Marcus Scholz

17. Mai 2019

Er behielt in der Stunde der großen Niederlage Haltung, das muss man Hannes Wolf lassen. Denn während Sportvorstand Ralf Becker knapp anderthalb Meter von dem Noch-HSV-Trainer entfernt dessen Aus nach dem Saisonende verkündete, wirke Wolf sehr ruhig. Er wirkte gefasst. Er wusste ja auch, was heute verkündet werden sollte. Man hatte es alles vorher so abgesprochen. „Hannes hatte darum gebeten, dass wir nicht erst in der kommenden sondern schon in dieser Woche eine Entscheidung fällen“, so Becker auf der Pressekonferenz vor dem letzten, inzwischen bedeutungslos gewordenen Punktspiel gegen den feststehenden Absteiger MSV Duisburg. Und diesem Wunsch habe der HSV jetzt entsprochen, so Becker, bevor er mitteilte, was eigentlich alle schon seit dem Ingolstadt-Spiel spätestens wussten: dass Wolf nicht über die Saison hinaus Trainer des HSV bleiben wird. „Der HSV ist ein fantastischer Verein“, antwortete Wolf zum Ende der etwas ungewöhnlich wirkenden Pressekonferenz auf die Frage, ob er vielleicht noch mal zum HSV zurückkehren wolle. Er habe sehr gern für den HSV gearbeitet, so Wolf einmal mehr lächelnd bei seiner Entlassung, um dann hinzuzufügen: „Aber: scheiße gelaufen.“ Stimmt.

Und das nicht nur für ihn. Auch Ralf Becker musste sich fragen lassen, warum der Absturz in der Rückrunde nicht gestoppt werden konnte. Ein Jahr, zwei Trainerentlassungen und den Aufstieg verpasst – so lautet die Bilanz der aktuellen HSV-Führung. Beckers Vorstandskollege Bernd Hoffmann hatte diesen Niedergang als „Versagen des Sportsystems“ bezeichnet und damit den Verantwortungsbereich von Becker betont.

 

Darauf angesprochen umschiffte der angeschossene Sportvorstand eine klare Antwort gekonnt und sprach davon, dass man sich intern super verstehe, er sich nicht aus der Verantwortung ausnehmen würde und dass man als Team zusammen gewinnen – und eben auch zusammen verlieren würde. Fakt aber ist: Gehen muss nur der Trainer, Hannes Wolf. Und natürlich ein paar Spieler, die am Sonntag tatsächlich nur intern verabschiedet werden. Becker und Hoffmann, die beiden obersten Verantwortlichen des HSV, werden sich unterdessen in der kommenden Woche dem wohl gesonnenen Aufsichtsrat noch einmal erklären, wie es zu dem verpassten Aufstieg kommen konnte. Voraussichtlich ohne Folgen.

Der Versuch, im Doppelpass den unverzeihlichen Fehler, Wolf vor dem entscheidenden Spiel in Paderborn „vielleicht“ entlassen zu haben, gelang nicht. Er wirkte auf mich fast schon beleidigend, da Wolf und Becker offenbar wirklich glaubten, dass man ihnen ihre Rechtfertigung abnehmen würde.  Aber wenigstens im Ansatz wurden schon erste Gründe genannt, die zum sportlichen Niedergang geführt hatten. Von Wolf, der davon sprach, den Kader in seiner Konstellation im Winter überschätzt zu haben. Man habe schon in der Hinrunde gesehen, dass das vorhandene Potenzial nur zu knappen Siegen reichen würde – aber eben nicht zu einem souveränen Marsch in die Aufstiegsränge.

Aaron Hunts Verletzung sowie das Fehlen von Hee Chan Hwang habe er unterschätzt und beide für die Rückrunde mehr eingeplant. Da beide aber länger ausfielen und Hwang sportlich enttäuschte, habe sich so ein Loch in der Offensive aufgetan, das man schon in der Hinrunde gesehen und moniert hatte. „Wir haben uns im letzten Drittel zu wenig Torchancen erspielt, was man im Torverhältnis auch deutlich erkennen kann“, so Wolf. Dieses „Offensivthema“ sei letztlich ein schwerwiegendes Manko gewesen, das er bis zum Schluss mit der Mannschaft nicht hätte auffangen können. Hinzu kamen viele individuelle Fehler in der Defensive - mit bekanntem Ergebnis.

