10. September 2020
Vorweg: in diesem Beitrag geht es nur am Rande um Fußball. Schwerpunkt ist das Thema “Führung” aus psychologischer Sicht. Es wird viel über “Führungsspieler” gesprochen, genauer gesagt: über deren Abwesenheit. Auch beim HSV wird immer wieder das Fehlen von Führungsspielern beklagt. Daher möchte ich einmal erklären, was Führung ist und was Führungspersönlichkeiten auszeichnet.
Führung ist ein Phänomen, das so alt ist wie die Menschheit (genau genommen ist es sogar älter als die Menschheit, denn auch fast alle Primaten leben in Gruppen, entwickeln Führungsstrukturen und haben Anführer). Führung ist notwendig, um eine Gruppe zusammenzuhalten, den Einzelnen davon zu überzeugen, seine egoistischen Interessen im Sinne der Gruppe zurückzustellen und so die Gruppe zu Erfolgen zu führen, die ein Einzelner nicht erreichen könnte. Ein Führer gibt einer Gruppe die notwendige Sicherheit, dass er (oder sie) zum Erfolg (“Erfolg” hieß bei unseren Vorfahren zumeist “überleben”) führen wird und es sich deshalb lohnt, individuelle Interessen und Bedürfnisse hintanzustellen. Das Prinzip von “Führen und Geführtwerden” ist so tief in unserer entwicklungsgeschichtlichen Historie verwurzelt, dass man davon ausgehen kann, dass das Bedürfnis, geführt zu werden, in den meisten Menschen fest verankert ist. Je ungewisser und kritischer die jeweilige Situation, desto stärker tritt dieses Bedürfnis zu Tage.
Grob gesagt, gibt es vier Bereiche, die eine gute Führungspersönlichkeit auszeichnen:
Dazu gehört, hohe innere Leistungsstandards zu haben, also einen tiefsitzenden Willen, zu gewinnen und beste Leistungen abzuliefern. Aber auch die Fähigkeit, die eigenen Gefühle steuern zu können, also beispielsweise nicht in Panik zu geraten, wenn es schwierig wird, oder sich nicht von Impulsen und Gefühlen überwältigen zu lassen. Ein wichtiger Aspekt des Selbstmanagements ist ein hohes Maß an Integrität - das eigene Verhalten ist von tiefverwurzelten Werten geleitet, man ist gewissenhaft und verlässlich - denn nur so kann ein Führer das Vertrauen der Geführten erlangen. Der gute Führer ist berechenbar und stellt die Interessen der Gruppe über die eigenen Bedürfnisse.
Gute Führungspersönlichkeiten können klar kommunizieren - und noch besser zuhören. Sie sind empathisch, sie verstehen, was andere motiviert, sie wissen sich darzustellen und kennen die Wirkung, die sie auf andere haben.
In Unternehmen sind das die klassischen Management-Fähigkeiten: planen, organisieren, entscheiden, Strategien entwickeln, Prioritäten setzen, komplexe Situationen analysieren, Maßnahmen umsetzen.
Gute Führungspersönlichkeiten haben nicht nur gute soziale Fähigkeiten, sondern sie verfügen auch über Techniken, diese wirkungsvoll einzusetzen: sie wissen, wie man ein Team bildet, Visionen entwickelt, Ziele formuliert und andere motiviert diese gemeinsam zu erreichen. Dazu gehört auch, ein Gespür für die individuelle Motivation und Gefühle der Teammitglieder zu entwickeln sowie den Kollegen (vor allem den jüngeren) zu helfen, sich weiterzuentwickeln. Und nicht zuletzt ist eine wichtigsten Fähigkeiten, die ein Führer lernen muss: Vorbild für andere zu sein
Wer in irgendeiner Art von Organisation arbeitet, wird feststellen, dass viele Führungskräfte die oben aufgeführten Kriterien nur teilweise oder gar nicht erfüllen. Das liegt daran, dass sich Führungsrollen in Unternehmen nicht von selbst ausbilden, sondern in der Regel bestimmt werden. So wird der- oder diejenige zur Führungskraft befördert, der oder die ein oder zwei der Kriterien erfüllt, z.B. sich gut darstellen kann oder gute Fachkompetenz hat, aber die anderen Kriterien weniger gut oder gar nicht erfüllt. Solche inkompetenten Führungskräfte sind die wichtigste Ursache für fehlende Motivation und Identifikation der Mitarbeiter und der häufigste Grund, warum Unternehmen scheitern oder gute Mitarbeiter selbige verlassen.
