Marcus Scholz

6. April 2020

Als HSV-Trainer Dieter Hecking um 10.58 Uhr mit seinem weißen Dienst-Audi am Volksparkstadion vorfuhr, war die erste Gruppe schon fast durch mit der ersten Einheit seit der Corona-Pause. Ihm ginge s gut, so der Trainer auf Nachfrage gut gelaunt. Auch er freute sich offensichtlich darüber, endlich wieder dem Job vor Ort und in der Praxis nachgehen zu können, nachdem er samt seiner Mannschaft die letzten drei Wochen zwangsweise im Homeoffice verbracht hatte. Wie Hecking die erste Einheit unter den Auflagen empfunden habe? „Es war wie eine kleine Befreiung, das hat man auch bei den Jungs gemerkt. Aber es ist noch weit weg von der Normalität.“ Stimmt. Immerhin mussten die Spieler selbst beim Gang von der Campus-Seite zum Stadion und zurück immer im Sicherheitsabstand bleiben, am Morgen mussten sich zudem alle Spieler und Trainer zunächst bei der medizinischen Abteilung melden, um dort auf Fieber und sonstige verdächtige Beschwerden getestet zu werden.

Auffälligkeiten bei Spieler gab es nicht. Und so wurde in kleinen Gruppen trainiert. Diese Gruppen wiederum wurden in sich noch einmal in zwei Gruppen aufgeteilt, wie Trainer Dieter Hecking im Anschluss daran mitteilte. So habe man noch einmal gesondert darauf achten könne, dass es bei den Spielern zu keinerlei unabsichtlichem Kontakt kommen konnte. „Ich sehe es bisschen so wie die dritte Vorbereitung. Auf hoffentlich die letzten neun Spiele“, so Rick van Drongelen. Der niederländische Innenverteidiger hatte sich zuletzt wie alle anderen HSV-Profis im Homeoffice fithalten. Und er hat sich nach eigener Aussage trotz der täglichen  Kraft- und Laufeinheiten, die jeder mitbekommen hatte, gelangweilt. „Zuhause war viel ohne Ball, das war langweilig. Heute war es schon schön, mit ein paar Jungs den Ball laufen zu lassen. Schön dass wir jetzt hier trainieren können.“

Bedingungen top - Vagnoman wieder dabei

Und das auf bestem Geläuf. Denn die Greenkeeper hatten die drei Wochen Pause zu nutzen gewusst. „Wenn die Pause irgendwas Gutes hatte, dann, dass die Plätze in einem Top-Zustand sind“, freute sich Hecking - und er war damit nicht allein. Im Gegentei, ein Spieler hatte heute sogar ganz besonderen Grund zur Freude: Josha Vagnoman. Der Youngster, der sich mit dem HSV über eine Vertragsverlängerung bis 2024 einig ist, durfte heute das erste Mal seit seiner Verletzung aus dem Pokalspiel gegen Stuttgart wieder mit der Mannschaft trainieren. Während Jeremy Dudziak und Ewerton heute noch auf der Rehawiese mit Rehatrainer Sebastian Cape arbeiteten und noch zwei Wochen brauchen sollen, durfte der Rechtsverteidiger endlich wieder mit seinen Mannschaftskollegen gegen den Ball treten. Vagnoman: „Auch wenn wir nur in Kleingruppen trainieren durften, war es ein schönes Gefühl, endlich wieder gemeinsam mit den Jungs auf dem Platz stehen zu können. Jetzt geht es für mich darum, mich nach und nach wieder heranzutasten. Ich denke, dass ich dabei auf einem guten Weg bin.“

Die heutige Einheit hat Vagnoman bereits gut überstanden. „Bei den heutigen Passübungen habe ich keinerlei Schmerzen im Fuß gespürt. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Fuß verhält, wenn die Intensität gesteigert wird und wir beispielsweise Torschussübungen absolvieren.“ Das soll in den nächsten Tagen auch ein den kleineren Gruppen passieren. Immer ohne Zweikämpfe. „An gewissen Abläufen kann man arbeiten. Wir haben die Gruppen positionsspezifisch zusammengestellt. Wir machen alles ohne Gegenspieler. Es ist fast wie ein Basketballspiel“, verrät Hecking - sehr zum Leidwesen von Zweikämpfer wie van Drongelen. Aber so sieht es die Sondergenehmigung der Hansestadt Hamburg für die Profis vor. Und so wird es auch eingehalten, wie Hecking betonte: „Es sind schon wirklich enorm viele Auflagen. Und wir versuchen uns so gut wie möglich daran zu halten.“

 

Ich war heute morgen am Stadion - immer im vorgeschriebenen Abstand zu den Protagonisten - um ein Gespür dafür zu entwickeln, wie sich diese Sondergenehmigung anfühlt. Denn der Gedanke an die Unterteilung in kleine Gruppen wirkte schon seltsam an. Und dieses Gefühl wich auch heute vor Ort nicht. Im Gegenteil: Denn so sehr ich mich für Hecking und seine Spieler auch über diese Gelegenheit freue, so verständlich ist für mich der Ärger vieler Kleinunternehmer, die so eine Sondergenehmigung nicht bekommen und trotzdem - nein: deshalb - um ihre wirtschaftliche Existenz bangen müssen. Das Argument, sie könnten ja in ihr Geschäft gehen und außer Haus liefern ist sicher richtig - aber an Gesichts der organisatorischen Aufstellung der meisten technisch nicht umsetzbar.

