Marcus Scholz

2. Juni 2020

Natürlich war es überraschend. Von daher konnte Dieter Hecking mit seiner Antwort „weil ich es eben so entschieden habe“ und dass es eine ganz normale Maßnahme gewesen sei nicht wirklich Abhilfe leisten. Im Gegenteil: Auch der HSV-Coach wusste schon beim Fällen seiner Entscheidung, dass der Wechsel von Daniel Heuer Fernandes am Sonntag zu Julian Pollersbeck als neue Nummer eins für Aufsehen sorgen würde. Und selbst heute, also zwei Tage nach dem 3:2-Erfolg gegen den SV Wehen Wiesbaden, ist Pollersbeck noch Thema. Ich werde seit Sonntag ununterbrochen gefragt, was zu dieser Entscheidung geführt haben könnte. Und auch bei uns im Blog wird das Thema noch immer diskutiert. Selbst unsere Frage der Woche dreht sich um Pollersbeck - wenn auch im Zusammenhang mit den anderen Wechseln, die Hecking vorgenommen hatte. Und, Achtung Spoiler: Mir fällt die Erklärung dafür nicht einmal schwer. Ganz im Gegenteil. Ich erachte den Torwartwechsel sogar als logisch und Notwendigkeit, wenn man im Saisonendspurt nicht jedes Spiel mit dem selben Handicap starten will.

Denn inzwischen weiß wirklich jeder Gegner, der über einen oder mehrere Kopfballspezialisten verfügt, dass man mit dem simpelsten aller Mittel (mit hohen Bällen in den Sechzehner) nahezu jedes Spiel gegen den HSV gewinnen kann. Dass alle Zweitligisten auch in den Spielen punkten können, in denen der HSV klar besser ist, das hatten zuletzt Fürth, Bielefeld und Stuttgart bewiesen. Gemeinsamkeit: In allen drei Spielen wurde der HSV durch Standards um die Siege bzw. sogar um die Punkte in Gänze gebracht. Auch deshalb standen am Sonntag in der 88. Minute alle Spieler auf der Tribüne, Sportvorstand Jonas Boldt in der Loge und selbst die Analysten bei uns oben auf der Pressetribüne von ihren Plätzen auf und bejubelten Pollersbeck, als dieser bei einem hohen Ball erfolgreich dazwischen gegangen war und den Ball weit weggefaustet hatte. „Ja, Mann! Genau so“, schallte es vom Spielfeldrand. Es wurde deutlich, was sportlich vermisst worden war. Denn neben den sieben Zentimetern mehr Körpergröße bot 1,95-Meter-Mann Pollersbeck nach Anlaufschwierigkeiten das, was Hecking sich von Ewerton erhofft hatte - was er aber nicht bekommen hat und auch nicht bekommen wird: Defensive Qualität bei hohen Bällen.

Pollersbeck hat genau das, was Hecking sucht

Wobei es das allein definitiv noch nicht ist. Daniel Heuer Fernandes beispielsweise ist deutlich lauter in den Anweisungen von hinten heraus, was man von einem guten Torwart auch so erwartet. Pollersbeck indes ist deutlich leiser, was nicht erst der heutige Torwarttrainer Kay Rabe gern ändern würde. Aber es ist halt Pollersbecks Naturell auf dem Platz - und gerade dieses Naturell an sich ist in der noch jungen Karriere des Julian P. bislang immer wieder und in allen Bereichen entscheidend gewesen. Sowohl im Guten wie im Negativen. Von unprofessioneller Berufsauffassung bis hin zu trainingsfoul und Gängertyp musste sich der heute 25-Jährige schon einiges in seiner Zeit beim HSV nachsagen lassen.

Selbst sein Entdecker bzw. Hauptförderer Gerry Ehrmann hatte in einem viel beachteten Interview gesagt, (Achtung, etwas überspitzt formuliert:) dass Pollersbeck eine faule Sau sei. Er ließ kein gutes Haar an der Einstellung des damals gerade frisch gebackenen U21-Europameisters, der beim HSV als Hoffnungsträger gestartet seinen Platz als Nummer eins gerade das erste Mal verloren hatte. „Polle hatte ein paar Anlaufschwierigkeiten beim HSV. Es war eine harte Zeit, er musste sich da rausbeißen. Das hat er jetzt getan. Dass er gute Grundanlagen hat, ist klar“, erinnerte sich der ehemalige Sportchef Jens Todt heute bei meinen alten Freunden und Kollegen vom Hamburger Abendblatt.

