Marcus Scholz

15. September 2020

Okay, wir müssen das Thema Leistner hier abarbeiten. Logisch. So ein Vorfall zieht einen Rattenschwanz an Berichten nach sich, die unerfreulich sind und bleiben werden. Und auch bei Euch ist die Diskussion natürlich längst in vollem Gange. Von „unverzeihbar“ über „der muss suspendiert werden“ bis hin zu „schade, dass er dem Dresdner nicht aufs Maul gehauen hat“ und „ich hätte genauso gehandelt – pro Leistner“ oder auch „Toni Leistner - Ehrenmann“ ist alles dabei. Von vielen Seiten erhält der HSV-Profi dabei tatsächlich Zuspruch für sein Handeln. Nun hat sich mit Christopher Quiring auch einer seiner ehemaligen Mitspieler gemeldet. Quiring, der einst bei Union Berlin zusammen mit Leistner spielte, schrieb auf seinen Instagram-Account: „Familie beleidigen und deiner Frau eine Fehlgeburt wünschen! Du bist Vorbild hast dich absolut unprofessionell verhalten. Beim nächsten Mal benutze deine Faust. Wir stehen hinter dir.“ Kann man so denken – muss man aber nicht…

Und bevor wir hier alles zuerst emotional beurteilen, zu den Fakten: Der Kontrollausschuss des DFB hat ein Ermittlungsverfahren gegen Toni Leistner nach dessen Attacke auf einen pöbelnden Fan eingeleitet. Dies bestätigte der Deutsche Fußball-Bund. Der Spieler werde zu einer Stellungnahme aufgefordert, hieß es weiter. Nach der 1:4-Niederlage des HSV bei Dynamo war Leistner vor einem Interview beim Pay-TV-Sender Sky auf die Tribüne gesprungen, wo ihn ein Dresden-Anhänger offensichtlich lautstark und mit Gesten beleidigt hatte. Er griff sich den pöbelnden Dynamo-Fan, drückte ihn zu Boden, ehe umstehende Zuschauer und schließlich auch Ordner Leistner zurückdrängten, der daraufhin wieder ins Stadioninnere sprang. „Meine Familie lasse ich nicht beleidigen“, begründete der gebürtige Dresdner seine Aktion anschließend im Sky-Interview. Später entschuldigte der 30-Jährige sich via Instagram für den Vorfall und sprach davon, dass ihm sowas in seiner Vorbildrolle niemals hätte passieren dürfen.

Auch externe Spieler äu0erten sich inzwischen zu dem Vorfall. Nationalspieler Goretzka nannte es zwar „traurig“, dass Spieler immer wieder beleidigt werden. „Aber das ist gang und gäbe und man muss von einem Profi schon erwarten können, dass er das überhört“, sagte der Mittelfeldspieler von Rekordmeister FC Bayern am Dienstag in München. Der 25-Jährige meinte, dass Fußballer in diesen Zeiten auf solche Provokationen vorbereitet sein müssten. „Ich glaube, dass wir in so einem emotionalen Kochtopf wie einem Fußballstadion von klein auf solchen Beleidigungen und Schmähungen ausgesetzt waren. Da muss man schon von einem Spieler erwarten können, dass man sich da nicht beeindrucken lässt, die Ruhe bewahrt und drüber steht.“

DFB ermittelt gegen Leistner - lange Sperre droht

Schwierig für Leistner wird zudem, dass der attackierte Fußball-Fan der Darstellung des HSV-Profis inzwischen öffentlich widersprochen hat. Der Anhänger von Dynamo Dresden sagte gegenüber Tag24: „Er rechtfertigt seinen Ausraster damit, dass ich seine Familie beleidigt haben soll. Das war definitiv nicht der Fall.“ Kurz bevor der Ex-Dresdner Leistner nach dem 1:4 in der ersten Runde des DFB-Pokals zum TV-Interview dran war, habe der Fan in seine Richtung gerufen. Als Leistner dran war, hätten sich die Schmährufe auf die Hamburger Niederlage bezogen. „Um die Familie ging es mit keinem Wort», sagte der namentlich nicht genannte Mann. Es seien die „üblichen Phrasen, die Fans nach so einem Spiel von sich geben“ gewesen. „Am Ende hat er sich für seinen Ausraster entschuldigt, aber was ist das wert, wenn er die Tatsache so verdreht, dass ich seine Familie beleidigt hätte?“, fragte der Fan. Mittlerweile sei der Kontakt mit dem Club hergestellt, dem Anhänger droht der Ausschluss.

