Simon Rösel

19. November 2020

Die gute Nachricht: Der HSV hat seit sieben Spielen nicht mehr verloren und ist souverän Tabellenführer in der 2. Bundesliga. Die schlechte Nachricht: Die späten Gegentore sind zurück. Sowohl gegen St. Pauli, als auch gegen Kiel kassierte der HSV ein Tor in den letzten 10 Spielminuten. Beide Male zu Zeitpunkten, als das eigene Spiel passiver wurde und die Mannschaft begann sich mit dem bisherigen Resultat zufrieden zu geben.

Gegen St. Pauli gelang es der Mannschaft noch mit purer Willenskraft und im direkten Gegenstoß den Ausgleich zu erzielen. Gegen Kiel war es für einen erneuten Führungstreffer schon zu spät. Das Team und auch die Fans machen gemeinsam eine Erfahrung, die sich sehr vertraut anfühlt. Die Euphorie aus einem guten Saisonstart hält nicht bis zum Ende der Saison vor.

Der HSV hat einen psychologischen Knacks, der sich in der zweiten Liga schon mehrfach gezeigt. Er äußert sich in verschiedenen Formen. Auf Spielebene in den verspielten Führungen, wie wir sie nach dem Corona-Restart gesehen haben. Und er äußert sich in den Saisonverläufen. In beiden Zweitligajahren war der HSV lange Tabellenführer, doch mit zunehmender Saisondauer, entfernte sich der HSV erst langsam und dann immer schneller von der Tabellenspitze. Der Grund dafür ist ein psychologischer Knacks. Ich nenne ihn: Das Vorsprungsproblem. Das Vorsprungsproblem bedeutet, dass der HSV nicht damit umgehen kann, wenn er einen Vorsprung hat. Sowohl tabellarisch, als auch in einzelnen Spielen.

Das Vorsprungsproblem in den Saisonverläufen

Schauen wir uns zunächst die beiden Saisonverläufe in der zweiten Liga an. Am Anfang ist das Team heiß und voller guter Vorsätze. Die letzte Saison endete jeweils mit einer Demütigung. Dem ersten Abstieg aus der Bundesliga und dem sicher geglaubten, aber dann verspielten Aufstieg. Diese Demütigungen will das Team vergessen machen und startet jeweils gut in die Saison, mit vier Siegen aus fünf Spielen. Nach diesen Spielen ist man an der Tabellenspitze angekommen und ab jetzt zeigt sich schon das Vorsprungsproblem. Denn jetzt hat die Mannschaft etwas zu verlieren. In der ersten Zweitligasaison hat der Trainerwechsel von Christian Titz zu Hannes Wolf das Problem noch einmal kurzzeitig behoben. Nur damit es spätestens nach dem Derbysieg umso stärker zurückkehren konnte. Das Vorsprungsproblem ist hier ein psychologischer Schalter, den wahrscheinlich alle kennen, die Fußball gespielt oder andere Sportarten gemacht haben. Man hat etwas erreicht und denkt sich: „Jetzt muss ich nur noch den Vorsprung verteidigen.“ An diesen Worten „nur noch“ hängt das ganze Problem. Denn der Wechsel in die Verteidigungshaltung beraubt die Mannschaft ihrer Stärken mit denen sie sich den Vorsprung überhaupt herausgespielt hat. Und vielleicht liegen ihre Stärke auch viel mehr im aktiven, offensiven Spiel, als im geduldigen, aber gnadenlosen Verteidigen. 

Aber wir reden hier immer noch vom Saisonverlauf. Die Mannschaft geht also nicht mehr mit dem Hunger des Saisonanfangs in die Spiele, mit dem sie unbedingt einen Fehler wieder gut machen will. Zu Beginn dieser Saison kam noch der katastrophale Auftritt in Dresden hinzu, der sicher auch seinen psychologischen Anteil an den ersten Saisonspielen hatte. Doch statt weiter „hungrig“ und „gierig“ zu sein, wie Trainer ihre Mannschaft ja heutzutage gerne sehen wollen, nimmt die Mannschaft eine Verteidigungshaltung an. Sie hat Angst etwas zu verlieren. Nachdem die Scharte der vergangenen Saison scheinbar ausgewetzt ist, verliert sie sich im psychologischen Dickicht der laufenden. Dieter Hecking hat dieses Problem in der letzten Saison schließlich erkannt. Er lobte explizit Jan Gyamerah für dessen Haltung vor dem Heidenheim-Spiel. Gyamerah sagte damals, dass er es so sähe, als habe er etwas zu gewinnen und nicht zu verlieren. Allein diese Mentalität kam zu spät und hat längst nicht das ganze Team ergriffen.

