Marcus Scholz

15. Juli 2019

An jedem Ende der Trainingslager werden in aller Regel erste Fazits gezogen. So auch diesmal. Allerdings muss man klar festhalten, dass dieser Kader in der Form eher nicht in die Saison starten wird. Denn sowohl auf der Ein- als auch auf der Verkaufsliste befinden sich weiterhin Namen, die von Sportvorstand Jonas Boldt umgesetzt werden sollen. Hierbei werden immer auch Gotoku Sakai und David Bates genannt, mit denen ich das Kitzbühel-Fazit beginnen möchte.

Denn bei diesen beiden Spielern scheint es am deutlichsten zu sein, dass ihre Zukunft nicht mehr beim HSV liegt. Bei Sakai zum einen aus eigenem Wechselinteresse – aber zum anderen sicher auch von Vereinsseite aus. Bei Bates indes droht das Szenario des Verbleibs wider Willen. Denn unter Dieter Hecking scheint der Schotte einen schweren Stand zu haben. Deutlich zu sehen ist, dass der schottische Innenverteidiger nach seiner Verletzung noch nicht in alter Verfassung ist. Aber selbst wenn es Bates wieder an seine bisher hier gezeigte Bestform schafft, dürfte es für ihn sehr schwer werden. Spieler wie van Drongelen, Papadopoulos, ein gesunder Ewerton und selbst ein Jonas David sind ihm voraus.

David ist einer der Gewinner - Papadopoulos wieder sehr auffällig

Letztgenannter darf sich nach den ersten Trainingswochen und den sieben Tagen in Kitzbühel sogar als einer der Gewinner sehen. Schon in den ersten Trainingseinheiten in Hamburg war zu erkennen, dass sich David einiges vorgenommen hatte. Er wirkte aggressiv, mutig – einfach lebendig und nicht mehr so übertrieben zurückhaltend wie in der abgelaufenen Saison. „Er hat es sehr ordentlich gemacht. Unter Druck fehlt ihm manchmal noch die Ruhe und Abgeklärtheit – aber die kommt noch. Ansonsten war das sehr okay“, sagt Trainer Dieter Hecking, der in der Innenverteidigung hinter Papadopoulos das Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen ersetzen darf.

Der Grieche ist einer der auffälligsten Spieler - was nicht neu ist. Das ist sein Markenzeichen. Allerdings hatte er sich beim HSV lange Zeit mehr mit einem Abschied beschäftigt als mit einem Verbleib. Jetzt die Kehrtwende. In den Testspielen durfte Papadopoulos die Mannschaft sogar als Kapitän anführen, wenn Aaron Hunt nicht zeitgleich auf dem Platz stand. Und in den Trainingseinheiten war der Grieche körperlich ebenso präsent wie verbal. Er könnte der erhoffte Leader sein, wenn er so weitermacht.

Ebenfalls auf sich aufmerksam gemacht hat Rick van Drongelen. In den Testspielen war er sehr solide und zeigte, dass er dem HSV helfen kann. Aber vor allem mit der Aussage, dass er beim HSV bleiben wolle hatte er für Aufsehen gesorgt, nachdem in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder mit seinem Abschied spekuliert wurde. Ebenso wie bei Keeper Julian Pollersbeck, der in Kitzbühel als einziger der drei ersten Torhüter ohne Spielminute blieb und weiter als Verkaufskandidat gilt.

Pollersbeck soll weiterhin verkauft werden

Vielleicht sogar mehr denn je, denn die Nachnominierung von Jung-Keeper Kevin Harr war für mich sportlich eher unsinnig – dürfte aber ein weiterer Wink mit dem Zaunpfahl für „Polle“ gewesen sein. Heuer-Fernandes ist im gesunden Zustand gesetzt, Mickel soll die Zwei werden/bleiben und Kevin Harr als hochveranlagter Nachwuchskeeper soll von hinten Druck machen, wenn Pollersbeck geht. Ansonsten dürfte dieser als Ersatzkeeper dabei sein.

Auf den Außenverteidigerpositionen ergeben sich die Besetzungen bislang fast automatisch. Während rechts Sakai weiter vor dem Wechsel steht und Jan Gyamerah lediglich Josha Vagnoman (der noch immer hinterherhängt, aber im letzten Test gegen Huddersfield endlich Ansätze von dem zeigte, was erwartet wird) als Konkurrenten für seine Position hat, dürfte der Platz für den Neuzugang vom VfL Bochum, der mich in seiner Spielart sehr stark an Dennis Diekmeier erinnert, kaum in Gefahr sein.

 

Auf der linken Seite ist durch den Abgang von Douglas Santos für Neuzugang Tim Leipold Platz, der mich in den Tests im Trainingslager noch nicht überzeigen konnte, im Training aber immer wieder andeutete, wie wichtig er mit seiner Power über links werden kann. Von der Mentalität her – das ist schon jetzt festzustellen gewesen – sind sowohl Leibold als auch Gyamerah absolute Verstärkungen.

