Marcus Scholz

26. Februar 2020

Wenn Jonas Boldt immer sagen könnte, was er denkt, wäre es einfacher. Für ihn. Allerdings ist seine exponierte Position als Vorstand Sport beim HSV auch immer mit Politik verbunden. Er muss Situationen so erklären können, dass die Öffentlichkeit das Gefühl hat, er habe alles im Griff. Und aktuell muss Boldt erklären, wie es passieren konnte, dass der HSV gegen den Stadtrivalen zwei Niederlagen einfuhr und statt sechs (eingeplanten) Punkten genau keinen einfuhr. Vor allem aber muss ich Boldt als Mittler zwischen den Extremen verdingen. Denn die vernünftige Mitte gibt es im Fußball selten. „Jeder verarbeitet Frust auf seine Art und Weise. Ich habe meinen Weg dafür“, sagt Boldt, „aber es geht in meiner Position auch darum, die Mannschaft und die Fans wieder mitzunehmen und zu gucken, dass die Wunde heilt, auch wenn die Derbyniederlage zweifellos ein schwerer Schlag war.“

Allein, dass der HSV jetzt, wie von einigen Kritikern zu vernehmen war, sportlich kollabieren könnte, sieht Boldt naturgemäß anders: „Das Derby können wir so schnell nicht ungeschehen machen, aber wir waren in der Aufarbeitung sehr selbstkritisch und blicken jetzt nach vorne: Am Wochenende geht es um die nächsten wichtigen drei Punkte. Wir hatten in dieser Saison schon häufiger Rückschläge und sind zurückgekommen. Wir arbeiten daran, dass die Wunde verheilt und am Ende keine Narbe bleibt. Die Enttäuschung war riesig, keinem ist es egal. Das Derby können wir so schnell nicht ungeschehen machen, aber wir waren in der Aufarbeitung sehr selbstkritisch und blicken jetzt nach vorne: Am Wochenende geht es um die nächsten wichtigen drei Punkte.“

Boldt macht gute Miene zum bösen Spiel

Boldt muss auch die Dinge erklären, die einzig von außen zum Thema gemacht werden. Politik auf Fußballprofi-Ebene. Etwas, was mich persönlich unfassbar nerven würde - was Boldt aber als dazugehörend akzeptiert hat. Und da, wo wir irgendwann als Gegenfrage nach dem geistigen Zustand des Fragestellers gegenfragen würden, antwortet Boldt mit einem Lächeln. Immer wieder.

Auch jetzt, wo der HSV nach dem ersten Rückfall auf den dritten Tabellenplatz seit Monaten von den Kollegen der BILD in eine tiefe Krise kommentiert wurden. Er wisse ja immer auch, woher es käme, sagt er dann und meint damit, dass auch in Zeitungen nicht immer das steht, was wirklich passiert. „Ich finde das Umfeld nicht schwierig“, sagt er trotzdem und lenkt das Thema weg von dem Terrain, auf dem es nichts zu gewinnen gibt und hin zu dem, das er beeinflussen kann. „Du kannst ja nicht nur das Gute mitnehmen und das Schlechte außen vor lassen. Entscheidend ist, wie gehen wir untereinander damit um.“

Mit „untereinander meint der Sportvorstand des HSV den internen Umgang der HSV-Mitarbeiter. Vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Zeugwart müsse man als Einheit auftreten. „Ich habe keine Probleme, mich zu stellen, wenn es nicht läuft. Das ist meine Aufgabe und meine Verantwortung. Wir müssen die Dinge klar ansprechen, und das machen wir auch in der Kabine. Das kriegen die Leute natürlich nicht mit, aber da haben wir schon eine Kultur geschaffen, dass man sehr offen und ehrlich miteinander umgehen kann. Das muss sich noch ein wenig weiter in den Verein hinein tragen. Dazu bedarf es Vertrauen und Geduld“, so Boldt, der keinen Zweifel daran lassen will, dass sowohl er als auch das Trainerteam und die Mannschaft selbst verstanden hat, was am Sonnabend beim 0:2 gegen den FC St. Pauli passiert ist.

