Simon Rösel

22. Juli 2020

Mit Simon Rösel schreibt heute ein ausgewiesener Fußball-Experte und leidenschaftlicher HSVer für euch. Wir wünschen Simon alles Gute für seinen ersten Blog und freuen uns, dass er ein Teil der Rautenperle werden möchte.
Viel Spaß mit "Wie lange dauert der Umbruch?" wünscht euch euer Team Rautenperle.

 

Seit Jahren wird er in Hamburg gefordert. Seit Jahren wird er versprochen. Scheinbar ist er immer da. Und doch nie so richtig: Der Umbruch. Fans und Verantwortliche verbinden mit ihm die Hoffnung auf bessere Zeiten. Wobei wir beim HSV in letzter Zeit mehrere Umbrüche erlebt haben. Die größeren Umbruchphasen lassen sich gut an den Amtszeiten der letzten drei Vorstandsvorsitzenden des HSV festmachen. Dietmar Beiersdorfer und die Ausgliederung verbunden mit der Hoffnung auf einen Platz im Europapokal. Heribert Bruchhagen und der Wunsch nach Konsolidierung im sicheren Mittelfeld. Und schließlich Bernd Hoffmann mit dem Versprechen eines Neuanfangs in der zweiten Liga, inklusive einem schnellen Wiederaufstieg. Nun ist auch dieser dritte Umbruchsversuch gescheitert. Der HSV verbringt ein drittes Jahr in der zweiten Liga und Bernd Hoffmanns zweite Amtszeit ist ebenfalls vorbei. Mir wird langsam immer klarer, dass der Umbruch vielleicht länger dauern könnte, als ich es mir jemals gewünscht und erhofft hatte.

Von Gladbach und Frankfurt kann der HSV viel lernen

Aber wie lange dauert der Umbruch dann? Oder genauer gefragt: Wie lange dauert der Umbruch für Vereine wie den HSV? Dafür lohnt sich der Blick auf zwei Vereine, die in punkto Tradition und anspruchsvollem Umfeld einige Parallelen mit dem HSV haben: Borussia Mönchengladbach und Eintracht Frankfurt. In vielen meiner privaten Fußballdiskussionen gelten sie als Positivbeispiele für einen erfolgreichen Umbruch. Gladbach hat sich diese Saison im Kampf um den vierten Champions-League-Platz gegen den Werksclub Bayer Leverkusen behauptet. Eintracht Frankfurt hat mit dem Pokalsieg 2018 und der Europa-League-Saison 18/19 seine Fans und Fußballfans aus ganz Deutschland begeistert. Eine Begeisterung, die in der kommenden Saison wohl kaum niemand so verspüren wird. Denn da heißen die deutschen Europa-League-Teilnehmer TSG Hoffenheim, VfL Wolfsburg und Bayer Leverkusen. Gladbach und Frankfurt gehen vermutlich einer positiven Zukunft entgegen. Doch welche Schritte haben sie bis dorthin gemacht? Und was kann der HSV von ihnen lernen?

Gladbach: Konstanz trotz ständigem Auf und Ab

In den 1970er war Gladbach der große Konkurrent von Bayern München, so wie der HSV es Anfang der 80er war. Von dieser Historie zehrt der Verein bis heute. Und doch war sie auch eine Belastung. Es kam, wie es so oft kommt. Die Ansprüche überforderten die Wirklichkeit und der Verein stieg ab. Das dramatische Saisonfinale 1998/99, in dem Eintracht Frankfurt unter Jörg Berger noch den Klassenerhalt schaffte, beobachtete Mönchengladbach aus sicherer Entfernung vom letzten Tabellenplatz. Doch im Moment der größten Niederlage taten die Gladbacher das, was Verantwortliche an anderen Standorten so häufig versprechen, aber selten einlösen. Sie stellten die Weichen für die Zukunft. Stefan Schippers wurde damals als Geschäftsführer installiert und hat diesen Posten bis heute inne. Er führte den Club in die operative Schuldenfreiheit und hat auch sonst seine Zahlen gut im Griff. Das sorgt dafür, dass Gladbach auch ohne Börsenhandel oder Konzernhilfe finanziell sehr gesund da steht. (Wer an dieser Geschichte mehr Interesse hat, dem empfehle ich das Rasenfunk Tribünengespräch mit Stefan Schippers.) Seit 2005 ist zudem Max Eberl im sportlichen Bereich tätig. Zunächst als Nachwuchskoordinator, ab 2008 dann als Sportdirektor und seit 2010 auch als Teil der Geschäftsführung. Die kolportierten Abwerbungsversuche von Bayern München sind eines der vielen Anzeichen für die Qualität seiner Arbeit. Der saubere Wechsel von Dieter Hecking zu Marco Rose vor der letzten Saison und der daraus resultierende Erfolg.

 

Was sich heute wie eine einzige Erfolgsgeschichte liest, war für die Gladbacher Fans aber in den 2000ern ein ständiges Auf und Ab. Emotional und in Sachen Ligazugehörigkeit. Auch größenwahnsinnige Episoden wie das Engagment von Trainer Dick Advocaat im November 2004 gehörten dazu. Damals dachte die Gladbacher Vereinsführung, dass sie sich den Erfolg langsam mal verdient hätten und versuchten ihn in der Wintertransferphase zu erzwingen, in dem sie Spieler wie Giovane Elber, Jörg Böhme oder Wesley Sonck verpflichtete. Diese Spieler prägten in Gladbach keine Ära.