Die Außenverteidiger ergeben sich - Fein ist DER Gewinner

Im Mittelfeld ist Adrian Fein zweifellos der große Gewinner der vergangenen Wochen. Der (leider nur) auf Leihbasis vom FC Bayern gekommene Youngster besticht zum einen durch seine körperliche Präsenz. Zum anderen aber – und das ist viel wichtiger – verfügt er über einen außergewöhnlich ausgeprägten, strategischen Sinn. Und er hat einen derart feinen Fuß, wie ihn sonst keiner im Team hat. Auch kein Aaron Hunt. Fast jeder Pass ist wohl überlegt, Fehlpässe kommen so gut wie gar nicht vor. Einzig seine fehlende Wendigkeit ist ein Problem – allerdings auch nur dann, wenn er als alleinige Sechs gegen eine Umschaltmannschaft agieren muss. Ansonsten ist er als Achter oder als zweite Sechs für mich einer der Spieler, die zu Saisonbeginn auf dem Platz stehen müssen.

Gideon Jung ist dagegen noch irgendwo zwischen Sechser (als Abräumer) und Innenverteidiger anzusiedeln, konnte sich aber verletzungsbedingt bislang nicht wirklich für eines von beidem empfehlen. Bis auf ein Lob zu Beginn von Hecking, das als Schlussstrich unter die Verkaufsgedanken zu werten war, war nicht viel zu bewerten von Jung. Anders Jeremy Dudziak, der ebenfalls flexibel auf der Außenbahn (defensiv und offensiv) oder als Achter einzusetzen ist. Der Neuzugang vom FC St. Pauli hat die Fähigkeit, das 1:1 für sich zu entscheiden und dürfte vor allem dann für Hecking zur Alternative werden, wenn es gilt, eine massive Defensive aufzubrechen.

Dudziak, die Allzweckwaffe mit Potenzial

Diese Fähigkeit hat der Linksfuß ebenso wie er - dank seiner kurzen Ausholbewegung - einen hervorragenden Schuss hat. Seine ansatzlosen (Distanz-)Schüsse könnten zu einer großen Waffe im HSV-Spiel werden. Wenn sich Dudziak an die Vorgaben hält – in allen Bereichen – könnte er ein hochinteressanter Spieler werden. Das allerdings aus meiner Sicht nahezu ausschließlich offensiv. Defensiv ist er meiner Meinung nach nicht mehr als eine Notlösung.

David Kinsombi konnte im Trainingslager neben individuellen Läufen noch nicht viel machen, soll aber am Freitag wieder ins Mannschaftstraining einsteigen. Er ist im gesunden Zustand für mich die beste Lösung auf der Sechs. Zu gern würde ich ihn zusammen mit Fein im Zentrum spielen sehen. Viel mehr Ballsicherheit inklusive Defensive hat dieser HSV nicht zu bieten. Muss er aber auch nicht, denn das ist schon gut. Zudem besitzt der HSV mit Christoph Moritz einen Spieler im Team, der in jede Partie mit seiner Abgeklärtheit Ruhe reinbringen kann und so einer der Faktoren werden kann, die dem HSV in der abgelaufenen Saison zum Aufstieg fehlten. Die Frage ist nur, ob er sich mit der Rolle des „Routiniers von der Bank“ zufrieden gibt.

Offensiv kann man im Notfall auf Allzweckwaffe Dudziak bauen – ansonsten ist Aaron Hunt hier gesetzt. Im Trainingslager präsentierte sich Hunt im Training zum einen fit und zum anderen genau so, wie es einem Kapitän gebührt: Er kritisierte lautstark, gab Anweisungen, er übernahm sportlich Verantwortung in den Spielen, und er war/ist der Fixpunkt für die jungen Spieler im Team. Sonny Kittel, der diese Position zweifellos auch spielen könnte, wich vermehrt auf den linken Flügel aus. Das allerdings mit durchwachsenen Leistungen. Gegen Piräus war der vielleicht schussstärkste HSVer sofort ein Aktivposten. Gegen Huddersfield und in den meisten Trainingseinheiten war er kaum zu sehen.

Narey überzeugt - soll aber auch hinten einsetzbar sein

Ganz im Gegensatz zu Khaled Narey, der offensiv gegen Piräus der stärkste Akteur war. Ebenso war er in den Trainingseinheit auffällig. Ein Problem für ihn könnte seine Vielseitigkeit werden, denn Hecking setzte ihn auch immer wieder als Rechtsverteidiger ein. Weil er es kann – wenn auch nicht sehr überzeigend. Und, weil es natürlich ein Traum wäre, einen Außenstürmer auch als Außenverteidiger nutzen zu können. Mehr Offensivqualität bekommt man ja kaum auf den Platz.

