Tobias Escher

1. Januar 2020

Kurze Zeit schien es so, als könne Dieter Hecking Stabilität nach Hamburg bringen. Doch mittlerweile sucht er händeringend nach dem passenden Spielsystem für seine Mannschaft. Wir setzen die Taktikbrille auf und blicken zurück auf die Hinrunde des Hamburger SV.

Seit Jahren strebt der Hamburger SV verzweifelt Kontinuität an. Im zweiten Zweitliga-Jahr soll endlich der Ausbruch aus dem Teufelskreis aus Rückschlägen, Entlassungen und Neuanfängen gelingen. Und tatsächlich: Zunächst schien der neue Trainer Dieter Hecking die lang ersehnte Lösung für das HSV-Problem gefunden zu haben. Er traf nicht nur abseits des Rasens den richtigen Ton, sondern fand auch auf dem Feld die richtige Taktik.

In der vergangenen Zweitliga-Saison war aus taktischer Sicht die einzige Konstante die Inkonstanz. Christian Titz und Hannes Wolf wechselten gefühlt jede Woche die taktische Formation. Unter Wolf veränderte der HSV häufig sogar von einem Spieltag auf den anderen seine Spielphilosophie. Im finalen Saisondrittel fehlte dem HSV nicht nur das mentale Selbstverständnis, sondern auch taktische Automatismen, um den Aufstieg zu schaffen.

Hecking ist ein gänzlich anderer Trainer. Er favorisiert feste Abläufe: Eine von Woche zu Woche möglichst unveränderte Startelf soll im möglichst gleichen taktischen System Räume und Gegner dominieren. Schon bei seinen vorherigen Stationen in Mönchengladbach, Wolfsburg oder Nürnberg war Hecking ein Mann der Kontinuität; das sollte er auch in Hamburg fortsetzen.

Defensives System

Wie sah Heckings System aus? Er ließ eine Mischung aus 4-2-3-1 und 4-3-3 spielen. Ein zentraler Mittelfeldspieler stieß im Pressing mit nach vorne, um den Gegner unter Druck zu setzen. Dahinter sollte das Mittelfeld den Zugriff suchen, eng am Mann und immer aggressiv. Die Hamburger Mannschaft variierte zwischen einem hohen Angriffspressing und einem nicht minder aggressiven Mittelfeldpressing.

Stabilität war das Ziel, und zwar in defensiver Hinsicht: Nach den Experimenten der vergangenen Saison wählte der HSV unter Hecking eine konservative Herangehensweise. Fünf, teilweise gar sechs Spieler sicherten zu jeder Zeit die eigenen Angriffe ab. Nach Ballverlusten ging der HSV über zu einem aggressiven Gegenpressing. Und funktionierte dies nicht, kehrten sie schnell in die eigene Ordnung zurück.

Der positivste Wert des HSV waren entsprechend die wenigen Gegentore: Bis zur Länderspiel-Pause im Oktober hatte der HSV nur sieben Gegentreffer in neun Partien kassiert. Fünfmal konnten sie die Null halten. Der HSV agierte aus einer stabilen Defensive. Das war ihnen in den vergangenen Jahren praktisch nie gelungen.

 

Adrian Fein als Mittelfeld-Motor

Offensiv war die Aufgabe für die Hamburger unverändert im Vergleich zur vergangenen Saison: Die meisten Gegner sehen den HSV als natürlichen Favoriten. Sie verschanzen sich in einer 4-4-1-1-Defensive in der eigenen Hälfte und überlassen dem HSV das Spiel. Der musste sich Lösungen einfallen lassen.

Unter Hecking haben die Spieler in dieser Hinsicht neue Tricks gelernt. In vielen Partien trat der HSV asymmetrisch auf: Während sich auf der linken Seite eher spielstarke Akteure ballten, versuchte der HSV über rechts, brachialer durchzubrechen. So sah man auf der halblinken Seite häufig Kombinationen zwischen dem einrückenden Linksaußen Sonny Kittel und dem ebenfalls ins Zentrum startenden Tim Leibold. Auf rechts hingegen startete in der ersten Saisonphase Bakary Jatta, der mit seinem Tempo hinter die Abwehr dribbeln wollte. Später spielte hier Martin Harnik, der häufiger in den Strafraum zog. So oder so: Der HSV hatte eine klare Aufteilung im Spiel, was Struktur in den Angriffsvortrag brachte.

Adrian Feins Rolle im zentralen Mittelfeld war entscheidend, dass beide Flügel eingesetzt werden konnten. Er wuchs schnell in die Rolle des spielmachenden Sechsers. Er ordnete das Spiel vor der Abwehr, sammelte Ballkontakte und verteilte die Kugel auf die beiden Seiten. Seine kurzen, aber effektiven Dribblings wurden schnell das Markenzeichen des Hamburger Ballbesitzspiels. Er war der Anker des Hamburger Spiels – und ein gewichtiger Grund, warum der HSV in vielen Partien mehr Ballbesitz hatte als der Gegner.