Wenn man sich anschaut, was alles dazu gehört, eine gute Führungspersönlichkeit zu sein, kann man sich fragen, welcher Mensch überhaupt diese Kriterien erfüllt. Es gibt durchaus effektive Führungskräfte, die nur einige dieser Eigenschaften aufweisen – aber um auf lange Sicht ein Team zum Erfolg zu führen, benötigt man in all den erwähnten Bereichen eine gewisse Mindestausstattung. Es gibt Führungskräfte, die ein Team allein mit einem außergewöhnlichen Leistungswillen voranbringen können, ohne über die notwendigen sozialen Kompetenzen zu verfügen. Erfahrungsgemäß ist dieser Erfolg aber nur von kurzer Dauer, denn ohne ein starkes Maß an Integrität und Empathie wird das Team dem Führer bald nicht mehr folgen. Es gibt auch den umgekehrten Fall: sehr menschliche, einfühlsame Führungskräfte, bei denen sich ein Team emotional gut aufgehoben fühlt. Wenn diesen Menschen jedoch ein Stück gesunde Härte fehlt, sie nicht den Willen haben, sich und das Team an die Leistungsgrenzen zu führen, werden sie zwar beliebt, aber nicht erfolgreich sein. Oder – ein klassisches Beispiel – der beste Experte wird zur Führungskraft befördert, ohne darauf zu achten, ob er oder sie auch über die nötige Führungskompetenz verfügt. Zumeist genießt ein solcher Experte in der Führungsrolle lange einen gewissen Respekt der Mitarbeiter aufgrund seiner Fachkenntnis, aber früher oder später werden die Defizite deutlich werden.
Ein Fußballteam braucht - wie jedes Team – Führung. Die Leistung des Teams hängt nicht nur vom Leistungsvermögen der Einzelnen ab, sondern auch von der Qualität der Führung. Was einen guten Führer ausmacht, habe ich oben bereits beschrieben. Was heißt das für den Führungsspieler eines Fußballteams? Manche Spielertypen, die als „Führungsspieler“ bezeichnet werden, sind aus meiner Sicht nicht unbedingt gute Führungspersönlichkeiten. Dazu gehören:
Natürlich wird ein solcher Spieler auf dem Platz von den anderen gesucht, da er, im Ballbesitz, mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas Erfolgversprechendes tun wird. Aber ist er dadurch auch ein guter Führer? Nicht, wenn er nicht auch noch über echte Führungsqualitäten verfügt. Ich will mir kein Urteil über Messi, den vermutlich besten Spieler unserer Zeit erlauben, aber er macht nicht den Eindruck, dass er ein Team (über seine genialen Ballaktionen hinaus) zum Erfolg führen kann.
Hier denke ich an den Typus des Abwehrspielers, der 90 Minuten lang alles für das Team und den Erfolg gibt, der auch einmal „um ein Zeichen zu setzen“ einen Gegenspieler im Mittelkreis weggrätscht. Ein solcher Spieler ist wichtig für jedes Team – aber er ist kein echter Führer, denn diesem Typus fehlt häufig die „Fachkompetenz“ (in diesem Fall, die taktischen und technischen Fähigkeiten) und in vielen Fällen auch die sozialen Kompetenzen, um ein Team zusammenzufügen. Ein lautstarker Appell an die Mitspieler, sich aufzuraffen, mag bei manchen Spielern durchaus motivierend wirken – andere wird er aber eher demotivieren, wenn der Appell nicht von dem nötigen Respekt vor dem Einzelnen begleitet ist. (Ich denke, jedem HSV-Fan fallen Beispiele für diesen Spielertypus ein.)
Wer führen will, muss einen gewissen Führungsanspruch haben. Führungs- und Machtanspruch ohne Empathie und den Blick für das Wohlergehen jedes Mitspielers führt jedoch bald zur stillen (mitunter auch offenen) Revolte des Teams.