Im Training immer wieder auffällig, in den Spielen aber unauffällig: Bakery Jatta. Wobei diese Unauffälligkeit in den Spielen leicht erklärbar ist, da der HSV stets versuchte, Offensivpressing zu spielen. Da blieb (zu) wenig Raum für seine spektakulären Sprints über die Außenbahn. Dennoch: Jattas unkonventionelle Spielweise ist immer ein Mittel, den Gegner durcheinanderzuwirbeln. Jatta macht stetig Entwicklungsschritte nach vorn – wenn auch naturgemäß kleiner werdend. Seine zunehmende Passsicherheit ist aktuell deutlich. Und: Der Außenstürmer bleibt eine Waffe – vor allem dann, wenn der HSV seinerseits auf schnelles Umschalten setzen kann.

Ein gefühlter Neuzugang ist Jairo Samperio – und er ist das Gegenstück zu Jatta: nahezu körperlos, dafür technisch stark und für die engen Räume der Türöffner über Außen. Der Spanier braucht noch ein paar Wochen, um die komplette Wettkampfhärte angenommen zu haben. Aber er ist auf einem sehr guten Weg und demonstrierte in den Tagen in Kitzbühel, dass es eine sehr gute Idee vom HSV gewesen sein könnte, seinen Vertrag zu verlängern.

Im Angriff werden drei zu zwei - und beide müssen zulegen

Ganz vorn sind nominell drei Spieler zu sehen: Rückkehrer Bobby Wood, Neuzugang Lukas Hinterseer – und eigentlich auch Manuel Wintzheimer. Letztgenannter wird aber gerade von Hecking zum Linksaußen umfunktioniert. Mit seiner sehr körperlichen, nimmermüden Art wusste Wintzheimer zu gefallen. Zudem sind seine schnörkellosen (zumeist scharf flach getretenen) Flanken mit seinem nominell schwächeren linken Fuß immer wieder gefährlich für den Gegner. Denn Wintzheimer provoziert damit Fehler beim Gegner. Eine falsche Berührung reicht und der Ball geht ins eigene Tor. Oder aber ein HSV fälscht den Ball ins gegnerische Tor ab. Das sieht nicht besonders filigran aus, ist dafür aber sehr effektiv - womit man Wintzheimers Spiel auch in Gänze gut beschreiben kann.

Unauffällig auf dem Platz und auffällig gut gelaunt drumherum präsentiert sich Bobby Wood. Der US-Amerikaner haut sich im Training immer wieder voll rein – er trifft nur nicht genug. Dass er den Elfer gegen Piräus verschossen hat – es wäre eigentlich nicht zu hoch zu hängen. Aber da Wood auch im Training bei Abschlussübungen nicht zu überzeugen wusste, wird er sich noch mächtig steigern müssen, wenn er auch auf dem Platz wieder gefallen will.

Getroffen, aber noch sehr viel Luft nach oben, hat Hinterseer. Der Österreicher gilt nicht als Sprinter, nicht als Stoßstürmer im klassischen Sinne. Er ist eher der Typ Torjäger. Er trifft auch dann, wenn er 89 Minuten so gut wie gar nicht am Spiel teilzunehmen wusste. Gegen Piräus hat es mit dem Tor geklappt, aber gegen Huddersfield war auch er verloren und für die Gegner aus Englands zweiter Liga kein Problem. Bei ihm gilt wie bei Wood: Da ist noch eine Menge Luft nach oben.

HSV ist im Soll - für ganz oben muss aber nachgebesert werden

Fazit: Der HSV ist nach einem stringent und planungsmäßig verlaufenen Trainingslager grundsätzlich im Soll - mehr dann auch nicht. In den nächsten Wochen muss man defensiv insbesondere bei Standards stabiler werden. Hecking und Co. müssen im Mittelfeldzentrum die beste Mischung aus defensiver Stärke und deutlich kreativerer Offensive finden, während ganz vorn der eiskalte Knipser noch fehlt.

Aktuell ist man ein gefühlter Vierter der Fünfter der Zweiten Liga, der bei optimalem Verlauf oben mitmischt. Aber, wie zu hören ist, ist der Kader so auch noch nicht fertig. Gut möglich, dass der HSV in allen Mannschaftsteilen noch mal in der Spitze (nicht für die Kaderbreite) nachbessert. Und das wäre meiner Meinung nach auch dringend nötig, um diese Saison wirklich ganz oben anzugreifen.

In diesem Sinne – jetzt bin ich tatsächlich für ein paar Tage weg. Mein Freund und Blogkollege Christian Hoch übernimmt. Und für alle, die sich wundern, weshalb ein Bochum-Reporter als HSV-Blogschreiber eingesetzt wird: Fragt ihn doch mal, wem seit frühester Kindheit sein Fußballerherz gehört...

In diesem Sinne, bis nächste Woche!

Scholle

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