Gegen Leistner ermittelt der DFB-Kontrollausschuss. Und der ist nicht wirklich dafür bekannt, seine Entscheidungen auf Empathie zu begründen. Ganz im Gegenteil. Und wenn nicht ein Präzedenzfall geschaffen wird, wird Leistner für sein Verhalten eine lange Sperre aufgebrummt bekommen. Anders vereinsintern, wie Sportvorstand Jonas Boldt inzwischen mitteilte:

„Wir haben die Aktion am Abend in Dresden aufgearbeitet, uns die vorhandenen Videosequenzen angeschaut und uns auch die Berichte der Augen- und Ohrenzeugen zukommen lassen. Toni selbst ist nach seinem Social-Media-Post auf uns und auf das Team zugekommen und hat sich in aller Form für sein Verhalten entschuldigt. Wir haben ihm sehr deutlich mitgeteilt, dass wir den Vorfall nicht tolerieren, gutheißen, dass wir einen internen Umgang damit finden müssen und werden. Wir haben ihm aber auch versichert, dass er aufgrund seiner Handlung jetzt nicht von uns fallengelassen oder an den Pranger gestellt wird. Wir sollten und müssen uns parallel zur internen Vorgehensweise vor allem auch mit den Umständen beschäftigen und aktiv daran arbeiten, dass solche Vorfälle vermieden werden. Das Niveau der Kommentare, die sich Toni aus dem Block anhören musste, ist unsäglich und leider keine Ausnahme mehr. Gegen solch drastische Beschimpfungen, ob beleidigend, homophob oder rassistisch, müssen wir im Fußball und auch in der Gesellschaft vorgehen. Ich bin sehr froh, dass der Großteil der Dresdner Fans und auch der Club selbst eine vernünftige und sachliche Einschätzung der Gesamtlage vorgenommen haben und dies auch kommunizieren.“

 

Eine Suspendierung muss Leistner offensichtlich nicht befürchten. Obwohl er es sportlich zuvor gerechtfertigt hätte, wie mir tief enttäuschte Bekannte und Freunde gestern schrieben. Und damit möchte ich zu dem kommen, was eigentlich das viel größere Thema heute sein muss: Die sportliche Leistung in Dresden. „Die spielen, als hätten die alle keinen Bock aufeinander“, schrieb mir ein guter Freund gestern während des Spiels. Und so sah es tatsächlich immer wieder aus. Keiner pushte den anderen, stattdessen spielten alle so vor sich hin. Von trainierten Automatismen war nichts zu sehen.

Säulenspieler verharren anstatt voranzugehen

Stattdessen war der Ballführende der einsamste Spieler auf dem Platz. Mit ganz wenigen Ausnahmen trauten sich die HSV-Profis um den zumindest immer bemühten neuen Mannschaftskapitän Tim Leibold nicht, das Spiel mit schnellem Offensivspiel anzukurbeln (Leistner, David, Vagnoman). Oder sie waren zu langsam (Hunt, Gjasula, Kittel, Dudziak, selbst Wintzheimer braucht mit Ball immer wieder zu lange). Hinzu kam, dass die Torchancen, die sich zweifellos für den HSV ergaben, fahrlässig liegen gelassen wurden. Allein Hinterseer hätte in der ersten Halbzeit drei Tore machen müssen. Dass Torwart Daniel heuer Fernandes alles andere als Souveränität ausstrahlte, darf auch seinem Intellekt geschuldet sein.

Denn auch er wird mitbekommen haben, dass der HSV ziemlich viele Hebel in Bewegung gesetzt hat, um auf seiner Position einen besseren zu finden. Dafür wechselte ja inzwischen auch Julian Pollersbeck für rund 500.000 Euro zum Champions-League-Halbfinalisten Olympique Lyon. Sofort kursieren erste Namen. Florian Müller vom FSV Mainz war heute Morgen schon von der Hamburger Morgenpost ins Gespräch gebracht worden. Der 22-jährige Erstligakeeper ist aber zugleich auch vom Bundesligisten SC Freiburg umworben – und wechselt jetzt auch dorthin.

 

 

Fakt aber ist: Heuer Fernandes weiß, dass das vereinsseitig in ihn gesteckte Vertrauen endlich ist. Sehr endlich sogar. Er kann und wird niemals eine unumstrittene Nummer eins beim HSV sein können. Ergo: Sollte der HSV hier nicht noch eine wirklich richtig gute, externe Lösung präsentieren – steht das nächste selbst verschuldete Torwart-Dilemma mit einer von Beginn an geschwächten Nummer eins ins Haus.

