Marcus Scholz

8. Dezember 2020

Er war der Einzige, der nicht in die Runde grüßte. Und das ist absolut untypisch für ihn – aber der Situation entsprechend durchaus nachvollziehbar. Denn es läuft derzeit überhaupt nicht für David Kinsombi. Oder besser formuliert: Noch immer nicht. Bis auf wenige Ausnahmen konnte der Mittelfeldspieler, der 2019 als Führungsspieler von Holstein Kiel zum HSV geholt worden war, beim HSV nie an das heranreichen, was man sich von ihm erwartet hatte. Vor seiner Verpflichtung frohlockte der damalige HSV-Sportchef Ralf Becker: „Wir sind extrem froh, dass wir einen Topspieler der 2. Bundesliga verpflichten konnten. Trotz seines jungen Alters trägt David in Kiel die Kapitänsbinde und gehört zu den absoluten Leistungsträgern des Teams. Wir sind zuversichtlich, dass er uns bei der Verwirklichung unserer sportlichen Ziele weiterhelfen wird.“ Dazu noch die bis heute unbestätigte Geschichte, dass der Spieler sogar 300.000 Euro seiner Ablösesumme selbst finanziert haben soll - und fertig war der neue HSV-Kapitän. Dachten zumindest alle. Allein es wurde nichts.

 

Stattdessen saß der Ex-Kapitän Holsten Kiels, der einen Wechsel im Winter selbst ausschließt, beim HSV zuletzt mehr auf der Bank, als dass er spielte. Richtig Stammspieler in Hamburg geworden ist er nie. Und trotz seiner zweifellos vorhandenen Fähigkeiten und seiner hohen Akzeptanz als Typ ist er dementsprechend noch weniger ein Führungsspieler beim HSV, der auch in der Kabine mal den Mund aufmachen kann, wenn es nötig wird. Dafür fehlt ihm schlichtweg de sportliche Legitimation. Leider – sage ich. Denn Kinsombi will. Er hat eine tadellose Einstellung im Training, gibt eigentlich immer Gas – aber es klappt nicht so, wie er es sich vorstellt. Oder besser: wie er es sich vorgestellt hatte, als er Ralf Becker und dem damaligen HSV-Trainer Hannes Wolf seine Zusage gab.

Ich habe es in älteren Blogs schon mehrfach geschrieben und bin davon grundsätzlich weiterhin überzeugt: Kinsombi ist von den sportlichen Qualitäten her einer der wenigen im HSV-Mittelfeld, der defensive UND offensive Qualitäten hat. In Bestform natürlich nur. Und genau da liegt das Problem, denn die hat er nie wirklich über einen längeren Zeitraum auf den Platz bekommen. Zudem ist er tendenziell eher ein Achter als en Sechser, soll heißen, er ist offensiv ein Stück weit effektiver als defensiv. Thioune hat das im Gegensatz zu seinen Vorgängern erkannt – aber er sieht andere auf der Position eben vorn. Und wenn man ehrlich ist, dann ist ein Jeremy Dudziak in der Verfassung der zweiten 45 Minuten gegen Hannover das wohl auch.

Kittel hat vorerst ausgespielt - viele Fans leider auch

Auf der Zehn ausgespielt hat Sonny Kittel vorerst. Sportlich enttäuschte er als Spielgestalter. Auch deshalb setzt ihn Thioune immer wieder auf die Außenbahn, wo er gegen Hannover nach zuvor schlechten Leistungen mit der saudummen Gelbroten seiner verkorksten Saison einen nächsten Tiefpunkt beifügte. Das Gespräch mit Thioune wird folgen, wie dieser uns heute sagte. „Wenn man seinen Jungs Vertrauen gibt, wünscht man sich, dass man es zurückgezahlt bekommt. Er hat jetzt zwei Fehler gemacht und verdient die Chance, es besser zu machen“, so Thioune, der dennoch klare Worte finden wird, da bin ich mir sicher. Wobei das Gespräch sicher nicht allzu nett sein wird, allerdings mit einem Mindestmaß an Niveau, das leider viele HSV-Anhänger vermissen lassen.

„Unterstützungs-Video des HSV für Sonny Kittel verkennt den Kern des Problems“ titelten heute die Kollegen von „90min.de“. Und damit verkannten vor allem sie das Kernproblem in dieser Geschichte. Denn auch wenn das „Best of Kittel“-Video den sportlichen Fauxpas nicht ausgleichen kann, hat niemand das Recht, den Spieler unter der Gürtellinie zu beleidigen. Jeder darf schimpfen und sauer sein. Vor allem die Mannschaftskollegen und der Trainer. Aber wenn ich höre, dass Kittel in den „sozialen“ Netzwerken nicht nur beschimpft, sondern weit unter der Gürtellinie beleidigt wird/wurde und  darüber hinaus sogar schriftlich bedroht wurde, dann frage ich mich, was für Intelligenz-befreite Arschlöcher es doch unter uns gibt.

