Marcus Scholz

23. Januar 2020

Der letzte Test vor toller Kulisse im ebenso alten wie charmanten Stadion an der Lohmühle, dazu Flutlicht – das konnte doch nur gut werden. Oder? Dazu noch ein neuer Stürmer aus der Ersten Bundesliga, der bereits seinen Medizincheck absolviert hat. Klingt, als sei der HSV genau sieben Tage vor dem ersten Zweitligaspiel 2020 am kommenden Donnerstag gegen den 1. FC Nürnberg bestens gerüstet. Dachte ich zumindest vor dem Spiel. Und ich lag sowas von daneben. Denn der HSV blamierte sich vor 5638 Zuschauern beim Regionalliga-Zweiten mit 2:5. „Wenn man beide Halbzeiten mit zwei, drei Mann weniger auf dem Platz in Unterzahl spielt“, schimpfte Trainer Dieter Hecking im Anschluss über mangelnden Einsatz einige seiner Spieler, „dann kann man nichts anderes erwarten.“ Und: „Fünf Gegentore bei einem Regionalligisten sind absolut nicht okay.“ Stimmt. Vor allem, wie man die Tore kassierte, dürfte noch einmal nachdenklich machen.

Bezeichnend: Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, da lag der HSV beim Regionalligisten in seiner Generalprobe schon mit 0:1 zurück. Dumm. Denn Bakery Jatta hatte den Ball im eigenen Sechzehner schon sicher, ehe er zu daddeln begann, einen Lübecker anschoss und der Abpraller direkt vor die Füße von Ahmet Arslan fiel. Kein Problem für den Ex-HSV-Profi, der aus sechs Metern einschob. Daniel Heuer Fernandes war zwar noch am Ball, konnte ihn aber nicht mehr abwehren. „Das Tor haben wir den Lübeckern geschenkt“, war Aaron Hunt nach Spielende sauer, „das darf so nicht passieren.“ Dennoch habe er im Abschluss das Gefühl gehabt, dass er und seine Kollegen das Spiel nach knapp 15 Minuten ganz gut im Griff hatten.

Weiter keine Balance aus Offensive und Defensive

Zumindest wirkte es, als habe das 0:1 einen Hallo-Wach-Effekt für den HSV gehabt, der überraschend mit Christoph Moritz als Rechtsverteidiger begann. Wobei, was die wenigsten wussten: Moritz hat auf der Position sogar schon Champions League gespielt. 2010 für den FC Schalke gegen Olympique Lyon. Aber davon war heute nicht allzu viel zu sehen. Zumal Moritz, wie auch der Rest des HSV, hier sehr hoch attackierte und seine Defensivarbeit dabei wie bei allen darunter litt.

Man suchte hier in Lübeck immer wieder die Offensive und erspielte sich so auch die eine oder andere Torchance – aber man war bei schnellen Gegenstößen einfach viel zu anfällig. Letztlich fehlte dem Regionalligisten in der ersten Halbzeit zwar (noch) die Qualität im Abschluss. Aber man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass es in der Zweiten Bundesliga deutlich gefährlicher werden würde. Zu gefährlich, behaupte ich. Und: Offensiv machte man zu wenig aus seinen Räumen.

Hunt war bemüht, Schaub schonte sich für die Offensive

Aaron Hunt, der neben Louis Schaub im Mittelfeld nach seiner Verletzung aus dem Dezember sein Comeback feierte, war sichtlich bemüht, aber in allem noch eine Nuance zu langsam. Der Kapitän arbeitete viel, nutzte die ersten 45 Minuten zu einer guten Konditionseinheit auf Wettkampfebene, während sich Schaub für die offensiveren Aktionen schonte und die Defensivarbeit nahezu komplett ausließ.

Dennoch war es der Neuzugang aus Köln, der den Ausgleichstreffer auflegte. Nachdem van Drongelen mit einer guten Kopfballchance (10.) noch scheiterte, Schaubs Schuss aus 17 Metern geblockt wurde (13.) und sein Freistoß aus 22 Metern (16.) knapp über das Tor strich, sah Schaub in der 26. Minute Hinterseer, der den Ausgleich besorgte. Einen abgefälschten Ball konnte der österreichische Neuzugang auf seinen Landsmann ablegen und der schob aus sechs Metern sicher ein. Das 1:1, das bis zur Halbzeit Bestand hatte.

