Marcus Scholz

29. September 2019

Das sind die Einheiten, die am meisten Spaß machen! Bei Nieselregen auf schneller werdenden, weichem Rasen auf verkürztem Feld vier gegen vier mit vielen Zweikämpfen, Torabschlüssen und vor allem Kampf bis zum Umfallen. Die HSV-Profis, die gestern wenig oder gar nicht zum Einsatz gekommen waren, setzten die Einheit auch genau so um und sanken nach der Einheit entweder erschöpft zu Boden oder stemmten die Arme auf ihre Knie, um etwas Luft zu holen. „Gut so“, war auch Trainer Dieter Hecking nach der Spielersatz-Einheit heute Vormittag zufrieden. Sehr sogar. Nicht nur, aber insbesondere für Timo Letschert seien solche intensiven Einheiten wichtig, um wieder Vertrauen in den eigenen, lang verletzten Körper zu bekommen und die Wettkampfhärte wieder zu erlangen, so der HSV-Trainer im Anschluss. Denn gestern beim 2:2 in Regensburg sei noch zu erkennen gewesen, dass (nicht nur, aber auch) Letschert die Abstimmung mit seinen Mitspielern fehlte. Vor allem aber war zu erkennen, dass der HSV momentan ein großes Problem hat: Hohe Bälle vor bzw. in den eigenen Sechzehner.

Wie schon zu Saisonbeginn geriet der HSV auch gegen Regensburg immer wieder in Gefahr, wenn der Gegner mit hohen Bällen an oder in den Sechzehner operierte. Rick van Drongelen verlor dabei gefühlt jedes Kopfballduell. So auch das Kopfballduell vor dem Gegentreffer zum 2:2 für den SSV Jahn Regensburg. Und auch Torwart Daniel Heuer Fernandes hatte mit seinen Faustabwehren nicht immer die richtige Entscheidung getroffen. Zu sehen bei seiner verunglückten Faustabwehr vor dem 0:1. „Über die Faustabwehr kann man diskutieren“, so Hecking heute, „ob er den Ball fangen muss oder einfach weiter wegfausten. Der erste Reflex bei uns war: Den muss er besser wegfausten. Aber das war eine schwierige Entscheidung für ihn“, nahm der HSV-Coach heute seinen Keeper in Schutz. Hecking erzählte uns, dass er sich die Szene noch mal genauer mit Torwarttainer Kai Rabe angesehen habe. „Auch Kai hat gesagt, dass es ein ganz ekliger Ball gewesen ist“, so Hecking. Zumindest aber sei es sicher kein klarer Torwartfehler gewesen. Dennoch: unglücklich sah der HSV-Keeper dabei ebenso wie bei einigen anderen hohen Bällen zuvor und danach allemal aus.

Nach den starken Partien des Keepers gegen St. Pauli und vor allem auch Hannover 96 kann sicher niemand mehr behaupten, dass der HSV in Sachen Torwartwechsel zwingend einen Fehler gemacht hat. In den Spielen hat Heuer Fernandes gezeigt, dass er auf der Linie zu den Besseren seiner Zunft gehört. Aber das Problem bei hohen Bällen konnte er bislang nicht abstellen. Dieter Hecking erstickte heute zwar jede Torwartdiskussion im Keim („Die ist unnötig und nicht existent“). Dennoch wird diese Diskussion mit jeder unglücklichen Aktion der neuen Nummer eins unvermeidbar lauter. Auch Hecking weiß um die Gefahr. Natürlich sei es ein Problem, gab er zu, „wenn man Daniel so wie gestern 50 Prozent Beteiligung am Tor einräumen muss. Aber ich bin da kein Freund von, das ständig zum Thema zu machen. Das Tor alleine dem Torwart anzulasten, ist mir zu einfach. Das ist mir zu billig.“