Das Problem mit den Last-Minute Toren

Der übergeordnete Krampf mit den Saisonverläufen führte besonders in der letzten Saison zu den schon fast berüchtigten, späten Gegentoren. Natürlich haben diese Gegentore mehrere Gründe. Zum einen war die Mannschaft nicht ganz fit. Zum anderen fehlte es ihr im defensiven Mittelfeld, in der Innenverteidigung und im Tor an Defensivqualität. Doch im Kleinen waren die spät verlorenen Spiele alle eine Abbild des großen Saisonverlaufes. Gegen Stuttgart oder Heidenheim ist das Team gut gestartet. Mit einem Elan, der den Gegner überrascht hat. In beiden Spielen folgte zur Halbzeit eine verdiente und souveräne Führung. Doch dann, als die Mannschaft etwas zu verlieren hatte, hat sie es auch zuverlässig verloren. Vorher, bis sie es verlor, versuchte sie verzweifelt sich an ihrem Vorsprung festzuhalten wie Sly Stallone im Film Cliffhanger. Mit dem Unterschied, dass sie beide Male abstürzte.

Warum schreibe ich das alles jetzt auf? Schließlich tut es weh, in den alten Wunden rumzupulen. Und immerhin haben die Jungs bisher gute Spiele gezeigt. Das haben sie tatsächlich. Allerdings hätten mit den Spielen gegen Paderborn und Fürth zwei der fünf Auftaktsiege genauso gut verloren gehen können. Und von vorne bis hinten souverän war nur das Spiel gegen Erzgebirge Aue. Ähnlich bei den jüngsten beiden Untentschieden. Gegen St. Pauli hätte das Spiel in beide Richtungen kippen können und gegen Kiel ist der HSV im Spielverlauf merkwürdig passiv geworden. Besonders das Spiel gegen Kiel hat gezeigt, dass die Mannschaft noch nicht die Reife hat, einen knappen Vorsprung über die Zeit zu bringen, obwohl es ihr fast geglückt wäre. Und solange sie diese Reife nicht hat, muss sie weiter Vollgas nach vorne geben. Das hat natürlich immer mit dem Gegner zu tun. In dieser Hinsicht ist Kiel eine der stärkeren Mannschaften in der 2. Bundesliga gewesen und nicht ohne Grund so etwas wie der Angstgegner des HSV. Es ist auch in den einzelnen Spielen nicht schlimm. Erst, wenn aus einzelnen passiven Momenten eine passive Tendenz wird, sollten wir anfangen uns Sorgen zu machen.

Es gibt genug Warnzeichen

Obwohl der Saisonstart nach der Dresdenniederlage nicht leicht war, wird es im Laufe der Saison nicht leichter werden. Dabei müssen Trainer und Team stets die Balance zwischen dem Bewusstsein der Gesamtsituation und dem Hunger auf Spiele und Siege finden. Konkret heißt das, die Gesamtsituation für die einzelnen Spiele ausblenden und nur mit der maximalen Ernsthaftigkeit und dem größtmöglichen Hunger in die Spiele gehen. In dieser Hinsicht hat mir Daniel Thiounes Reaktion auf das Testspiel gegen Viborg FF gut gefallen. Denn das Spiel hat eindrucksvoll gezeigt, dass der zweite Anzug nicht nur nicht sitzt, sondern einige Löcher hat. Die nominell gut besetzte Bank des HSV ist also doch nicht so stark, wie besonders die Fernsehkommentatoren sie während der Spiele reden. Das haben besonders die Einwechslungen im Derby gezeigt, als das Team ohne Aaron Hunt völlig die Struktur verlor.

Daniel Thiounes Aufgabe ist es nun für die Mannschaft und für die Gegner neue Herausforderungen zu suchen. Die Mannschaft selbst muss weiterhin das Gefühl haben, dass sie etwas erobern kann und nicht etwas verteidigen muss. Die Gegner müssen dagegen mit neuen Ideen überrascht werden, so wie Thioune das in den ersten Spielen mehrfach geglückt ist. Doch selbst der tolle Hybrid aus Dreier- und Viererkette wird sich irgendwann abnutzen, wenn die Gegner sich intensiv damit beschäftigt haben. Am Ende hilft es dabei selber aktiv zu bleiben, damit die Freude am eigenen Spiel die Angst vor dem Spiel des Gegners überwiegt.

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