Bei den meisten Menschen kehrt mit den Jahren an Lebenserfahrung eine gewisse Reife ein. Aber Erfahrung allein macht noch keinen Führungsspieler aus. Leistungssportler lernen mit höherem Alter (ich meine hier die über 30-Jährigen), die nachlassende Fitness durch einen effizienten Umgang mit ihren Ressourcen zu kompensieren: man muss nicht mehr permanent 100% geben, vermeidet verletzungsgefährdende Situationen (im Bewusstsein, dass eine Verletzung das Karriereende bedeuten könnte), rennt nicht mehr jedem Ball hinterher. Das ist für den alternden Spieler durchaus vernünftig, aber damit fällt eine wichtige Rolle für einen Führungsspieler weg: die, Vorbild zu sein (etwas, dass man auch beim HSV erleben musste)
Es ist also nicht einfach, echte Führungsspieler zu finden. Man vergisst häufig, dass die Spieler, die als positive Beispiele für Führungsspieler genannt werden, diese Rolle auch erst relativ spät im Verlauf ihrer Karriere erfolgreich ausgefüllt haben. Um einmal zwei (hoffentlich konsensfähige) positive Beispiele zu nennen: Schweinsteiger und Matthäus, die m.E. klare Führungsqualitäten gezeigt haben. Das war nicht immer der Fall, beide galten lange Zeit als psychisch nicht stabil genug, um in schwierigen Situationen (d.h. in den wichtigen Spielen) ein Team führen zu können. Beide haben erst im höheren Lebensalter die notwendige mentale Stärke entwickelt, um echte Führungsspieler zu sein. Erst gegen Ende ihrer Karriere haben diese beiden vieles von dem gezeigt, was Führungspersönlichkeiten auszeichnet: Vorbild auf dem Platz, häufige Kommunikation auf dem Platz und außerhalb mit den Mitspielern, Bindeglied zum Trainer um gemeinsam taktische Ideen zu entwickeln, Empathie und Integrität.
In meinem Beitrag über die Jugendleistungszentren habe ich beklagt, dass das Thema „Persönlichkeitsbildung“ bei den Jugendlichen zu kurz kommt. Das gilt vermutlich auch in den Profimannschaften. Ich vermute, dass das Thema „Führung“ dort nicht auf dem Trainingsplan steht. Von daher ist es kein Wunder, dass es in der Tat wenig echte Führungsspieler gibt. Doch gute Führung ist ein unabdingbarer Bestandteil jedes erfolgreichen Teams. Was kann man also tun?
Zuerst einmal hat jede Fußballmannschaft bereits eine Führungskraft, die diese Rolle schon durch ihre Funktion innehat: den Trainer. Ein guter Trainer ist wie ein guter Unternehmenslenker: er ist integer, schlau, authentisch, kommuniziert klar und hört zu, versteht etwas von Fußball, kümmert sich um den Teamzusammenhalt, motiviert und fördert die Spieler, sorgt für ein reibungsloses Miteinander im Umfeld, um alles auf den gemeinsamen Erfolg auszurichten. Von daher fand ich schon immer das englische Modell des „Managers“ besser als das – aus organisationspsychologischer Sicht recht seltsame – deutsche Modell, bei dem der Trainer an den Sportdirektor berichtet.
Ein guter Trainer (und hier denken viele vermutlich an Jürgen Klopp) hat aber noch weitere Fähigkeiten: zum einen entwickelt er Menschen weiter, macht sie stärker und entwickelt sie selbst zu starken Führern. Zum anderen weiß er um seine Grenzen und delegiert Aufgaben und Verantwortung an andere. Im Wirtschaftsleben sagt man, dass man eine starke Führungskraft daran erkennt, wie viele andere starke Führer unter ihm oder ihr gewachsen sind.
Um es noch einmal explizit zu sagen: ich glaube, dass der Wunsch nach „Führungsspielern“ nachvollziehbar ist, dass dieser Wunsch sich aber schwer gezielt realisieren lässt. Es gibt wenig Spieler mit echten Führungsqualitäten und manchen Spielern tut man keinen Gefallen damit, sie in eine Führungsrolle zu drängen, die ihnen nicht entspricht. Was aber ist der Ausweg aus diesem Dilemma? Eine Mannschaft braucht Führung, aber es gibt zu wenig Führer? Soll man alles dem Trainer überlassen?