Auch, weil Schiedsrichter Alexander Roppelt trotz vehementer Proteste der Heimkehrer Hecking und Bremser bei einem elfmeterwürdigen Foul an Hunt nicht auf Elfmeter entschied (35.). Aber eben auch, weil die Lübecker aus den Räumen, die sich ihnen bei Gegenstößen boten, (noch) nichts zu machen wussten.

Die Zweifel an Amaechis Qualität werden immer größer

Hecking wechselte in der Halbzeit komplett. Und er überraschte erneut. Statt Moritz rechts in der Viererkette war es jetzt Xavier Amaechi, der zuletzt durch seine körperliche Unterlegenheit und Defensivschwäche aufgefallen war, der als Linksverteidiger begann. Wobei ich das noch aus der Jugend kenne: Da wurden oftmals die Spieler in Tests als Verteidiger gebracht, die einfach zu zweikampfschwach sind. Warum? Um eben genau diese Zweikampfschwäche weg zu trainieren. Aber: Dieser Versuch sollte nicht nur nicht gelingen, sondern er ging komplett in die Hose. So, wie das gesamte Projekt Amaechi immer mehr zum Flop avanciert.

Aber: Amaechi war heute nicht allein, sondern nur einer von vielen Totalausfällen. Dass alles Training nicht zwingend zum Erfolg führen muss, wurde in der zweiten Halbzeit noch deutlicher. Bezeichnend das 2:1 für die Gastgeber. Einen schnellen Konter kann HSV-Keeper Tom Mickel mit viel Mühe noch über die Latte zum Eckball lenken. Aber dieser Eckball führt zum 2:1. Wieder ein Standard. Wobei in diesem Fall nicht ein verlorenes Kopfballduell entschied, sondern gleich die gesamte Abwehr pennte. Erst verlängert Adrian Fein den Ball am kurzen Pfosten ungewollt mit dem Oberschenkel an die Latte, dann pennt Bobby Wood beim Abpraller am zweiten Pfosten und lässt Lübecks Tim Weissmann den Ball über die Linie stochern (56.).

Noch bitterer: Der HSV fing sich gerade einmal drei Minuten später sogar das 1:3. Und das wieder nach einem Eckball, bei dem Lübecks Tommy Gruppe gleich mal höher als zwei HSV-Abwehrspieler (Ewerton und David) sprang und den Ball aus knapp zehn Metern einköpfte (59.).

Lerneffekt aus der Hinrunde? Nicht zu sehen...

Nein, das war hier und heute wirklich gar nichts, worauf man aufbauen kann. Im Gegenteil: Der HSV wiederholte seine Fehler und offenbarte genau die Schwächen, die man in der Hinrunde 2019 schon moniert hatte und die man in der Wintervorbereitung abzustellen gedachte. „Erst Jatta“, schimpfte Hecking in moderatem Ton, aber erkennbarer Verärgerung, „dann beim zweiten Tor muss Adrian Fein den Ball am kurzen Pfosten wegnehmen. Beim dritten Tor ist es die Zuteilung, da gehen wir nicht zum Kopfball hoch, das vierte Tor ist Jonas David und das fünfte Tor Fein – bumm! Damit habe ich alle genannt, die da mit drin hängen. Und so kannst Du auch gegen einen Regionalligisten schlecht aussehen.“

 

Ein Lerneffekt war hier heute tatsächlich nicht zu erkennen. Anders als gegen Basel hat hier heute nichts gestimmt. „Das ist eine Frage der Einstellung, wie man solche Spiele angeht“, so Hecking. Es sei eben die Kunst, Leistungen gegen Topteams wie Basel eben auch gegen Viertligisten zu zeigen. Und das sei „mal überhaupt nicht“ gelungen. Ob er die erhoffte Balance aus mutiger Offensive und stabiler Defensive bei seiner Mannschaft gesehen habe, wollte ich vom Trainer wissen. Und er antwortete ebenso kurz wie deutlich: „Nein.“ Dafür sei diese Schwäche einfach zu deutlich gewesen.