Eine richtige Ära und vielleicht das Ende des Umbruchs begann dagegen mit der knappen Rettung in der Relegation 2011. Lucien Favre war damals Gladbacher Trainer. Erst ab da ging es meistens aufwärts und nur noch für kürzere Phasen abwärts. Und auch nie besonders weit nach unten. Seit 2012 ist Gladbach jedes Jahr in der oberen Tabellenhälfte gelandet. Das haben außer ihnen in diesem Zeitraum nur Bayern München und Borussia Dortmund geschafft. Mit den Gladbachern als Vorbild, lässt sich also sagen, dass ein Umbruch gut 13 Jahre dauern kann – im Gladbacher Fall vom Abstieg 1999 bis zur Champions-League-Qualifikation 2012 – bis die ersten Früchte geerntet werden können. Und trotz des mehrfachen Wechsel von Trainern und Ligazugehörigkeit, gab es Kontinuität in der Geschäftsführung und der sportlichen Leitung.

Frankfurt: Der richtige Wechsel nach langer Konsolidierung

Wie dagegen Wechsel auf bestimmten Position einen Verein beleben können, zeigt das Beispiel Eintracht Frankfurt. Denn die bereits erwähnte Rettung im Saisonfinale 1999 war nur ein Zwischenhoch im Niedergang, der nach der „Fußball 2000“-Saison 91/92 eingesetzt hatte. Der zunehmende Verlust der Augenhöhe gegenüber den Topklubs führte dazu, dass der Verein sich noch verzweifelter danach streckte mithalten zu können und finanzielle Risiken einging, die sich nicht auszahlten. Der erste Abstieg folgte schließlich 1996. Bald darauf fand sich die Eintracht im Fahrstuhl wieder und Abstiege in 2001, 2003 und 2011 folgten. Allerdings gab es zwischendrin auch die Jahre mit Friedhelm Funkel als Trainer und Heribert Bruchhagen als Geschäftsführer – eine Phase der Kontinuität. Allerdings eine Art der Kontinuität, die phasenweise so graumäusig war, dass viele Fans von Eintracht Frankfurt nicht besonders gut auf diese Zeit zu sprechen sind. Trotzdem hat vor allem Bruchhagen der Diva vom Main das Divenhafte ausgetrieben und dem Verein Demut beigebracht. Als er dann den Posten als Geschäftsführer an Fredi Bobic übergab, war das das Beste was dem Verein passieren konnte. Bruchhagen hatte die Finanzen in Ordnung gebracht und das Umfeld stabilisiert. Bobic konnte so ruhig arbeiten, wie es ihm beim VfB Stuttgart nie vergönnt gewesen war. Sicherlich half Bobics Instinkt bei Stürmertransfers und der direkte Erfolg von Verpflichtungen wie Sebastian Haller, Ante Rebic und Luka Jovic. Doch auch Spieler wie Filip Kostic und Kevin-Prince Boateng haben den Frankfurter Fans viel Freude gemacht. Mehr als sie es bei ihren vorherigen Stationen getan haben, wie wir in Hamburg genau wissen. Den Frankfurter Umbruch würde ich mit der Ära Bruchhagen gleichsetzen, somit dauerte er 14 Jahre, von 2002 bis 2016. Darin inbegriffen sind zwei Abstiege und eine Rettung in der Relegation. Und die Funkeljahre im grauen Mittelfeld.

Nun würden wohl alle, die es mit dem HSV halten, das graue Mittelfeld mit Freuden nehmen, solange es denn das graue Mittelfeld der 1. Liga ist. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Und trotz der Positivbeispiele existiert keine Landkarte, die den Weg dahin mit 100-prozentiger Sicherheit zeigt.

Der HSV braucht Demut und Frustrationstoleranz

Trotzdem gibt es einige Dinge, die der HSV von Gladbach und Frankfurt lernen kann: Wir alle sollten Managern misstrauen, die von einer einzelnen Umbruchsaison reden. Denn offensichtlich ist ein Umbruch nichts, was in einer Saison zu bewerkstelligen ist. Und die aktuelle HSV-Führung macht solche Versprechungen im Moment auch nicht mehr. Die zwei bisherigen Zweitligajahre waren in dieser Hinsicht ein absolutes Lehrstück. Der schnelle Wiederaufstieg sollte den Betriebsunfall Abstieg korrigieren. Doch zwei Nichtaufstiege haben uns noch einmal vor Augen geführt, dass der Abstieg aus der ersten Liga kein Versehen war, das sich mit einem schnellen Umbruch korrigieren ließe. Gerade dieses Denken führt oft in den weiteren Niedergang wie wir bei 1860 München und vor allem in Kaiserslautern sehen können. Der Abstieg war die logische Folge einer langfristigen Entwicklung und solche eine Entwicklung umzukehren erfordert viel Kraft über einen langen Zeitraum.

Wenn wir den HSV jemals wieder auf einem Niveau wie dem von Gladbach oder Frankfurt sehen wollen, müssen wir uns auf eine langen Umbruch einstellen. In dieser Phase brauchen wir Demut, Geduld und ein gehörige Portion Frustrationstoleranz. Die ersten beiden Dinge lernen die HSV Fans gerade. Aber letzteres haben sie in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen. Und zwar viel mehr als die Häme aus Fußballdeutschland es teilweise vermuten ließ. Ich persönlich bin auch für weitere Frustration bereit – wenn ich gleichzeitig einen langfristigen Plan sehe. Frank Wettstein und Jonas Boldt werden natürlich einen langfristigen Plan haben. Die Frage ist, ob sie ihn umsetzen können. Und ob der Aufsichtsrat sie ihn umsetzen lässt.

 

Wie seht ihr die bisherigen Umbruchsphasen des Vereins? Wie blickt ihr im Moment in die langfristige Zukunft? Und was kann der HSV noch von anderen Vereinen lernen, die ich jetzt nicht erwähnt habe? Ich freu mich auf eure Anmerkungen!

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