Hier hilft ein Blick in die Wirtschaft: in vielen Unternehmen lösen sich die klassischen Hierarchien langsam auf, es gibt nicht nur Chefs und Mitarbeiter, sondern wechselnde Rollen und Verantwortlichkeiten (das wird mitunter mit dem Schlagwort „Agile Führung“ beschrieben). In der einen Situation trifft der Chef die Entscheidung, in der anderen ist er einfacher Mitarbeiter in einem Team oder er übernimmt sogar Assistenzfunktionen. Das kann sehr gut funktionieren – wenn es in dem Unternehmen eine Kultur gibt, in der die Mitarbeiter die psychologische Sicherheit haben, Fehler machen zu dürfen und sich ausprobieren zu können. Außerdem müssen alle verstanden haben, dass jeder Führung übernehmen muss und kann – zumindest temporär und für Teilbereiche. Die Suche nach dem starken Führer kann ein Team auch lähmen und zur Passivität erziehen. Wer erinnert sich nicht an Szenen des HSV aus der letzten Saison, in denen eine offensichtlich verunsicherte und verängstigte Mannschaft sich an einem Kapitän orientierte, der die Rolle als Anführer nicht ausfüllen wollte und konnte?
„Verteilte Führung“ ist kein einfaches Konzept. Auch wenn ich mich wiederhole – dieses Konzept funktioniert nur, wenn es in dem Unternehmen/Verein eine Kultur gibt, die es fördert, Eigeninitiative zu übernehmen und die Führungsqualitäten in jedem Mitarbeiter zu entwickeln.
Als positives Beispiel möchte ich (in der Hoffnung, dass ich damit bei den HSV-Fans nicht auf zu viel Widerstand stoße) Bayern München nennen, die in der Champions League beeindruckende Mannschaftsleistungen gezeigt haben. In verschiedenen Interviews wurden nach dem Gewinn der Champions League Spieler und Funktionäre gefragt, wer der „Führungsspieler“ in der Mannschaft sei – und es wurden interessanterweise sehr unterschiedliche Namen und Begründungen genannt: Kimmich und Thiago (weil beide im Mittelfeld für Ordnung im Spiel sorgen würden), Müller (weil er permanent mit den Mitspielern kommuniziere), Alaba (weil er außerhalb des Platzes für das Zusammengehörigkeitsgefühl im Team sorge), Lewandowski (weil er in brenzligen Situationen Verantwortung übernehme) – sogar Davies wurde genannt (weil er als junger Spieler Mut zeige und Verantwortung übernommen habe).
Das zeigt, dass eine funktionierende Mannschaft nicht unbedingt einen Führungsspieler benötigt. Wenn ein Trainer es schafft, dass jeder Spieler einen Teil der Verantwortung übernimmt, dann braucht die Mannschaft keinen „Leitwolf“.
Was heißt das für den HSV? Zwei Dinge:
Erstens: Erfahrung sorgt nicht automatisch für Führungsqualitäten. Zwar gibt es Beispiele für Spieler, die gegen Ende der Karriere echte Führungspersönlichkeiten wurden, aber das sind eher Ausnahmen. Vermeintliche Führungsspieler, die diese Aufgabe nicht erfüllen können, sind für ein Team eher schädlich, da sie andere Spieler hindern, selbst Verantwortung zu übernehmen.
Zweitens: Der Trainer ist die eigentliche Führungspersönlichkeit. Er muss ein Klima schaffen, in dem jeder Spieler Verantwortung übernimmt. Der Trainer muss über die richtige Mischung aus persönlicher Integrität, Empathie, Fach- und Sozialkompetenz sowie Führungsfähigkeiten verfügen. Das wichtigste Kriterium ist, inwieweit er es schafft, Spieler fußballerisch und in ihrer Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Der Trainer muss in der Mannschaft das Bewusstsein erzeugen, dass jeder Verantwortung für sich selbst und für die anderen übernimmt.