Marcus Scholz

18. März 2018

Der Tag nach der Niederlage – beim HSV sollte man diesen eigentlich kennen. Er dürfte inzwischen Routine sein. Und trotzdem ist heute etwas anders. Denn auch das Spiel gestern mit allen seinen Begleitumständen war anders. Angefangen bei der Personalwahl bis hin zum Spiel und den Reaktionen der aussortierten/nicht berücksichtigten Spieler im Anschluss sowie natürlich den Reaktionen der Fans nach Spielschluss. Im Ergebnis und ohne tiefere Betrachtung könnte man schnell zu dem Schluss kommen: Abstieg, Zerfallserscheinungen, Aufgabe. Alles scheiße! Und trotzdem glaube ich, dass das gestern ein Anfang gewesen sein kann, den es weiter zu verfolgen gilt. Rein sportlich. Denn es stand ein HSV auf dem Platz, der eine Idee hatte, wie man Fußball erfolgreich spielen kann. Und diese erkennbare Spielidee hat trotz aller Umstände sogar eine Halbzeit lang gereicht, um gegen Hertha BSC zu führen und vom ersten Sieg zu träumen.

Wie ich das meine? Ganz einfach:

Dieser HSV hatte seit Saisonbeginn und hat nach der tatenlosen Winterpause logischerweise auch weiterhin ein massives, schier unüberwindbares Qualitätsdefizit. Der Kader ist trotz einzelner, nominell guter Fußballer schlichtweg bundesligauntauglich zusammengestellt. Und dieser Umstand steht über allem, was wir hier als Ursache diskutieren. Trotzdem hat es der neue Trainer geschafft, ein selbst für gute Mannschaften sehr riskantes System in wenigen Tagen in diese kaputte Mannschaft so zu implementieren, dass es knappe 45 Minuten lang funktioniert hat. Dass die Mannschaft das nicht über 90 Minuten schafft – es war zu befürchten und fast zu erwarten. Das wussten wir wahrscheinlich alle, vor allem der Trainer, der den direkten Blick auf den Kader hatte. Dass er aber trotzdem den Mut aufbrachte, sein Ding durchzuziehen, um zu zeigen, was gehen könnte – Hut ab!

„Alles riskiert – alles verloren“ titeln verschiedene Kollegen heute. Und ich mag ihnen absolut nicht folgen. Denn verloren war schon alles. Der Abstieg wurde nicht gestern besiegelt, sondern in den Streitigkeiten zwischen Aufsichtsrat, Klaus Michael Kühne und dem Vorstand sowie in den Transferphasen und den letten Vorstandssitzungen, in denen über die sportliche Leitung – nein: die sportlichen Leitungen – entschieden wurde. Es wurde eine Fehlerkette in Gang gesetzt, die nicht mehr aufzuhalten scheint. Und genau deshalb hoffe ich, dass die neuen Verantwortlichen das Positive sehen, das gestern zweifellos vorhanden war. Ich hoffe, dass Bernd Hoffmann und Co. nicht alles subsummieren und in einem Wisch unter dem Ergebnis „alles verloren“ abräumen. Denn Titz hat zumindest eines: Eine Idee und die Traute, diese Idee bis zum Schluss umzusetzen.

Nur, um es noch mal zu verdeutlichen: Ein Pal Dardai setzt sich in der Pressekonferenz hin und bügelt Titz’ Spielidee in einer selten da gewesenen, respektlos Art ab, indem er sagt, man sei vom HSV-System nicht überrascht gewesen und hätte in der Halbzeit nur ein paar Dinge verändern müssen, um letztlich sicher zu gewinnen. Hätte er das auch gesagt, wenn der HSV zur Halbzeit 2:0 oder gar 3:0 geführt hätte? Nein, sicher nicht.

Und meint Ihr wirklich, ein Papadopoulos oder sonstein aussortierter/nicht berücksichtigter Spieler hätte sich gestern in der Mixedzone derart klar gegen den Trainer und dessen Entscheidungen gestellt, wenn der HSV das Spiel gewonnen hätte, der Abstand auf Mainz plötzlich nur noch vier Punkte wäre und die Ränge die Mannschaft samt Trainer ekstatisch gefeiert hätten? Mitnichten!

Entscheidend ist die Frage, warum es nicht geklappt hat. Und diese beantworte ich für mich – das muss niemand sonst so sehen – mit dem zweifellosen Qualitätsmangel in der Mannschaft. Denn es ist und bleibt das größte Problem, wenn eine Mannschaft nicht ausreichend Qualität hat. Das führt zu Niederlagen, zu noch weniger Selbstvertrauen, zu noch mehr Niederlagen – und letztlich genau dahin, wo der HSV aktuell ist. Auch deshalb setzte Titz auf seine jungen Talente. Weil die anderen, arrivierten Spieler über Monate bewiesen haben, dass sie es eben nicht wuppen. Die haben nicht in Berlin, die haben nicht einmal zuhause gegen unfassbar schwache Mainzer gewinnen können. Übrigens auch alle die nicht, die gestern offen oder versteckt den Trainer kritisierten.