Boldt: Kontinuität statt populistischer Reaktion

Dass Aaron Hunt mit seiner Aussage, es sei eben nur eine einfache Niederlage gewesen, daneben liegt, ist klar. Hunt selbst meinte es sicher auch anders - aber gesagt ist gesagt. Und in Momenten, wo die Mannschaft eh massiv in der Kritik steht, sind derlei unbedachte Äußerungen natürlich Wasser auf die Mühlen derer, die ihrem Frust freien Lauf lassen wollen. „Ich bin mir der Bedeutung von Derbys für die Fans bewusst“, sagt Boldt, „ich habe beispielsweise Boca gegen River Plate im Stadion gesehen. Deshalb kann ich auch jetzt die Enttäuschung unserer Fans gut nachempfinden.“

Bei dem Derby in Argentinien würden sich die Fans sogar im eigenen Fanblock abstechen, wenn sie unterschiedlicher Meinung seien. Schon deshalb versucht er, auch jetzt der Derbypleite die notwendige Bedeutung zu geben, ohne aus der Emotionalität heraus Fehler zu machen. Boldt: „Du kannst nicht jede Woche einen neuen Schuldigen suchen und anprangern. Die Kunst ist vielmehr, in solchen Situationen zusammenzuhalten und an den Schwächen zu arbeiten. Denn nur durch Weiterentwicklung wirst du die Chance auf Erfolg haben.“ So ist es. Aber weil man in Hamburg nach außen immer das gesagt und gemacht hat, was populistisch am besten funktionierte, stagnierte der HSV zuletzt bis hin zur Degeneration zum Zweitligisten.

 

Trainerwechsel, Spieler an die Wand nageln (lassen) - der HSV der letzten zehn Jahre war führungsschwach und leicht beeinflussbar. Trainer wurden teilweise mit befreundeten Chefredakteuren in italienischen Restaurants eingestellt. Und wenn man selbst in die Schusslinie kam, wurde populistisch ein anderen hochrangiger Mitarbeiter geopfert. Boldt fordert hier ein Umdenken. Das schaffst du aber nicht, wenn du nach jedem Misserfolg jemanden anprangerst und opferst. Das ist vielleicht in der Vergangenheit passiert. „Ich höre ganz genau hin und versuche, den Verein richtig kennen zu lernen. Alle Gremien, die Sponsoren, die Mannschaft, die Fans in der Kurve und auf den Tribünen. Alle haben unterschiedliche Sichtweisen. Aber alle wollen, dass der HSV gewinnt. Das schaffst du aber nicht, wenn du nach jedem Misserfolg jemanden anprangerst und opferst. Das ist vielleicht in der Vergangenheit passiert.“ Ist es.

HSV geht mit Esume neue Wege - endlich

Boldt versucht, den Worthülsen der letzten Jahre Leben einzuhauchen. Die Forderung nach Konstanz und Kontinuität auf Führungspositionen lebt er, indem er im Doppelpass mit denjenigen, die zum Team gehören, nach vorn blickt. Nur so können  man sich entwickeln: Kritisch nach innen - geschlossen stark nach außen. „Uns war doch klar, dass es Rückschläge geben wird. Wir wollten ihnen natürlich aus dem Weg gehen. Entscheidend ist, dass wir jetzt die Kräfte bündeln - alle im Verein. Die Frage ist dabei: sind wir schon soweit? Und das kann am Ende des Tages nur mit ‚ja‘ beantwortet werden, wenn alle an einem Strang ziehen." Allerdings sei auch klar, dass es bis zum Ziel ein fast genau so langer Weg sei, wie bis zum Wiederaufstieg in die Erste Liga. Wobei ich persönlich glaube, dass das eine das andere in diesem Fall sogar bedingt.

