Dr. Olaf Ringelband

3. Dezember 2020

Als mich meine Rautenperle-Freunde Kevin und Scholle vor dieser Saison fragten, ob ich etwas aus psychologischer Sicht zur Situation des HSV sagen könne, habe ich im Juli dargestellt, wie die Leistung einer Mannschaft der Spiegel der Kultur einer Organisation (hier: des HSV) ist und inwiefern der Aufbau einer Höchstleistungskultur der Schlüssel zum Erfolg ist ein Kulturwandel beim HSV.

Neue Saison, neues Glück

Mit der neuen Saison schien es so, als hätte der HSV endlich die Weichen in Richtung Erfolg gestellt: mit Daniel Thioune hatte man einen Trainer gefunden, der kompetent, menschlich und authentisch ist, der die Akzeptanz der Mannschaft findet und konsequent nach dem Leistungsprinzip aufstellt. Auch wenn taktisch nicht alle seiner Entscheidungen nachvollziehbar waren, so gab ihm doch der Erfolg recht. Zudem hat der HSV - wie die letzten Jahre - das stärkste Team der zweiten Liga. Das stärkste Team? Ja, denn auch wenn viele in der Rautenperle-Community das anders sehen, glaube ich, dass im Großen und Ganzen der Marktwert von Spielern deren Leistungsvermögen widerspiegelt - und der HSV hat nach wie vor das teuerste Team der 2. Bundesliga.

 

Von daher schien die Strategie für den Wiederaufstieg schlüssig zu sein: ein starkes Team, ein guter Trainer, konsequente Umsetzung des Leistungsprinzips, Förderung junger Spieler, eine Achse erfahrener Spieler zur Stabilisierung und als i-Tüpfelchen noch die Verpflichtung eines Champions-League erfahrenen Torwarts.

Wie also ist der Absturz des HSV zu erklären? Was ist da schief gelaufen, wo doch zuerst alles nach Plan zu laufen schien? Tobias Escher hat in seiner hervorragenden Taktikanalyse davon gesprochen dass individuelle Fehler die Ursache für die Niederlage in Heidenheim waren. Oberflächlich gesehen stimmt das natürlich – ich glaube aber dass drei solche Patzer eine tieferliegende Ursache haben.

 

Die Kultur ist stärker als gute Pläne

Die Rautenperle-Autoren sowie die Rautenperle-Community haben zur Genüge auf die Fehler des HSV hingewiesen – angefangen bei offensichtlichen Fehlverpflichtungen (Gjasula), dem Festhalten an Spielern, die offensichtlich keine Leistung bringen (Wood), der fehlenden Sicherheit bei Standards (Ecken!), der fehlenden Fitness (denn das ist die naheliegende Erklärung für den Leistungsabfall jeweils in der zweiten Halbzeit), dem fehlenden Kampfeswillen. Aber all das sind meines Erachtens nur Symptome für ein tieferliegendes Problem.

In der Organisationspsychologie gibt es den schönen Ausspruch: „culture eats strategy for breakfast“ – also sinngemäß: „die Kultur einer Organisation ist stärker als alle Strategien und guten Absichten“.

 

Bayern als Beispiel für Hochleistungskultur

„Kultur“ ist die Summe aller (weitgehend unbewussten) Überzeugungen und Glaubenssätze in einer Organisation. Die Kultur ist weitgehend unabhängig von den jeweiligen Personen, selbst wenn man Mannschaft, Trainer und den halben Vorstand auswechseln würde, würde sich die Kultur nicht ändern.

Den positiven Einfluss, den Kultur haben kann, sieht man am Beispiel Bayern München. Nachdem Kovac entlassen wurde, holte man mit Flick einen Trainer, der von vornherein nur als Zwischenlösung gedacht war. Zudem befand sich der Verein in einer Übergangsphase, galt das Team doch als überaltert und bestand einerseits aus Spielern jenseits der 30, die ihren Höhepunkt bereits überschritten hatten, und andererseits aus jungen Spielern, die noch nicht reif genug waren. Es zeigte sich aber, dass Flick (anders vermutlich als Kovac) mit seiner authentischen, zugewandten Art, die Akzeptanz der Spieler fand und so die Mannschaft stabilisierte. An der Situation der Mannschaft (teils zu jung, teils zu alt) hat sich jedoch nichts geändert, erschwerend ist auch noch ein wichtiger Spieler (Kimmich) ausgefallen. Zudem ist Flick taktisch alles andere als ein Meistertrainer, die hochstehende Verteidigung erweist sich immer wieder als Schwachstelle im Spiel. Trotz dieser ganzen Defizite gewinnen die Bayern fast jedes Spiel – wieso? Ich behaupte: nicht nur weil Bayern starke Einzelspieler wie Lewandowski hat, sondern weil es im Verein eine Kultur der Leistung gibt, die in kritischen Situationen bewirkt, dass die Mannschaft trotz aller Widrigkeiten gewinnen will, gerade dann, wenn es schwierig wird.