Nein, Titz wollte den Neuanfang, um festgefahrene Strukturen und verwurzelte Negativ-Stimmungen aufzubrechen. Und zumindest unter Der Woche sowie in der ersten Halbzeit hat er das auch geschafft. Ein Matti Steinmann beispielsweise wurde von vielen die Bundesligatauglichkeit abgesprochen, da er es auch in den Jahren zuvor nicht geschafft habe. Titz aber glaubte an ihn und Steinmann hat das 45 Minuten richtig stark gespielt. Er hat die Mannschaft nicht nur belebt, sondern gelenkt. Er war schon allein deshalb wichtig, um das Titz-System auch auf dem Platz zu vertreten und immer wieder einzufordern bzw. zu inszenieren. Und er war körperlich (und mental?) irgendwann am Limit. Verständlich, logisch. Hätte Titz einen zweiten Spieler für diese Position gehabt, er hätte ihn zur Halbzeit oder kurz danach gebracht. Aber den gibt es seiner Meinung nach nicht.

Titz ist im Profifußball ein unbeschriebenes Blatt. Er war selbst nie Profi, hat nie eine Erstligamannschaft trainiert. Ihm mangelnde Erfahrung vorzuwerfen und damit Niederlagen zu erklären – ein Totschlagargument. Und genau deshalb machen es auch viele. Es ist eben einfach. Und das Ergebnis stimmte ja auch gestern nicht. Allerdings sehe ich genau darin den seit Jahren wiederkehrenden Fehler der Öffentlichkeit bzw. auch des ganz direkten Umfeldes in der HSV-Führungsetage (die gestern ruhig blieb): Beim HSV wird immer nur abgerissen. Alibi-Argument dafür ist dann immer, dass die Erwartungshaltung in Hamburg einfach eine andere, eine größere ist und man sich Misserfolg zugunsten einer Entwicklung nicht lang erlauben kann...

Und das ist absoluter Nonsens!

Hier lechzen die Menschen mehr denn je nach Neuem, wie die Wahl Hoffmanns zeigte. Titz’ Berufung löste sogar bei den müden HSV-Fans noch mal Aufbruchsstimmung aus. Aber hier hat eben seit Jahren niemand mehr die Zeit bekommen, etwas wirklich Neues aufzubauen. Nachhaltig und auch in den Phasen mit unbedingter Rückendeckung ausgestattet, die schwer sind. Denn die werden kommen. Spätestens dann, wenn der HSV endgültig absteigen sollte.

Titz gilt als Entwickler. Der neue HSV-Cheftrainer entwickelt einzelne Spieler weiter. Also genau das, was wir uns hier seit Jahren erhoffen und ja sogar das Gegenteil bemängeln („Warum werden hier alle schwächer?“). In diesem Punkt sind sich Hoffmann, Peters und andere Fachleute einig. Deshalb haben sie Titz hochgezogen und Bernd Hollerbach freigestellt. Und es gibt bzw. gab in meiner Zeit als HSV-Berichterstatter (und davor) nie einen Zeitpunkt, an dem die Erwartungshaltung niedriger war als heute. Deshalb: Habt endlich einmal den Mut, nachhaltig etwas Neuem eine echte Chance zu geben. Bitte, HSV, fahrt endlich kalre Kante und vermeidet Kompromisse und Umwege. Geht den geraden Weg. Auch mit den Spielern (dazu später evtl. noch mehr), die sich nicht an diesen Weg gebunden fühlen...

Und vor allem: Geht diesen Weg mit einem Trainer, der eine Idee hat, die – wie gestern zu sehen war – sogar funktionieren kann. Nur dann wird dieser HSV wieder ein eigenes Profil entwickeln und mit viel Fleiß und Glück die Chance darauf haben, aus sich heraus Stärke zu entwickeln. Nur dann wird man hier in Hamburg überhaupt einmal einen ersten, ganz kleinen Gedanken daran verschwenden dürfen, auf lange Sicht wieder autark zu werden und selbständig den HSV entwickeln zu können. Nur so kann der HSV wieder zu dem werden, was man sich hier leider seit Jahren nur noch verbal anheftet: Zu einem großen Traditionsverein.

In diesem Sinne, gleich ist eine Runde mit dem letzten, verbliebenen Vorstand Frank Wettstein sowie eine Trainerrunde nach dem Auslauftraining. Ich melde mich mit den beiden später noch mal bei Euch. Aber das hier musste ich unbedingt schon einmal loswerden...

Bis später!

Scholle

P.S.: Autark zu arbeiten schließt für mich übrigens in keiner Weise aus, weiterhin mit Klaus Michael Kühne zu arbeiten. IM GEGENTEIL!! Wenn man weiß, wie man sich mit dessen finanzieller Hilfe aufstellt, um sich irgendwann aus dem eigenen Garten zu ernähren, dann können dessen finanzielle Hilfen das Ganze sogar massiv beschleunigen. Man darf nur nicht wieder (wie in den letzten Jahren) den Fehler machen, mit dessen Millionen ausschließlich den einfachen Weg über fertige Spieler zu gehen, die hier am Ende – so zeigt es die junge Vergangenheit leider immer wieder - floppen. So verführerisch und einfach dieser Weg auch scheint, es ist entscheidend, hier endlich eine klare Philosophie zu haben und dieser auch über verschiedene Hindernisse (denn die wird es ganz sicher geben!) zu folgen...

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