Hecking stellt sich schützend vor Torhüter Heuer Fernandes

Der Trainer macht also, was ein guter Trainer in solchen Situationen machen muss: Er schützt seine Nummer eins und spricht ihm sein Vertrauen aus. Auch, weil der zumeist eher wenig beschäftigte HSV-Keeper insgesamt nur wenig Gelegenheit hat, seine Fährigkeiten unter Beweis zu stellen. Ganz klar. Vor allem aber, wenn man bedenkt, dass mit Julian Pollersbeck die letztjährige Nummer eins im Hintergrund weiter darauf hofft, in den HSV-Kasten zurückzukehren. Und diese Hoffnung nährt der ehemalige U21-Europameister aktuell mit starken Leistungen für die eigene U21. Hecking über Pollersbeck: „Julian braucht Spiele. Für ihn ist es wichtig, dass er spielt. Und er hat hier die Chance, kann sich hier im Training zeigen. Und da finde ich, dass er nach wie vor weiter daran arbeiten muss. Er hat aber zumindest verstanden, dass er aus seiner Komfortzone raus muss, wenn er Ansprüche stellen will." Deshalb habe Pollersbeck darauf gedrängt, Spiele in der U21 zu bekommen. Wir haben ihm freigestellt, ob er U21 spielt. Und er will spielen, Das bewerte ich positiv. Das zeigt mir, dass er es verstanden hat. Geschenkt kriegt er nichts, aber er kann sich da Selbstvertrauen holen.“ Mit dem zweiten gehaltenen Elfer im zweiten Spiel macht er das aktuell.

Aber die Problemkette bei hohen Bällen beginnt und endet längst nicht bei Heuer Fernandes. Im Gegenteil, sie beginnt für Hecking schon im defensiven Mittelfeld sowie in der Innenverteidigung. Dass wir ihn heute auf die Schwäche bei hohen Bällen ansprachen, war ihm zwar gar nicht so lieb. Aber der Trainer weiß, dass die nächsten Gegner die Spiele des HSV ebenso und noch genauer analysieren und dementsprechend diese Schwäche längst ausgemacht haben werden. Ob der HSV defensiv zu kopfballschwach ist? „Generell ist es schon so. Ohne die Gegner hier zu aufmerksam machen zu wollen, es ist im Moment eine Schwäche. Diese langen Bälle, gerade wenn zwei wuchtige, kopfballstarke Spieler vorn drin sind, die mit dem Körper arbeiten. Da müssen unsere Innenverteidiger noch zulegen. Ich finde, dass Gidi (Gideon Jung, Anm. d. Red.) das schon besser macht.“ Anders sehe es bei Rick van Drongelen aus. Insbesondere beim verlorenen Kopfballduell vor dem 2:2-Ausgleichstreffer hätte van Drongelen cleverer agieren und wegbleiben müssen, sagte Hecking heute. „Aber das ist eine Kritik, die er selbst weiß.“

 

Ebenso wie die fehlende Abstimmung mit seinem neuen Kompagnon Timo Letschert, der für Gideon Jung (muskuläre Probleme, wird morgen noch einmal untersucht) in der 79. Minute gekommen war. Letschert habe schnell gut ins Spiel gefunden, befand ein Kollege heute. Hecking sieht das anders, lässt hier aber zurecht noch mildernde Umstände gelten: „Er ist mit der Vorgeschichte gerade erst wieder drin. Das müssen wir uns gut angucken. Beim zweiten Gegentor war die Absprache mit ihm und Rick nicht gut.“ Dennoch sah Hecking mehr van Drongelen denn Letschert in der Verantwortung: "Rick darf da nicht hingehen, dadurch sehen sie dahinten alle schlecht aus. Wir haben da noch genug zu tun.“

Und damit meint der Trainer neben der Abstimmung vor allem auch das Kopfballspiel bzw. das Verteidigen hoher Bälle. Wen also dafür aufstellen? Kyriakos Papadopoulos kann das - ist aber zum einen zu langsam, wie Hecking sagte. Zum anderen fällt er aktuell noch mit einer Wadenverhärtung aus. Letschert braucht seinerseits noch (Spiel-)Zeit, um sich einzufinden. Und Ewerton, der im gesunden Zustand eine absolute Topbesetzung wäre, ist noch nicht wieder im Mannschaftstraining. Vor allem ist er seit seiner Verpflichtung noch nie über einen längeren Zeitraum gesund gewesen, um sich überhaupt für die Startelf empfehlen zu können. Bleibt aber noch einer: Jonas David. Der Youngster hat seit Vorbereitungsbeginn im Sommer in den Einheiten große Fortschritte gemacht und mit seiner unbändig einsatzfreudigen, fleißigen Trainingsarbeit sportlich den Anspruch untermauert, ernster genommen zu werden. Und das wird er. „Jonas macht gerade einen großen Schritt. Er könnte sicher auch Innenverteidigung spielen“, so Hecking heute.

