später. Da werde ich Euch ggf. noch ein Update vom Tage hier einstellen. Sicher werde ich Euch dagegen von der Enthüllung der Gedenktafel berichten, die heute anlässlich des Gedenkens an die Befreiung der Gefangenen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vor 75 Jahren eingeweiht wird. Um 17 Uhr können sich hierfür alle Interessierten an der Rampe Nord des Volksparkstadions einfinden.

Bis dahin,

Scholle

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