 

Und damit trifft es Todt recht gut. Denn Pollersbeck hatte versucht, sich so zu präsentieren, wie er war. Immer volksnah, recht extrovertiert, was sich in vielen (auch einigen unüberlegten) Tweets, Instagram- und Facebook-Posts widerspiegelte. Unter anderem einmal ein Post aus der Nacht vom Pizzabäcker. Und das kam nicht bei jedem Trainer gut an. Im Gegenteil. Plötzlich wurde aus dem außergewöhnlich talentierten Jung-Nationalkeeper, dem selbst „Titan“ Oliver Kahn ob seiner neuartigen Auffassung vom Torwartspiel eine Weltkarriere zutraute, ein Naivling mit unprofessioneller Einstellung. Leider wehrte Pollersbeck sich nicht nur nicht, sondern er rutschte auch sportlich mit dem HSV in eine enttäuschende Phase. Dass man in dieser Phase von ihm verlangte, die Spiele zu retten, in denen andere hoch bezahlte, erfahrene Führungsspieler nicht mehr funktionierten - das war zu viel. Oder anderes formuliert: Das Gesamtkonstrukt stimmte nicht mehr. Pollersbeck ging unter.

Fernandes tritt nicht selbstbewusst genug auf

So ähnlich, wie es jetzt auch bei Heuer Fernandes, der mannschaftsintern einen extrem guten Ruf genießt, der Fall war. Heuer Fernandes spielte nicht einmal übermäßig schlecht. Er rettete nur nicht, was anderen verbockten und ich weiß nicht, wie oft ich den Satz als Beurteilung hören musste „der Heuer Fernandes gewinnt dir aber auch kein Spiel“. Was bislang tatsächlich in den meisten Spielen gestimmt hat. Dennoch ist Heuer Fernandes der Typ Mitspieler, den jeder gern im Team hat. Der Deutsch-Portugiese gilt als beliebt und als fleißiger, loyaler Teamkamerad, für den die Kollegen jederzeit den Extrameter laufen würden, weil er es auf der anderen Seite auch für sie machen würde. Das Einzige, was Heuer Fernandes fehlt, ist die Selbstsicherheit, einer der besten Keeper der Liga sein zu können. Ihm fehlt ein wenig „positive Arroganz“. Zum einen, weil es wohl auch nicht realistisch ist. Zum anderen, weil er dieses Extrovertierte nicht in sich hat.

Heuer Fernandes ist einfach kein durchgeknallter Keeper, der sich für den Besten der Welt hält. Anders Pollersbeck: Der strahlte selbst als Nummer drei noch aus, dass er überzeugt davon ist, der beste und talentierteste Keeper zumindest beim HSV zu sein. Und genau dieses Selbstverständnis, dieses Selbstvertrauen brauchten Trainer Dieter Hecking und Co. in dieser wackeligen Phase der Saison zunehmend. Pollersbeck sollte der Mannschaft Sicherheit geben, die andere der Mannschaft nicht geben konnten. Meine Theorie ist, dass Pollersbeck sogar schon im Winter beste Chancen gehabt hätte, die Nummer eins zu werden. Wenn er sich nicht in der Vorbereitung gleich zu Beginn wieder verletzt hätte und wochenlang ausgefallen wäre. Auch deshalb hatte Hecking den jungen Keeper schon in der Hinrunde gelobt, während er ihn parallel immer wieder auf die Tribüne setzte.

Apropos: Ich wurde gefragt, weshalb am Sonntag nicht Heuer Fernandes sondern Tom Mickel auf der Bank saß. Und auch hier ist die Antwort recht einfach: Weil man weiß, was man an Mickel hat. „Der HSV hat drei wirklich gute Torhüter. Du kannst jeden sofort reinstellen“, sagte Todt heute und traf es damit erneut sehr gut. Und nachdem Heuer Fernandes gerade erst erfahren hatte, dass er als Nummer eins nicht mehr gesetzt ist sondern ersetzt wird, hat Hecking ihm sogar einen Gefallen getan, ihm ein paar Tage zum Verdauen mitzugeben. Zudem hat der HSV mit Mickel einfach eine Nummer zwei, die von außen noch einmal einen Unterschied in Sachen Unterstützung von außen machen kann und die im Falle einer Einwechslung einfach zuverlässig ist.