HSV wird ausrechenbar

Taktische Anpassungen nahm Hecking von Spiel zu Spiel meist nur in kleineren Dosen vor. Mal änderte er die Besetzung der Flügel, mal griff der HSV stärker über rechts als über links an. Die Eckpfeiler blieben aber meist: Mischung aus 4-2-3-1 und 4-3-3, hohe Grundstabilität, Fein als Sechser.

Die erste größere Anpassung wagte Hecking im Spitzenspiel gegen Stuttgart. Hamburgs passives 4-5-1-System entzauberte Tim Walters Versuch, Kombinationsfußball mit zahlreichen Positionsrochaden zu spielen. Der 6:2-Erfolg war die taktisch stärkste Leistung des Trainerteams.

Zugleich markierte der Sieg auch eine Zäsur. Die darauffolgenden Wochen liefen für den HSV nicht mehr optimal wie zuvor. Viele Gegner stellten sich auf den HSV-Stil ein: Sie agierten passiver, nahmen die Flügelspieler in enge Deckung und ließen die Hamburger ihren Ballbesitz in toten Zonen ausspielen. Fein wurde ein immer geringerer Faktor im Hamburger Spiel: Immer mehr Gegner deckten ihn eng, er selbst konnte die Form der ersten Wochen nicht bestätigen.

 

Hecking experimentiert

Seitdem befindet sich Hecking in einer Experimentierphase. Häufiger als zuvor nimmt er Wechsel in der Startelf vor. Selbst in der Formationswahl zeigte er sich flexibel. Gegen Dresden testete Hecking eine Mittelfeldraute aus, auch gegen Sandhausen wählte er in der zweiten Halbzeit diese Variante. Ab und an sah man beim HSV auch Zwei-Stürmer-Systeme, gerade wenn kurz vor Abpfiff ein Tor erzwungen werden sollte.

Das Problem: Keines der personellen wie taktischen Experimente verband Stabilität mit Genialität wie das System der ersten Spieltage. Dieses System war wiederum von vielen Gegnern entschlüsselt worden. Sie wussten: Es genügt, Fein in Manndeckung zu nehmen und die Flügel abzuschneiden.

Die häufigen personellen Wechsel wiederum beraubten dem HSV seiner zuvor so lebenswichtigen Stabilität. Individuelle Fehler sowie Schwächen gegen lange Bälle taten ihr Übriges, um die Defensive des Hamburger SV auszuhöhlen. Seit der Oktober-Länderspielpause gelang es dem HSV nicht mehr, eine Partie ohne Gegentor zu beenden. Da bringt es auch wenig, dass der HSV sich weiterhin pro Spiel eine handvoll Chancen erspielt.

Quo vadis, Hecking?

Die spannende Frage lautet nun: Kann Hecking die erwünschte Stabilität zum Hamburger SV zurückbringen? Manche Schwächen in der Hinrunde lagen nicht in seiner Hand. Dass Aaron Hunt sich verletzt oder dass Fein und Kittel ihre Form nicht halten konnten, kann kaum dem Trainer angelastet werden.

Fakt ist aber auch: Spätestens seit dem November hat Hecking in jedem Spiel was Neues gewagt, ohne eine wirklich funktionierende Variante präsentieren zu können. Das muss der Vorsatz für das neue Jahr sein: eine Stammelf finden, die sich endlich mal wieder einspielen kann. Nur so kann das große Ziel Aufstieg gemeistert werden.

FAQs

 
 

Über uns

Die Rautenperle - das ist ein Team aus jungen Medienschaffenden und Sportjournalisten mit großer Affinität zum HSV. Wir sind 24/7 bei den Rothosen am Ball und produzieren frischen Content für Rautenliebhaber.

Unser Ziel ist es, moderne, unabhängige Berichterstattung und attraktiven, journalistischen Content für junge und jung gebliebene HSV-Anhänger zu bieten. Wichtig ist uns dabei, eine neue Art des Sportjournalismus zu präsentieren: dynamisch, zeitgemäß, zielgruppengerecht. Weg von verstaubten Zeitungsspalten und immergleichen Phrasen.

Die Rautenperle ist aber nicht nur ein Ort, um sich zu informieren, sondern soll auch immer ein Ort des Austausches und des Miteinanders sein. Wir wollen eurer Leidenschaft einen Platz im Netz bieten: zum Diskutieren, zum Mitfiebern, zum Mitmachen.