Marcus Scholz

12. April 2020

Um gleich einmal mit dem Wichtigsten zu beginnen: Frohe Ostern, Euch allen! Oder besser gesagt: Uns allen! Genießt die zwei Osterfeiertage heute und morgen und vor allem: bleibt gesund!

Und während beim HSV sowohl heute als auch morgen noch frei gemacht wird, werde ich an dieser Stelle die kleine Serie fortsetzen und mich noch einmal an meine Anfangszeit als HSV-Reporter zurückerinnern, bzw. über die Dinge berichten, von denen ich glaube, dass sie früher nicht nur besser gehandhabt wurden und waren, sondern heute noch helfen würden. Diesmal geht es um einen verstorbenen HSVer, den ich heute nur zu gern wieder hier hätte bzw. dessen Vermächtnis einfach weiterleben sollte. Sein Name: Hermann Josef Rieger. Der ehemalige Physiotherapeut ist bis zu seinem Tod im Februar 2014 für mich der Inbegriff des Guten beim HSV gewesen. Ich könnte 20 Blogs und mehr vollschreiben mit guten Dingen über Hermann. Aber ich will Euch eine Geschichte nicht vorenthalten, die ich selbst miterlebt habe und die beschreibt, was Rieger ausgemacht hat - und was heute fehlt. Und dafür fiel mir heute neben vielen Geschichten, die mir von seinen Freunden und Bekannten über ihn erzählt wurden, eine Geschichte ein, die ich gleich zu Beginn meiner Zeit als HSV-Reporter miterlebt habe und die ich Euch nicht vorenthalten will.

Es war im Sommer 2000, irgendwann nach der alten und vor der neuen Saison. Nach einer Trainingseinheit standen wir mit den Kollegen von Mopo und BILD wie immer vor dem Kabinenausgang der HSV-Profis und warteten auf die Spieler, um sie anzusprechen. Wie auch sonst hatten sich auch diesmal ein paar Fans vor Ort versammelt, um Autogramme zu sammeln. Viele von ihnen kannten wir schon, weil sie fast immer da waren. Einige von ihnen waren an diesem Tag das erste Mal da. So auch der kleine Junge, der zunächst Autogramme in sein Foto (oder Panini-?)Album schreiben ließ. Damals lief sowas noch komplett unkompliziert ab. Absperrungen gab es nicht, die Fans liefen neben den Spielern her bis zu ihren Autos. Berührungsangst hab es nicht. Im Gegenteil: Thomas Doll perfektionierte das Miteinander seinerzeit sogar, indem er ein sehr gutes Gespür dafür entwickelte, welche Fans gern ein Autogramm haben wollten und sich nur nicht trauten. Doll ging dann einfach von sich aus auf diese Anhänger zu, fragte nach dem Namen und schrieb eine nette Widmung auf das Shirt, das Papier oder in das Album. Heute nahezu unvorstellbar.

„Wir haben uns selbst nicht zu wichtig genommen“

„Wir haben uns damals selbst nicht zu wichtig genommen“, sagte mir Pagelsdorf gestern und hatte damit zu 100 Prozent recht. „Für uns war das angenehm, weil wir uns nicht so beobachtet gefühlt haben und uns noch natürlich benehmen konnten, ohne dass sofort irgendwer ein Handyvideo an die BILD geschickt hat.“ Stimmt auch. Vor allem aber wurden die Profis vom Verein damals nicht so abgeschottet und dadurch auch gar nicht erst künstlich wichtig gemacht. Ihnen wurde nicht von oben der Eindruck vermittelt, sie seien bedeutsamste Personen der Öffentlichkeit, die quasi abgeschottet und von Ordnern bewacht werden müssten. Und wohlgemerkt: Damals spielte der HSV plötzlich in der Champions League und hätte sich im Traum nicht einfallen lassen, mal in der Zweiten Liga zu landen. Aber zurück zu Hermann Rieger, der damals ob seiner menschlichen Art sicher auch intern für viele ein Vorbild war.

Sein Leben war das Leid der anderen. Das HSV-Idol war sich wirklich für nichts zu schade und immer da, wenn er gebraucht wurde. So auch an diesem Tag, an den ich mich immer wieder zurückerinnere, wenn ich an Hermann denke.