Pollersbeck hat seinen Einsatz gegen Kiel verdient

Wie die meisten von Euch wissen und wie ja auch nachzulesen ist, bin ich seit seiner Verpflichtung nie müde geworden, die besonderen Qualitäten bei Pollersbeck zu betonen. Er ist und bleibt für mich der talentierteste Keeper beim HSV. Sogar bundesweit halte ich ihn für einen der interessantesten Nachwuchskeeper überhaupt. Und er hat gelernt. Will man aus seiner langen Phase auf der Tribüne etwas Positives ziehen, dann die daraus erlernte Erfahrung. Ich wollte ihn beispielsweise heute gern zum Gespräch bekommen - was vor einem Jahr sicher drin gewesen wäre. Diesmal nicht.

Pollersbeck weiß, dass es nicht der Zeitpunkt ist, groß rumzuposaunen. Er weiß, dass er erst einmal liefern muss. So, wie am Sonntag, wo er die ersten 45 Minuten okay war und sogar einmal stark rettete. Vor allem aber wie in den zweiten 45 Minuten, in denen er schon andeutete, wie wichtig er für den HSV in Bestform sein kann. Auf jeden Fall aber hat sich Pollersbeck mit diesem Spiel auch für das Spiel gegen Kiel am kommenden Montag qualifiziert. Alles andere wäre für mich nicht mehr überraschend. Es wäre schlichtweg nicht nachvollziehbar. Ich hoffe einfach, dass er jetzt genau das Vertrauen bekommt, das zuvor Heuer Fernandes erfahren hat. Gleiches gilt übrigens für David Kinsombi, der mir auch unabhängig von seinen beiden Treffern richtig gut gefallen hat. Aber dazu an anderer Stelle mehr.

 

Wobei, zwei Themen habe ich dann doch noch. Zum einen ein Zitat von Jonas Boldt, das ich verstehen kann - wo ich aber absolut nicht nachvollziehen kann, weshalb er es jetzt sagt. „Die Jungs wollen alle, aber in Spielsituationen wie nach dem 2:2 gegen Wehen spüren sie auch die Last der letzten zehn Jahre des HSV auf ihren Schultern. Und das sieht man ihnen dann auch an“, sagte Boldt dem „Kicker“ und lieferte den Spielern meiner Meinung nach wieder nur ein Alibi, das man langsam mal als Relikt abtun sollte. Zumal es definitiv besser wäre, den HSV von heute für sich zu betrachten. Ohne Rückblicke in bessere Zeiten, ohne das Anheften eines Rucksackes für die Misserfolge der letzten Jahre. Denn auch heute gibt es genug Ansätze für Kritik. Auch in Sachen Kaderzusammenstellung, für die Boldt zuständig ist. Nein, es muss irgendwann Schluss sein mit Alibis. Und es muss gefordert werden dürfen, dass man aus der Mannschaft das maximal mögliche herauskitzelt. Denn das ist auch dieses Jahr nur in Teilen der Fall gewesen - es könnte aber die frustrierenden letzten Jahren auf Sicht wieder vergessen machen.

Wie schön: Selbst der DFB lernt dazu

Und dann noch ein Punkt, der mich wahnsinnig geärgert hat - der sich aber inhaltlich so gedreht hat, dass ich geneigt bin, dem DFB großes Lob auszusprechen. Denn die Neigung zur Bestrafung des Schalkers Weston McKennie, der Dortmunder Jadon Sancho und Achraf Hakimi oder anderen wegen ihrer Bekundungen gegen Rassismus ist entgegen erster Bekundungen wohl doch eher gering - auch wenn die Profis gegen Statuten verstoßen haben. „Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass der Kontrollausschuss das Thema mit Besonnenheit und Augenmaß behandeln wird“, sagte Hans E. Lorenz, der Vorsitzende des Sportgerichts des Deutschen Fußball-Bundes, heute. Selbst der Weltverband FIFA plädierte dafür, dass Solidaritätsgesten von Fußballern in Zusammenhang mit dem nach einem Polizeieinsatz gestorbenen Floyd ungestraft bleiben. In den Regeln des DFB heißt es, dass die Spieler keine Unterwäsche mit „politischen, religiösen oder persönlichen Slogans“ zeigen dürfen. Ein Sprecher der FIFA sagte, man solle sich bei der Anwendung der Regelndes „gesunden Menschenverstandes“ bedienen. Etwas, was ich sowohl beim DFB als auch der FIFA schon seehr lange nicht mehr erlebt habe.

In diesem Sinne, bis morgen! Da melde ich mich um 7.30 Uhr mit dem MorningCall wieder bei Euch und werde Euch am Nachmittag zusammen mit Kevin Eure auf YouTube gestellten Fragen im CommunityTalk beantworten. Ich freue mich schon darauf!

Bis morgen!

Scholle

 

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