Seine eigene Position in Frage stellte gestern Klaus Gjasula, der in den ersten 45 Minuten einen unterirdischen Auftritt hinlegte. Beim 0:1 beispielsweise attackieren vier Spieler den Flankengeber nur zögerlich und in der Mitte steht Helm-Klaus ein wenig desorientiert im leeren Raum. Während Hinterseer dem Torschützen nicht folgen kann, verliert Gjasula das geschehen hinter sich komplett aus den Augen. Übrigens: Alle elf HSV-Spieler (!!) sind hierbei im und direkt am eigenen Sechzehner gegen nur vier Dresdner – und können das Tor nach nur drei Minuten dennoch nicht verhindern. Ein Armutszeugnis. Aber: unhaltbar für Heuer Fernandes.

Vor dem 0:2 hatte der HSV seine kurze, gute Phase und hätte zwei oder drei Treffer erzielen müssen. Wäre es so gekommen, das Spiel wäre sicher gekippt – tat es aber eben nicht. Stattdessen sorgte ein dummer Ballverlust von Gjasula und Hinterseer keine 13 Minuten später für das 0:2 (16.), bei dem der HSV im eigenen Sechzehner eine 6:2-Überzahl hat! Trotzdem kommt Dresdens Becker unbedrängt zum Abschluss und trifft – unglücklich von Davide abgefälscht – zum zweiten Mal für den Drittligisten. Defensivverhalten? NULL! Wieder gucken alle aus sicherer Entfernung zu.

Chancen waren da - aber auch große Ernüchterung

Auch hiernach hätte Hinterseer mit zwei Hundertprozentigen den Ausgleich herstellen können – nein: müssen. Tat er aber wieder nicht. Stattdessen standen sechs HSV-Profis (Wintzheimer, Hunt, Dudziak, Leistner, Vagnoman und Gjasula) dem besten Mann auf dem Platz und erneuten Vorlagengeber Panagiotis Vlachomidos nur Spalier, um Torschützen Daferner zuzusehen, wie der aus 20 Metern ins kurze Eck trifft – und dabei Heuer Hernandes ebenfalls nicht gut aussehen lässt. Wieder auffällig: Sieben HSV-Feldspieler schaffen es nicht, die beiden Dresdner vom 3:0 abzuhalten, da jeder von dem anderen auszugehen scheint, dass der es regelt.

Es fehlte gestern (neben  fast allen Grundlagen) auf dem Platz ein Chef in der Abwehr. Leistner war es nicht, Gjasula ebenso wenig. Leibold war bemüht, aber auf der linken  Außenbahn nicht der Organisator. Ebenso wenig wie die überfordert wirkenden Youngster Vagnoman und David. Allein deshalb dürfte es ein Spieler wie Stephan Ambrosius mit seiner robusten, rücksichtslosen Art zu verteidigen sehr leicht haben, wieder ins Team zu rücken. Das vierte Gegentor per Handelfmeter passte in den Spielverlauf und zum insgesamt schwachen Gesamtbild Toni Leistners, das dieser nach Spielschluss sogar noch weiter nach unten korrigierte.

 

Einziger Lichtblick – nein Lichtblicke: Simon Terodde und vor allem ein Spieler, dem ich jetzt schon die Bühne geben würde, die er braucht, um sich wenigstens zu entwickeln, wo andere „gestandene“ Spieler ihre 90 Minuten nur verwalten: Amadou Onana. Der junge Belgier zusammen mit einem erfahrenen Sechser neben sich oder mit zwei erfahrenen Mittelfeldspielen vor sich - das kann passen. Zumindest wäre es mal ein Spieler, bei dem man darauf hoffen kann, dass er über die  Zeit und das einhergehend ihm geschenkte Vertrauen auch die Sicherheit bekommt, um sich hier maximal zu entwickeln. Das Potenzial ist da – was übrigens null mit dem Tor zu tun hat. Das war nur die Belohnung eines insgesamt mutigen Auftrittes.

Apropos Belohnung: Was bitte sollte die Hereinnahme von Xavier Amaechi in der Nachspielzeit? Was bitte soll ein junger Profi davon halten, in so einer Situation noch für ein paar Sekunden auf den Platz geworfen zu werden? Die paar Euro Auflaufprämie wird er eher nicht zwingend brauchen. Hoffe ich. Stattdessen aber braucht er langsam eine klare Ansage seitens des  HSV, wie es für ihn hier weitergehen soll – wenn es denn hier und nicht auf Leihbasis woanders weitergehen soll.