 

Da stand er also, der Junge mit seinen vielleicht 13, 14 oder 15 Jahren. Er sammelte Autogramme und brauchte dringend noch einen Spieler, der einfach nicht aus dem Kabinentrakt herauskam. Zumeist waren die Spieler, die spät herauskamen, noch in Behandlung. Niemand hatte hier beim HSV längere Arbeitstage als Rieger (und sein Kollege aus der Physioabteilung).  Damals war er die Physioabteilung, die heute zumeist aus vier oder noch mehr Mitarbeitern besteht. Verließ Rieger den Trakt, war echt Feierabend. Aber selbst dann, wenn Rieger mal Feierabend hatte, hieß das noch lange nicht, dass er auch wirklich Zeit für sich hatte. Auch an diesem einen Tag im Sommer nicht. Da kam Rieger aus dem Trainingstrakt am Trainingszentrum Ochsenzoll und sah zunächst uns vorn im Aufenthaltsraum, ehe er draußen den einen noch immer wartenden Jungen sah. Er grüßte uns kurz im Vorbeigehen und ging raus. Dass so lange nach dem Training noch ein Fan wartete, war ungewöhnlich und Rieger fragte den Jungen mit seinem bayerischen Dialekt, auf wen er denn noch warten würde. Denn im Trainingstrakt war niemand mehr. Der Junge erzählte ihm, auf wen er gewartet hätte (ich glaube, es war Yeboah) und Rieger musste dem Jungen erklären, dass dieser Spieler nicht mehr da sei und er doch am Nachmittag zum Nachmittagstraining noch mal wieder4kommen solle. Dann würde er, Hermann Rieger selbst, höchstpersönlich dafür Sorge tragen, dass der Junge diese eine fehlende Unterschrift bekommen würde. Aber der Junge sagte „Nein“.

Rieger hat geholfen. Immer. Und allen.

Denn er konnte nicht. Er musste den weiten Weg mit dem Bus nach Hause zu seiner Mutter, die krank sei. Worte, die wie Alarmsirenen bei Rieger wirkten. Sofort hakte er nach und fragte, was genau die Mutter denn habe und der Junge antwortete. Ich weiß heute nicht mehr, was genau sie hatte. Aber sie war schwerkrank, schlecht oder nicht versichert und konnte damals kaum noch laufen. Das Gespräch dauerte eine ganze Weile und wir hörten damals alle zu, wie sich der Junge und Hermann Rieger unterhielten. Irgendwann sagte Rieger dem Jungen, dass er vorbeikommen werde und helfen wolle. Er sagte dem Jungen, dass er nach der Nachmittagseinheit zusehen werde, schnell rauszukommen beim HSV, um dann zu diesem Jungen und seiner Mutter zu fahren und diese zu behandeln. Sie tauschten Adressen und Telefonnummern aus und Rieger machte uns darauf aufmerksam, dass er das Ganze bitte nirgendwo lesen wolle. Wir sollten es unbedingt für uns behalten - was wir ebenso selbstverständlich taten, wie Rieger am Abend dieses Tages zu der ihm unbekannten Frau fuhr, um ihr zu helfen. Mehrfach, wie uns der Junge später erzählte.

Diese Geschichte, die ich persönlich miterlebt habe, ist tatsächlich nur eine von vielen derartigen, die ich im Laufe der Jahre miterlebt oder die mir von Riegers Freunden und Bekannten über ihn erzählt wurden. Bei Spielern kümmerte sich Rieger auch um deren Ehefrauen und andere Verwandte, wenn diese Probleme hatten. Und manchmal sogar um wildfremde Hilfsbedürftige. Nur darüber sprechen, das tat Rieger selbst das nie. Er redete nie darüber - er machte einfach. Und das immer wieder, ohne etwas zu erwarten.

Nichts kann ersetzen, was Rieger vorgelebt hat

Rieger hat gezeigt, wie es auch gehen kann. Vor allem aber sollte er dem HSV immer als Beispiel dienen. Kein teuer erkauftes, noch so wissenschaftlich und mühsam erstelltes Leitbild dieser Erde wird jemals so nachhaltig ersetzen können, was Rieger allein durch seine selbstlose Art  vorgemacht hat. Nicht nur dem HSV sondern dem gesamten Millionenzirkus Profifußball ist diese Form der Menschlichkeit inzwischen abhanden gekommen. Warum? Ich weiß es nicht. „Bist’ ein Star, mach Dich rar“ heißt es. Es scheint hier inzwischen keinen Platz mehr für Menschlichkeit zu geben. Wichtig machen, statt wichtig sein - so leben es die meisten Verantwortlichen heute. Bei Hermann Rieger war es genau andersrum.

 

Und genau deshalb war es mir heute auch noch einmal ein Bedürfnis, an Hermanns Vermächtnis zu erinnern. Nicht, weil wir in diesen Tagen der Coronakrise das Miteinander leben sollten. Nein, es ist vielmehr die Hoffnung, dass Riegers unvergleich menschliche Art in diesem aufgeblasenen, anonymisierten und steriler werdenden Fußballzirkus wenigstens in Hamburg nie vergessen wird.

In diesem Sinne, Euch allen einen schönen Rest-Ostersonntag. Ich melde mich morgen wieder bei Euch. Nur so viel vorweg: „Danish Dynamite“ wird danach nicht mehr dieselbe Bedeutung haben…

Scholle

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