Sondergenehmigung für den HSV gerechtfertigt

Vielmehr stellt sich für mich die Frage, ob diese Ausnahme für den Profifußball als Privileg gerechtfertigt ist. Und ich muss ganz klar festhalten: Nein. Das ist es meiner Meinung nach nicht. Ich weiß, dass ich mit dieser Aussage viele HSV-Fans verärgere. Aber so sehr ich mich auch selbst über Fußball als Ablenkung freue, und so sehr ich darauf hoffe, dass die Saison tatsächlich noch sportlich beendet werden kann, so kann ich den Ärger der Nicht-Berücksichtigten nachempfinden. „Das ist wie im Mittelalter, wo man das Volk mit Brot und Spielen befriedete“, hat mir einer meiner besten Freunde gestern gesagt. Der Besitzer eines aktuell geschlossenen Sportgeschäfts fühlt sich benachteiligt. Zurecht, wie ich finde. Er sagte mir, er könne auch sicherstellen, dass die Leute bei ihm genügend Abstand zueinander halten würden, wenn das verlangt wird. Und obwohl er selbst früher professionell Fußball gespielt hat, kann er die Sondergenehmigung für die HSV-Profis weder nachvollziehen - noch gutheißen. Und ich kann ihm inhaltlich folgen.

Dass hinter dem Profifußball rund 60.000 Arbeitsplätze und eine enorme Wirtschaftskraft stecken, dass hier Insolvenzen für Profivereine drohen und Deutschland ein Unterhaltungsgut der obersten Kategorie wegzubrechen droht - das sind alles sehr gute Argumente, um schnellstmöglich die Saison wieder aufzunehmen. Wobei die Betonung hier meinerseits deutlich auf „möglich“ im „schnellstmöglich“ liegt. Denn wenn ich bedenke, dass fehlender Abstand auf der Straße oder im Supermarkt uns Normalbürger schon eine hohe Geldstrafe kosten soll, dass Bildungsstätten geschlossen sind, kleine Amateurvereine wegsterben, weil sie keinen Sportbetrieb zulassen dürfen, und Verwandte ihre am Coronavirus verstorbene Verwandten teilweise nicht einmal auf ihrem letzten Weg geleiten dürfen - dann erschließt sich mir  wirklich nicht, weshalb das bei Profisportlern anders sein soll.

Festzuhalten bleibt, dass den HSV hier keine Schuld trifft. Er macht, was für den Erhalt und Erfolg des HSV nötig ist. Aber bei allem Respekt vor der DFL und der Bedeutung der ausstehenden TV-Millionen - hier kann ich eine Unterscheidung für mich nicht vertreten. Hier kann in meinen Augen nur eine einheitliche Lösung getroffen werden. Und so sehr uns jeder sportliche Nachteil für die Bremer auch freuen mag - dass die Werder-Profis beispielsweise im Gegensatz zur Konkurrenz nicht trainieren dürfen, auch so entsteht ein Ungleichgewicht, das letztlich in Wettbewerbsverzerrung münden kann.

 

Daher bleibe ich dabei, dass diese Sondergenehmigung(en) ein Geschmäcke hat. Und dabei habe ich noch nicht einmal ein Wort darüber verloren, dass angesichts der hohen Infektionsgefahr, vor der heute noch gewarnt wird, eine Durchführung des Ligabetriebes nicht gewährleistet werden kann. Oder was passiert, wenn eine medizinische Abteilung bei einem Akteur Symptome übersieht - was bei austrainierten Profis durchaus realistisch sein soll - und plötzlich mitten im Spielbetrieb eine ganze Mannschaft in Quarantäne muss? Oder gleich auch noch die Mannschaft dazu, gegen die gerade gespielt wurde? Nein, wie die allermeisten weiß ich in Sachen Corona und deren Auswirkungen genau so wenig die nächste Zukunft vorherzusehen. Und so sehr ich mir wünsche, dass es in den nächsten Wochen derart neue Erkenntnisse gibt, dass die Saison problemlos wieder aufgenommen und sportlich beendet werden kann, so wenig kann ich es mir heute vorstellen. Und sollte es dennoch möglich werden, so bliebe für mich letztlich trotzdem eines: der Beigeschmack der Ungleichbehandlung.

Oder wie seht Ihr das? Schreibt mir doch bitte Euter Meinung. Und wenn ich mir etwas wünschen darf, dann: Bitte schreibt doch ganz viele Dinge auf, die meine Meinung widerlegen und mich umdenken lassen. Ich würde mich  sehr gern ohne schlechtes Gewissen auf Fußball freuen. Es wäre für mich tatsächlich eine Art Erlösung. In etwa so, wie es sie heute für die HSV-Profis war, die einen alles andere als normalen HSV-Tag erlebt haben.

In diesem Sinne, bis morgen!

Scholle

FAQs

 
 

Über uns

Die Rautenperle - das ist ein Team aus jungen Medienschaffenden und Sportjournalisten mit großer Affinität zum HSV. Wir sind 24/7 bei den Rothosen am Ball und produzieren frischen Content für Rautenliebhaber.

Unser Ziel ist es, moderne, unabhängige Berichterstattung und attraktiven, journalistischen Content für junge und jung gebliebene HSV-Anhänger zu bieten. Wichtig ist uns dabei, eine neue Art des Sportjournalismus zu präsentieren: dynamisch, zeitgemäß, zielgruppengerecht. Weg von verstaubten Zeitungsspalten und immergleichen Phrasen.

Die Rautenperle ist aber nicht nur ein Ort, um sich zu informieren, sondern soll auch immer ein Ort des Austausches und des Miteinanders sein. Wir wollen eurer Leidenschaft einen Platz im Netz bieten: zum Diskutieren, zum Mitfiebern, zum Mitmachen.