Fazit: Diese Pressekonferenz war ebenso gut gedacht, wie letztlich bizarr. Immer wieder lächelte Wolf auf seine etwas gequält wirkende Art. Vor allem aber wirkte der HSV-Trainer befreit. Auch ihm hatte der Druck der letzten Monate zugesetzt. Dazu das Abweichen von der Jobgarantie seitens des Vorstandes und der tabellarische Absturz – „scheiße gelaufen“, so Wolf, ehe er nicht ausschließen wollte, irgendwann noch mal beim HSV Trainer zu werden und dafür von vielen im Raum  Anwesenden – Becker inklusive – ein nettes Lächeln entgegengebracht bekam. Es war alles wie bei einer netten Verabschiedung. Man trennt sich im Guten, was beim HSV ja auch nicht allzu oft vorkommt.

Aber dass der HSV gerade krachend das Minimalziel verpasst hatte geriet fast ein wenig in den Hintergrund.  Aber auch nur fast. Denn bei der Fehleranalyse der aktuellen Saison war zuletzt wie heute auch immer wieder der Begriff „Druck“ und das junge Durchschnittsalter der Mannschaft gefallen. Man habe diesem Druck letztlich nicht standhalten können, so die Lehre, die Becker zog. Und dann kam, was ich so bizarr an dieser Veranstaltung fand: Denn anstatt aus den eigenen Schlüssen zu lernen und die Fehler zu vermeiden, wurde der immergleiche Fehler wieder gemacht: Es wurde nur Sekunden nach der Analyse des zu hohen Drucks für diese junge Mannschaft gleich wieder das Ziel Wiederaufstieg für die kommende Saison ausgerufen.

Also das Maximum...! Selbst auf Nachfrage, weshalb man sich diesen Druck denn schon heute wieder aufbürdet, blieb Becker dabei, dass es nicht anders geht. Er zog den Joker, den hier bislang noch alle Gescheiterten gezogen hatten und schob die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit als Alibi vor. Er könne ja nicht den fünften Rang als Ziel ausgeben in einer Medien-Stadt wie Hamburg mit einem Verein wie dem HSV.

 

Nicht?!?
Ich sage: Doch!! Das geht nicht nur, es MUSS sogar gehen!!

 

Denn dieser HSV ist schlichtweg kein Erstligist mehr, der einfach nur fälschlich in die Zweite Liga verunfallt ist. Nein, dieser HSV ist ein massiv kränkelnder Klub, der sich erst wieder aufrappeln muss und wahrscheinlich noch länger braucht, um zu gesunden, ehe man wieder große Ziele formulieren kann. Und wenn man das nicht jetzt, nach jahrelangem Abstiegskampf, dem ersten Abstieg der Vereinsgeschichte UND dem krachend verpassten Wiederaufstieg gelernt hat, dann hat der HSV hier und heute nichts anderes gemacht, als das nächste Scheitern einzuleiten. Egal mit wem als Trainer. Der Lerneffekt wäre gleich null.

Es ist beim HSV irgendwie so wie mit kleinen Kindern, die immer wieder neugierig auf die heiße Herdplatte fassen. Man lernt einfach nicht dazu. Und damit sind wir wieder bei dem Punkt, den ich gestern schon angeführt hatte und den ich noch immer als eines der Kernprobleme beim HSV sehen: fehlenden Mut. Den Mut, sich einzugestehen, dass man nicht mehr groß ist, aber es wieder werden will. Den Mut, etwas Neues zu machen und vor allem endlich andere, neue Wege zu gehen. Christian Titz war so ein neuer Weg. Bezeichnend: Titz’ Weg war schon abgelehnt, bevor man ihn beschritt. Nur aus Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit hatte man den Vertrag mit dem Publikumsliebling widerwillig verlängert. Man demonstrierte, dass schon damals der Mut fehlte, sich nachhaltig für ein Ziel einzusetzen. Dass Hannes Wolf letztlich damit beauftragt wurde, den Titz’schen Weg mit weniger experimentellem Fußball fortzusetzen untermauert diese Sinnlosigkeit. Zumal Wolf daran scheiterte und der HSV im Ergebnis heute tatsächlich wieder da steht, wo er schon vor einem Jahr stand.