Heute ging beim HSV nahezu alles daneben. Bobby Wood traf zwar noch zum zwischenzeitlichen 2:4 (82.), aber das ist derart nebensächlich, dass ich es hier fast selbst vergessen hätte, zu erwähnen. Oder? Hecking: „Wenn ein Anssi Suhonen schon der beste Mann auf dem Platz ist, dann sagt das schon alles.“ Stimmt.

 

Fix: Pohjanpalo kommt auf Leihbasis bis Saisonende

Wobei es ja mit einem weiteren Neuen besser werden soll: Joel Pohjanpalo. Der finnische Angreifer kommt auf Leihbasis aus Leverkusen und absolvierte heute schon seinen Medizincheck im Hamburger UKE. Wie schnell sich der 25-jährige aber an seine neue Umgebung gewöhnt – und diese Umgebung sich an den neuen Angreifer, das ist offen. Denn der Finne war in den letzten zwei Jahren mehr verletzt als gesund, hat seinen letzten Einsatz am 26. Oktober gegen Werder Bremen gehabt – genau eine Minute lang. Davor musste er knapp 19 Monate aussetzen. Zu lang, als dass man von ihm eine Soforthilfe erwarten kann. Glaube ich. Allein ich kann mir nicht vorstellen, dass der HSV einen Spieler ohne Kaufoption leiht, der noch Wochen braucht, um wieder voll wettbewerbsfähig zu sein. Zumindest hoffe ich sehr, dass es anders ist und der Finne schnell helfen kann. Wobei: Schlechter in Form als seine neuen Mannschaftskameraden heute wird er wohl nicht einmal während seiner Verletzungspause gewesen sein...

In diesem Sinne, es gibt noch sehr viel zu tun. Und wenn diese Niederlage heute etwas Gutes hat, dann den Umstand, dass sie noch einmal zum Nachdenken anregt. „Einige Spieler haben sich vielleicht schon zu sicher gewähnt“, so Hecking, „aber das dürfte sich heute erledigt haben.“ Soll heißen: Alle sind in der Bringschuld. Ausnahmslos.

Bis morgen! Da wird um 10 Uhr am Volksparkstadion trainiert.

Scholle

 

Statistik:

HSV 1. HZ: Heuer Fernandes - Moritz, Letschert, van Drongelen, Leibold - Jung - Schaub, Hunt - Narey, Hinterseer, Jatta

HSV 2. HZ: Mickel - Beyer, David, Ewerton, Amaechi - Fein - Kinsombi, Dudziak - Suhonen, Wood, Kittel

Tore: 1:0 Arslan (5.), 1:1 Hinterseer (25.), 2:1 Weissmann (57.), 3:1 Grupe (60.), 4:1 Parduhn (77.), 4:2 Wood (82.), 5:2 Erkilinch (84.)

Zuschauer: 5.638

FAQs

 
 

Über uns

Die Rautenperle - das ist ein Team aus jungen Medienschaffenden und Sportjournalisten mit großer Affinität zum HSV. Wir sind 24/7 bei den Rothosen am Ball und produzieren frischen Content für Rautenliebhaber.

Unser Ziel ist es, moderne, unabhängige Berichterstattung und attraktiven, journalistischen Content für junge und jung gebliebene HSV-Anhänger zu bieten. Wichtig ist uns dabei, eine neue Art des Sportjournalismus zu präsentieren: dynamisch, zeitgemäß, zielgruppengerecht. Weg von verstaubten Zeitungsspalten und immergleichen Phrasen.

Die Rautenperle ist aber nicht nur ein Ort, um sich zu informieren, sondern soll auch immer ein Ort des Austausches und des Miteinanders sein. Wir wollen eurer Leidenschaft einen Platz im Netz bieten: zum Diskutieren, zum Mitfiebern, zum Mitmachen.