Leistner darf nicht vom Sportlichen ablenken

Fazit: So dramatisch die Causa Leistner auch ist, sie darf nicht davon ablenken, dass die sportlichen Probleme gerade viel größer sind. Denn das Sportliche war das eigentliche Drama in Dresden. So, wie sich die Mannschaft dort präsentiert hat, kann sie sich am Freitag gegen Düsseldorf nicht zeigen, wenn sie etwas Zählbares mitnehmen will. Bis Freitag muss der HSV sich intern noch einmal so strukturieren, dass seine Säulenspieler mutig vorangehen, anstatt  nur stehenzubleiben und zuzugucken. Bis Freitag muss Trainer Daniel Thioune seiner Mannschaft die Mentalität vermitteln, die er in den Tests gegen Hertha und Feyenoord schon lobend erwähnt hatte.

„Ekelig“ nannte er diese Spielweise. Und damit hatte ganz sicher die Wirkung des Spielstils auf den Gegner beschrieben – nicht die Wirkung auf die eigenen Fans. Und ich bin mir sicher, fass der Trainer selbst auch dachte, dass er mit seiner Mannschaft schon weiter sei. Apropos Weiterentwicklung: Die gibt es jetzt auch in Sachen Zuschauer in den Stadien. 

Die Länder einigten sich am Dienstag in einer Videoschalte auf eine flächendeckende Fan-Rückkehr in die Fußballstadien und Sporthallen. In einer sechswöchigen Testphase ist zunächst eine Auslastung von maximal 20 Prozent der jeweiligen Kapazität erlaubt. Ende Oktober soll die Lage neu bewertet werden. „Es soll eine Art Experiment werden, ein Probestart“, kündigte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) an. 

Minister beschließen: Zuschauer sind zugelassen

Vor der Sitzung hatte er seine Forderung nach einer gemeinsamen Linie erneut bekräftigt. „Es kommt darauf an, dass wir eine einheitliche Regelung bekommen“, sagte Söder am Dienstag am Rande einer Klausurtagung der CSU-Fraktion im Landtag in München. Alles andere wäre „für die Liga und die Akzeptanz sehr schwierig“. Zudem gehe es nicht nur um Fußball, sondern auch um Volleyball, Handball, Basketball oder Eishockey. 

Die von den Chefs der Staatskanzleien beschlossene Teilzulassung von Zuschauern unter Corona-Bedingungen verschafft dem gesamten Profisport bessere wirtschaftliche Perspektiven bei der Bewältigung der Corona-Krise. Zudem steht nun einem stimmungsvollen Saisonauftakt in der Fußball-Bundesliga an diesem Wochenende nichts mehr im Wege. Allerdings ist offen, ob alle Vereine die Freigabe wegen der Kurzfristigkeit noch umsetzen können. Bereits am Freitagabend eröffnet Rekord-Champion Bayern München gegen den FC Schalke 04 die Spielzeit 2020/21.

Laut Söder müsse man nun einige Wochen lang beobachten, ob die einheitliche Regelung in der Praxis funktioniere. „Und dann werden wir sehen, ob man sich daran hält oder nicht.“ Klar sei: Es brauche eine Maskenpflicht zumindest bis zum Platz, es brauche Abstand und Hygienemaßnahmen. Und auch der Zugang in die Stadien müsse sauber geregelt werden. „Ich sage Ihnen ganz offen, ich hätte noch ein halbes Jahr ohne Zuschauer locker aushalten können“, sagte Söder. Er spüre aber „den tiefen Wunsch vieler Menschen danach“. Deswegen müsse man die Wünsche und die Sicherheitsinteressen in eine vernünftige Balance bringen. Was genau das für den HSV am Freitag bedeutet, ist ebenfalls noch offen. Sollten am Freitag Zuschauer zugelassen werden, sollen die nTickets aller Wahrscheinlichkeit nach wie hier beschrieben im Losverfahren vergeben werden. 

In diesem Sinne, bis morgen! Da melde ich mich pünktlich um 7.30 Uhr wieder mit dem MorningCall hei Euch und werde am Nachmittag wieder versuchen, alle Eure Fragen im CommunityTalk zu beantworten.

Bis dahin,

Scholle

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