Finanziell sogar noch ein wenig schlechter situiert steht man wieder vor der Frage, welchen Weg man zukünftig gehen will. Und dabei ist man sich aktuell offensichtlich noch nicht einig. Zumindest ist zu hören, dass Vorstandsboss Bernd Hoffmann lieber auf einen erfahrenen Trainer setzen will, während Becker eher wieder auf einen Trainer will, der für neue Wege steht. Und ich kann nur hoffen, dass sich Becker diesmal durchsetzt und mit einem frischen Trainer einen neuen Weg konsequent einleitet. Wenn Becker tatsächlich von einem Trainer und dessen Weg überzeugt sein sollte, muss er einfach mal die Eier haben, diesen dann auch konsequent zu gehen. Ohne Rücksicht auf seinen eigenen Verbleib beim HSV.  Zumal ich mir sicher bin, dass Becker in seiner Position als Vorstand ein erneutes Scheitern nicht überstehen würde. Nicht mal den Ansatz davon. Egal mit welchem Trainer.

Fakt ist: Ein erfahrener Trainer, ein Zweitliga-Spitzen-Etat von rund 25 Millionen Euro und das selbst formulierte Mindestziel Wiederaufstieg würden in Hamburg den Druck auf alle hoch halten. Auch auf die, die diesem Druck diese Saison schon nicht standgehalten haben. Also alle beim HSV. Es würde meiner Meinung nach einem wirklichen Neuaufbau sogar hinderlich entgegenstehen, da es den Fans die Hoffnung raubt, der HSV würde nach Jahren der wiederholten Fehler und immergleichen Misserfolge endlich einen eigenen, besseren Weg finden. Wie schnell und wie einfach sowas zu einer mitreißenden Euphorie führen kann, konnte man unter Christian Titz verfolgen. Damals war es aus meiner Sicht sogar eine Form der Erlösung für viele Fans, dass der HSV einem Trainer-Eigengewächs die Verantwortung übertrug, der Mut zeigte, eine neue Taktik zu spielen und auf Steinmann, Ito, Arp und Co. setzte. Kurzum: Es war neu, was er machte. Und allein das reichte schon, um die Fans mitzureißen und Aufbruchstimmung zu versprühen.

Und nur um das klarzustellen: Ich habe überhaupt nichts gegen Dieter Hecking und die anderen genannten, arrivierten Trainer. Wirklich nicht. Aber ich glaube, dass es dem HSV einfach guttun würde, wenn man endlich eine Trainer findet, der sich hier ganz eng an Mannschaft und Verein gebunden verwirklichen und einen  Namen aufbauen will. Am besten mit einer eigenen Idee, die dem HSV ein nicht nur frisches, junges Gesicht verleiht sondern auch eine klare (neue) Philosophie erkennbar macht, deren Ziel der Wiederaufstieg sein muss – aber in einem realistischen Zeitraum. Denn fast noch wichtiger als die schnelle Rückkehr in die Erste Liga ist, dass der HSV endlich aufhört, sich von der Hand in den Mund zu ernähren und einen langfristigen Plan hat, der funktioniert bzw., der realistisch ist. Es bedarf quasi eines Trainers, der als Revitalisierungskur den alten Muff rausklopft. Gestützt vom Vorstand. Und das auch durch die Phasen hindurch, wo es mal wehtut...

Apropos: Schmerzen hatte heute leider auch Ersatzkeeper Tom Mickel. Nachdem er im Training mit dem wieder genesenen Pierre Michel Lasogga zusammengeprallt war, musste er mit einer Platzwunde am Kopf zunächst behandelt werden und anschließend das Training frühzeitig abbrechen.  Erfreulicher waren dagegen die Nachrichten aus dem Westen, wo unser Blogfreund und Bochum-Experte Christian Alexander Hoch heute exklusiv den Wechsel von Lukas Hinterseer zum HSV verkündete. Demnach sind sich Verein und Spieler einig. Der 28 Jahre alte Angreifer soll in den nächsten Tagen einen Dreijahresvertrag unterschreiben und knapp eine Million Euro Jahresgehalt einstreichen. Nach Kiels David Kinsombi, Jeremy Dudziak (St. Pauli) und Jan Gyamerah (Bochum) ist Hinterseer der vierte Zugang für die Zweitligamannschaft, die der nächste Trainer einplanen kann. Oder besser: einplanen muss.

Was bleibt uns vom heutigen Tag noch zu sagen? Klar: Gute Besserung, Tom! Wobei man das heute einmal mehr auch allgemeingültig formulieren kann: Gute Besserung, HSV...!

 

In diesem Sinne, bis morgen.

 

Scholle

 

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