Boldt ist aber auch auf anderen Gebieten mutig. Wobei, nein - eigentlich nicht. Dass man sich jetzt mit Patrick Esume das erste Mal nach Hockey-Nationaltrainer Bernhard Peters die Sichtweisen anderer Profisportler bzw. -Trainer anhören möchte, halte ich für längst überfällig. Die Tatsache, dass man nach der Derbypleite befürchtete, dass die Installation des u.a. Footballtrainers komisch rüberkäme, passt irgendwie nicht zu dem Bild, das der HSV unter Boldt abgeben will. Es demonstriert, wie öffentlichkeitsgetrieben man zumindest in teilen noch immer ist. Man habe befürchtet, dass es komisch rüberkäme, kurz nach der Derbypleite, in der viele Fans dem HSV fehlende Leidenschaft  und Einsatz vorwarfen, einen Motivationstrainer als Hospitanten zu präsentieren. Obwohl der Kontakt zum Hamburger schon im letzten Jahr geknüpft wurde.

„Ich habe mich schon zu Leverkusener Zeiten immer wieder auch mit anderen Sportarten beschäftigt. Damals ist der Kontakt zu Patrick Esume entstanden. Insbesondere mit unserer Scoutingabteilung hat damals ein intensiver Austausch stattgefunden, da man im Football viel mit interessanten Technologien scoutet“, verrät Boldt die Motivation, die hinter der Hospitant von Esume beim HSV im Trainerteam steckt. „Na endlich!“ sage ich. Denn dieses altmodische HSV-Konstrukt hat sich viel zu lang neuen Wegen verschlossen. Immer wieder überwog die Arroganz, man könne alles selbst. Und während Peters inzwischen beim Vorreiter neuer Wege in der Bundesliga, bei RB Leipzig als neuer Nachwuchschef im Gespräch ist, laboriert der HSV-Nachwuchs weiter an mangelnder Aufmerksamkeit.

Hecking holt sich von außen, was ihm fehlt

Dass Dieter Hecking mit seinen 55 Jahren nicht zur Kategorie Julian Nagelsmann zu zählen ist, gibt der HSV-Trainer selbst zu. Unter anderem deshalb hat sich Hecking mit Tobias Schweinsteiger einen jungen Cotrainer ins Team geholt, der das einbringen kann, was ihm selbst fehlt. „Auch mit Dieter spreche ich viel darüber, Dinge auch mal aus anderen Blickwinkeln zu betrachten“, verrät Boldt. Der Trainer selbst sei sehr offen für neue Wege. Boldt weiter: „Wir haben dann mit Patrick Esume gesprochen und er hatte große Lust, beim HSV zu hospitieren. Es geht ihm darum, sich mal anzugucken wie eine Fußballmannschaft geführt wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass beide Seiten davon profitieren können. Patrick ist ein Typ, der sich sehr viel mit dem Thema Leadership beschäftigt. Und er weiß, wie man mit Technologien und einer Mannschaft umzugehen hat.“

Dümmer wird es definitiv niemanden machen, im Gegenteil: Der HSV bewegt sich in vielen Dingen in die richtige Richtung. Vielleicht sportlich nicht immer im Gleichschritt - aber zumindest hinter den Kulissen. Und sollte es den Verantwortlichen diesmal gelingen, ihre Egos dem Gesamterfolg konsequent unterzuordnen, werden sie am Ende alle gewinnen können. Ehrlich gesagt sogar nur dann. Von daher bleibt zu hoffen, dass Boldts Weg beim HSV keine Worthülse, sondern der Weg der Zukunft ist.

In diesem Sinne, bis morgen. Da melde ich mich wie immer um 7.30 Uhr mit dem MorningCall bei Euch, ehe wir uns um 13 Uhr via Facebook ,live von der Pressekonferenz melden. Trainiert wird erst am Nachmittag um 15.30 Uhr. Öffentlich. Bis dahin!

Scholle

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