Tobias Escher

4. November 2019

Taktikanalysen sind meist wie die Spiele, die sie beschreiben. War das Spiel ein wildes Duell, fehlt auch der Analyse manches Mal die Struktur. Dominiert eine Mannschaft das Geschehen, neigt man wiederum dazu, die Taktik dieser Mannschaft in den Vordergrund zu stellen und den Gegner auszublenden. Bei der Taktikanalyse der Partie zwischen dem Hamburger SV und Wehen Wiesbaden muss ich wiederum aufpassen – dass sie nicht so behäbig wird und vor sich hin plätschert wie das Spiel selbst.

Nein, es war kein Hochgenuss, den der Hamburger SV beim Abstiegskandidaten bot. Wie sich die Partie abspielen wird, war bereits nach wenigen Minuten klar. Wehen Wiesbaden zog sich vom Anpfiff weg an den eigenen Strafraum zurück. Das Team von Trainer Rüdiger Rehm stellte sich in einer defensiven 5-4-1-Formation auf. Das Vierer-Mittelfeld postierte sich kurz hinter der Mittellinie, die Abwehr kurz vor dem eigenen Strafraum. Wiesbadens großes Ziel lautete es, möglichst lange hinten die Null stehen zu lassen.

Gute Raumaufteilung, schlechte Entscheidungen

Zumindest in der ersten Halbzeit ging das Ziel auf. Dem Hamburger SV gelang es nur äußerst selten, das tiefe Konstrukt des Gegners zu knacken. Dabei waren die Voraussetzungen nicht schlecht: Trainer Dieter Hecking hatte seine Elf in einem 4-3-3-System auf das Feld geschickt. Jeremy Dudziak und David Kinsombi übernahmen die Achter-Rollen. Sie sollten sich zwischen den gegnerischen Linien anbieten. Die Flügelstürmer Sonny Kittel und Bakary Jatta sorgten auf den Flügeln für Breite.

Auf dem Papier war die Hamburger Spielaufteilung passend gewählt: Kinsombi und Dudziak besetzten den Zwischenlinienraum. Das sollte die gegnerischen Innenverteidiger zwingen, die Kette zu verlassen. Sobald ein Spieler die Fünferkette verlässt, müssen sich die restlichen vier Spieler zusammenrücken. Das schafft wiederum Räume auf den Flügeln. Und wenn der Gegner Kinsombi und Dudziak nicht stört, können sie den jeweils anderen anspielen und mit Geschwindigkeit auf die Abwehrkette zulaufen.

Das Problem war nicht die Idee. Sondern die Ausführung. Der gesamte Auftritt des HSV war behäbig. Das fing bei den Innenverteidigern an, die häufig den richtigen Zeitpunkt für das Zuspiel ins Mittelfeld verpassten. Rick van Drongelen erkannte zwar den großen freien Raum vor sich und dribbelte ihn auch einige Male an. Doch für ihn eher untypische technische Fehler machten diese Ansätze zunichte.

Kinsombi und Dudziak wiederum harmonierten nicht miteinander. Nur selten spielten sie miteinander, häufig verließen sie zu früh oder zu spät ihre Positionen. Der HSV konnte die Präsenz zwischen den eigenen Linien selten bis nie ausspielen. Stattdessen mussten sie früh den Pass auf die Flügel wählen. Dort konnte Wehen Wiesbaden aber leicht Überzahlen schaffen und die Hamburger Flügelzange aus dem Spiel nehmen.

Auch defensiv zeigte sich der HSV fehleranfällig. Wehen Wiesbadens Offensivplan war ebenso simpel wie ihre Defensivtaktik: Mit langen Bällen sollten die Außenstürmer geschickt werden. Dieser Plan ging in manchen Situationen auf, weil die Hamburger lange Bälle schlecht verteidigten. So erlangten die Hausherren trotz totaldefensiver Taktik ein halbwegs ausgeglichenes Chancenverhältnis.

Taktische Aufstellung SVWW-HSV

 

Das Tor gibt Selbstvertrauen

Das Positionsspiel der Hamburger im Ballbesitz funktionierte nicht. Wenigstens konnten sie Raumgewinn erzielen, sobald Wehen Wiesbaden doch einmal im Pressing vorrückte. Wenn deren Außenverteidiger vorschossen und Wehen den HSV im 3-4-3 störte, fanden sie die freien Flügel. Das passierte jedoch nur selten, auch weil Wehen Wiesbaden nur selten dem HSV den Gefallen tat, vorzurücken.

Nach der Pause veränderte der HSV taktisch wenig. Dafür fruchtete die Pausenansprache von Hecking anscheinend: Die Hamburger Spieler traten wesentlich konzentrierter auf. Ein etwas höhere Passgenauigkeit und eine schnellere Ballzirkulation genügten, um die Flügel der Wiesbadener offenzulegen. Das 1:0 war die logische Schlussfolgerung (48.).

Zunächst reagierte Wehen Wiesbaden auf das Gegentor, indem sie kollektiv weiter vorrückten. Die Rote Karte gegen Stefan Aigner (57.) beendete diese kurze Phase des Wiesbadener Pressings. Zunächst zogen sie sich in einem 5-4-0 an den eigenen Strafraum zurück, ehe Trainer Rehm auf ein offensiveres 4-2-3 umstellte. Doch auch in dieser Variante gingen sie im Pressing nicht das letzte Risiko, das Schließen der Defensivräume hatte Vorrang.

Es war keine Überraschung, dass der HSV gegen einen derart defensiven Gegner mit der Führung im Rücken den Ball laufen ließ. Der HSV konnte den hohen Ballbesitz (72%!) aber nach der Pause endlich auch in Torgelegenheiten ummünzen. Abermals war die rechte Seite der Hamburger die Schokoladenseite. Kittel rückte nun häufiger ins Zentrum oder gar hinüber zu Jatta, der HSV nutzte damit die eigene Überzahl aus.

 

Blöd gelaufen

Das Spiel schien in Ruhe auszutrudeln. Kurz vor Schluss stellte Hecking mit der Einwechslung von Jonas David sogar noch auf eine Fünferkette um, damit der Sieg ja nicht mehr gefährdet wird. Und dann passierte es: Mit dem ersten Schuss in der zweiten Halbzeit gelang Wehen Wiesbaden der Ausgleichstreffer. Für eine Schlussoffensive war der HSV nach den defensiven Wechseln von Hecking schlecht eingestellt. Es blieb beim 1:1.

Der HSV verschenkte mit dem lahmarschigen Auftritt zwei Punkte. Man kann es nun auf die missglückte Abwehraktion in der Nachspielzeit schieben, die zum unnötigen Gegentor führte. Man kann aber auch kritisch anmerken, dass der HSV gegen zehn Wiesbadener durchaus vorher hätte den Sack zumachen können. Trotz (oder gerade wegen?) siebzig Prozent Ballbesitz agierte der HSV behäbig, suchte nur selten den Weg zwischen die gegnerischen Linien. Dass sie über neunzig Minuten gegen einen totaldefensiven Gegner nur ein Tor erzielten, ebnete den Weg für das Comeback des Gegners.

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