Fakt ist: Niemand hat das Recht, jemanden unter der Gürtellinie zu beleidigen, geschweige denn, jemanden zu bedrohen. Im Gegenteil: Solche Anfeindungen sind unmenschlich und abartig. Sowas  gehört rechtlich verfolgt und anschließend bestraft. Auf jeden Fall sind solche Verfehlungen im Gegensatz zu den Minusleistungen Kittels nicht wiedergutzumachen. Und auf die Überschrift meiner Kollegen von „90min.de“ möchte ich entgegnen, dass nie einer das Kernproblem sein kann – sondern immer die vielen drumherum, die das zulassen.  Das ist auf dem Platz genauso wie drumherum. Von daher möchte ich an dieser Stelle mit meinen Mitteln (wenn sie auch noch so klein sein mögen) damit anfangen. Ich fordere alle auf, diese Unmenschlichkeiten nicht nur selbst zu unterlassen, sondern mit allen Euren Mitteln gegen sie vorzugehen, wenn Ihr sie woanders erkennt. Haltet nicht den Mund, schaut nicht weg, sondern helft dabei, die Welt ein Stück weit besser zu machen.

Mannschaft muss intern Tacheles reden

Aber zurück zu dem Kern meines Blogs heute, der ein wenig an den gestrigen andockt. Dort habe ich geschrieben, dass Thioune diese Phase der Demaskierung seiner Spieler unbedingt dafür nutzen muss, um zu erkennen, auf wen er wirklich setzen kann. Denn neben dem Trainer ist in solchen Phasen immer auch die Mannschaft massiv gefragt. Auch dort muss ein Ruck durchgehen. Bestenfalls ergreift einer oder mehrere das Wort und spricht mal intern Tacheles. So, wie beim FC St. Pauli – nur besser. Denn wenn der Trainer erst fordern muss, dass sich die Mannschaft intern ausspricht, ist es fast schon zu spät. Richtig gute Mannschaften jedenfalls wehren den Anfängen und disziplinieren sich untereinander. Und wenn einer der Meinung ist, sich wichtiger als den Rest nehmen zu müssen, dann gibt es Feuer von den Kollegen.

So ist zumindest meine romantische und auf den Profifußball projiziert wohl auch etwas naive Meinung. So habe ich es anfangs beim HSV auch mitbekommen. Da gab es diese Wortführer in der Kabine, da wurde ein Mannschaftsabend angesetzt, wenn es mal besonders gut oder besonders schlecht lief.  Und wenn das nichts half, dann hat ein Bernd Hollerbach seinen Kollegen im Training schon gezeigt, woher das Sprichwort „Wer nicht hören will, muss fühlen“ stammt. Oder anders formuliert. Damals gab es diese Selbstreinigungsprozesse, die den Mannschaftsgeist stärkten und den HSV am Ende trotz vieler No-Name-Spieler und nominell besserer Mannschaften bis in die Champions League brachte. Die Frage ist nur: Gibt es diese initiativen Typen heute beim HSV?

 

Ich habe mich heute länger mit einem Kollegen darüber unterhalten. Und letztlich kamen wir auf nicht allzu viele Spieler, die das wohl hinbekämen. Aber es gibt sie zumindest wieder: Tom Mickel ist einer von diesen – auch aus seiner Reservistenrolle heraus. Toni Leistner demonstriert seinen Kollegen immer wieder, dass er sich körperlich für nichts zu schade ist und holt (fast) immer alles aus sich heraus. Er hätte trotz seiner miesen Bilanz (ein Sieg/vier Niederlagen) sicher vom Auftritt her und von seiner Erfahrung her das Potenzial, mal Tacheles zu sprechen. Ebenso Aaron Hunt, aber der will diese Rolle intern nicht und versucht sich allein über den Sport als Führungsspieler.

Womit ich zu meinem Hoffnungsträger komme: Simon Terodde. Denn der Torjäger ist auf dem Platz vorbildlich. Er ist zwar erst seit Sommer beim HSV, kann aber neben seinen persönlichen Erfolgen in der Zweiten Liga auf viel Erfahrung zurückgreifen und wurde auch deshalb als Führungsspieler geholt. Terodde demonstriert auf dem Platz, was es bedeutet, sportlich entscheidend zu sein, ohne sich wichtiger als die Kollegen zu nehmen. Zudem gibt er sich auch außerhalb des Platzes als echter Teamplayer. Er macht keinen Unterschied im Umgang mit jungen und älteren Spielern. Kaum einer könnte authentischer den unbedingten Willen und die uneingeschränkte Bereitschaft seiner Kollegen einfordern, für den HSV alles zu geben. Er kann besser als alle anderen fordern, dass alle bis zur letzten Sekunde wirklich alles – und vor allem sich – dem gemeinsamen Ziel unterordnen.

Terodde kann führen - wer noch?

Von daher hat der Trainer in dieser kleinen Krisenphase die Möglichkeit, seine Jungs auf Herz und Nieren zu prüfen, indem er genau beobachtet. Wie in den Vorwochen, als es besonders gut lief, wird er in den nächsten Wochen in dieser sportlich kritischen Phase erkennen können, wer im Kader sich zum Führungsspieler eignet und wer nur mitläuft. Er wird erkennen können, wen er mit Führung überlastet. Und er wird bei denen, die nicht zum Führungsspieler geeignet sind, erkennen können, ob sie zumindest bereit sind, dem gemeinsamen Ziel alles andere (und vor allem sich!) unterzuordnen.

Heute im Training war alles normal. Wobei, nicht ganz: Bobby Wood fehlte. Der Angreifer leidet unter Schmerzen im Bauchmuskelbereich und hat heute in beiden Einheiten pausiert. Der US-Amerikaner absolvierte individuelle Einheiten und soll morgen wieder einsteigen. Und das werde ich auch machen. In diesem Sinne, bis morgen!

Scholle

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