Guter Trainer – toxische Kultur

Ich kann und will mir kein Urteil oder gar eine psychologische Einschätzung über Daniel Thioune erlauben, da ich ihn nur aus TV-Interviews kenne, aber auf mich macht er den Eindruck eines selbstbewussten, authentischen, selbstreflektierten und kompetenten Trainers. Doch trotz guter Voraussetzungen und bester Absichten wurde er (und die Mannschaft) von der vorhandenen HSV-Kultur der Minderleistung eingeholt.

 

Ich schrieb im Juli nachdem die Verpflichtung von Thioune verkündet wurde:

Das heißt, auch wenn Thioune klare Vorstellungen einer neuen Ausrichtung des Vereins hat, besteht das Risiko, dass die vorhandene Kultur stärker ist und ihn früher oder später einfängt. Thioune allein wird die Kultur des Vereins nicht ändern können, erst wenn alle Führungskräfte des HSV sich ihrer Rolle in einem solchen Veränderungsprozess bewusst sind und aktiv daran mitarbeiten, wird Thioune erfolgreich sein können.

Alle Menschen haben ein tief sitzendes Bedürfnis, sich in eine Organisation oder Gruppe einzufügen. Wir haben deshalb feine Sensoren dafür, die Regeln einer Organisation wahrzunehmen und zu verinnerlichen. Wir beobachten, was die Vorgesetzten und Kollegen machen, wir hören den Geschichten zu, die erzählt werden.

Beim HSV heißt das: es werden die Geschichten über die guten alten Zeiten erzählt (Magath, Kaltz, Hrubesch, aber auch die Zeiten unter Pagelsdorf), und auch wie man jahrelang den drohenden Abstieg im letzten Moment verhindern konnte. In der Zeit vor dem Abstieg wurde so eine Kultur etabliert, die man beschreiben kann als „wir sind der HSV, auch wenn wir nicht mehr ganz oben mitspielen, werden wir nie absteigen, egal, wie schlecht wir spielen“. Umso traumatischer war für den Verein die Erfahrung, dass nicht eine mythische Kraft den HSV vor dem Abstieg bewahrt hatte, sondern pures Glück.

 

Die Tatsache des Abstiegs hatte die toxische Kultur der letzten Jahre in der ersten Liga jedoch nicht revidiert, es wurde weiterhin – auch offen ausgesprochen – die Überzeugung kultiviert, dass der HSV eigentlich in die Bundesliga gehört und der Abstieg nur ein kleiner Unfall war. Das bewirkte bei der Mannschaft einerseits ein gehöriges Selbstvertrauen (immerhin spielte man in der zweiten Liga oben mit), andererseits wird die Kultur nicht nur aus Geschichten geformt, sondern auch durch das Verhalten der Spitze einer Organisation; die Kultur wird nämlich von oben nach unten geformt. Wenn das Verhalten und die Äußerungen der Führung nicht zum verkündeten Anspruch passen, erzeugt das in der Mannschaft früher oder später Verunsicherung.

Man mag über Bayern München denken, was man will – aber die Spitze (Hoeneß, aber auch Rummenigge als dessen Nachfolger) macht nach innen und außen nicht nur deutlich, wo sie den Verein sieht (natürlich ganz oben), sondern sie lebt diesen Anspruch auch vor.

All das sehe ich beim HSV nicht, und Thioune hat sich aus meiner Sicht nach wenigen Wochen von der Kultur der Minderleistung beim HSV anstecken lassen: Nach den ersten Rückschlägen stellte er sich entschuldigend vor die Mannschaft, man sei noch im Aufbau, man könne nicht erwarten, dass der HSV jedes Spiel gewinne. Warum eigentlich nicht? Mit dem teuersten Kader der zweiten Liga, einem guten Trainer und dem notwendigen wirtschaftlichen Druck, aufsteigen zu müssen, muss man zumindest jedes Spiel gewinnen wollen.

Aufbau einer Höchstleistungskultur beim HSV

Auch wenn ich vieles wiederhole, was ich in meinem Beitrag im Juli dieses Jahres schrieb: die Kultur lässt sich nur von oben nach unten ändern. Anders als manche hier im Forum halte ich nichts davon, jetzt die Ablösung von Jansen, Bolt oder gar Thioune zu fordern, denn dadurch würde sich nichts an der Kultur ändern.

Jedoch sollte sich die gesamte Führungsmannschaft des Vereins – angefangen beim Vorstand bis hin zum Trainer und „Führungsspielern“ fragen, wie sie durch ihr Verhalten zum Entstehen einer Höchstleistungskultur beitragen kann. Dazu gehören auch demonstrative Handlungen (z.B.: Trennung von Mitarbeitern, die den Leistungsgedanken nicht mittragen; freiwillige Aktivitäten der Mitarbeiter in der Geschäftsstelle; Intensivierung des Trainings; Selbstverpflichtung aller Mitarbeiter zur Höchstleistung), die wichtigste Stellschraube ist aber die Erkenntnis der Führungsmannschaft, dass alle gemeinsam daran mitarbeiten müssen, eine solche Kultur aufzubauen.

Noch ist es nicht zu spät, das Ruder herumzureißen, denn sowohl Trainer als auch Mannschaft haben zu Beginn der Saison gezeigt, dass sie wollen und können. Jetzt ist die Führungsmannschaft des gesamten Vereins gefordert, den Kulturwandel voranzutreiben.

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