Hecking benennt ein großes Problem: Hohe Bälle vors eigene Tor

Dass der Trainer mit der Leistung seiner Mannschaft insgesamt nicht zufrieden war, hatte er deutlich gemacht. Allerdings war Hecking auch heute wieder darum bemüht, Überhöhungen zu vermeiden bzw. übertrieben harte Urteile anderer zu entkräften. So, wie er zuvor den aus seiner Sicht übertriebenen Lobeshymnen nichts abgewinnen konnte, wollte er nach dem Remis in Regensburg nicht alles so schlecht sehen, wie es vielerorts gemacht wurde. Stattdessen hatte er auch positive Ansätze ausgemacht. Unter anderem auch bei Josha Vagnoman, der von Spiel zu Spiel besser wird. „Wir spielen mit Rick und mit Adrian als 20-Jährige, dazu mit einem Josh, der erst 18 ist. Das darf man nicht vergessen“, so der HSV-Coach, ehe er lobte: „Josh beispielsweise hat gestern wieder gute Szenen gehabt, wo man sein Potenzial sehen kann. Aber das hängt immer auch von seinen Kameraden ab auf der Seite. Martin (Harnik, Anm. d. Red.) war leider nicht so im Spiel drin, dass wir da so eine gute rechte Seite hatten. Josh war da oft auf sich allein gestellt. Und das hat er gut gelöst.“

Ebenfalls Fakt ist, dass dieser HSV trotz der weniger überzeugenden Leistung gestern deutlich stabiler ist, als er es in der Vorsaison war. Letzte Serie wäre eine erste Halbzeit wie gestern in der zweiten Halbzeit nicht mehr aufgefangen worden. Damals zerfiel der HSV in solchen Situationen immer wieder in seine Einzelteile. Das ist diesmal anders. Behaupte ich. Wie zuletzt auch wurde der HSV in der zweiten Halbzeit nicht nur besser als in der ersten. Diesmal verstand man es sogar, das Spiel aus einem Rückstand in eine Führung zu drehen. Das ist eine Qualität, die auch der Ausgleich in der Schlussphase nicht wegwischen kann. „Wir hätten mit einem Sieg den Abstand auf Rang drei vergrößern können“, bilanzierte Adrian Fein nach der Partie in Regensburg. Er fügte aber auch unmittelbar dazu, dass man auf dem zweiten Platz stünde, was man ja auch erst einmal schaffen müsse.

 

Kurzum: Beim HSV scheint sportlich der Realismus Einzug zu halten. Und das gepaart mit dem Umstand, dass der Trainer die Probleme (diesmal das Kopfballspiel) immer wieder auch laut beim Namen nennt, macht mir schon große Hoffnung, dass sich diese Mannschaft in den nächsten Wochen noch weiter nach vorn entwicklen wird. Die individuellen Qualitäten sind da. Und auch, wenn es dabei zwischendurch kleinere „Rückschläge“ wie gegen Regensburg gibt (wenn man dieses 2:2 überhaupt so nennen darf), so wirkt die Mannschaft auch in sich geschlossen stark.

In diesem Sinne, bis morgen. Da meldet sich dann Tobias Escher an dieser Stelle und wird Euch aus taktischer Sicht erläutern, was in Regensburg entscheidend dafür war, dass der HSV nicht so gut ins Spiel hinein und nach dem Zwischenhoch und der Führung am Ende auch nicht ganz unversehrt heraus schaffte. Ich werde Euch wie immer schon um 7.30 Uhr mit dem MorningCall schnellstmöglich über alles das informieren, was über den HSV gesagt und geschrieben wird.

 

Bis dahin!

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