Marcus Scholz

5. August 2018

Emotionen haben nur sehr selten etwas mit Rationalität zu tun. Und das ist auch gut so. Zumal dann, wenn man dadurch die notwendige Leidenschaft in Diskussionen bringt, die aus etwas normalem eben DAS Besondere machen. Fußball zum Beispiel. Da sitzen Millionen Menschen vor den Fernsehern und in den Stadien und haben fast ebenso viele bessere Wege als der jeweilige Trainer, Erfolg mit der geliebten Mannschaft zu feiern. Auch das ist normal und eigentlich kann damit auch jeder umgehen. Allerdings ist auch dieses von Emotionen gesteuerte Extrem anfällig für Fehler, womit wir zum HSV kommen: Denn wenn zwischen Euphorie und Depression nur wenige Spielminuten liegen, dann läuft etwas falsch. Dann darf der Deckmantel Emotion nicht mehr als Rechtfertigung übergeworfen werden. Weder bei den Fans, noch beim Umfeld – und auch nicht  bei uns Journalisten. Was ich meine? Ganz einfach: „Das schnelle Ende der Euphorie“ titelten meine Kollegen heute und setzten noch einen drauf, indem sie in der Unterzeile schrieben: „Stimmung nach dem 0:3 im Keller“ und „Sportvorstand rechnet mit Spielern ab“.

Von einem Extrem ins andere – mit eine einzigen Spiel. Das ist in ungefähr so sinnvoll wie ein Endspiel für einen Trainer um dessen Job. Als ob einmal 90 Minuten – egal ob mit einem 5:0-Sieg oder einer 0:3-Niederlage derartige Aussagekraft allein aus sich ableiten lassen.

Nein, DAS meinte ich im Übrigen gestern, als ich schrieb, dass die Verantwortlichen mit der enttäuschenden Auftaktniederlage deutlich realistischer umgegangen seien als viele Anhänger - und Journalistenkollegen. Ich selbst mag das Ganze noch zu positiv sehen, das will ich nicht ausschließen. Ob und inwieweit das so ist, werde ich in sieben, acht Spieltagen sicher wissen. Dann werde ich wissen, ob mich meine  Eindrücke vom HSV dieser Saison getäuscht haben oder nicht. Und, zugegeben: Dass ich mich selten so im Spielausgang geirrt habe wie dieses Mal, das habe ich im Video mit Nico schon gesagt. Allerdings habe ich mir das Spiel gestern Abend noch mal in Gänze angesehen.

Und das nicht, weil ich masochistisch veranlagt bin, sondern weil auch hier ein wenig zeitlicher Abstand sehr guttun kann, Dinge besser, weil rationaler zu verstehen. Und in fast jeder Statistik des Spiels war der HSV den Kielern unterlegen. Torschüsse, Zweikämpfe, Ecken – aber vor allem bei den Treffern. Und daher war auch der Sieg der Kieler verdient. Allein über das Zustandekommen darf man anderer Meinung sein als diejenigen, die den HSV jetzt schon abschreiben. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass das Spiel positiv endet, wenn Samperio, Ito oder Narey eine ihrer Chancen in der Anfangsphase nutzen, ist sehr groß. „Wir haben es sehr gut gemacht am Ende“, hatte mir mein Freund von den Kielern gesagt, aber auch eingeschränkt: „Am Anfang hatten wir das nötige Glück – und während der HSV dadurch zu zweifeln begann, hat es uns mutiger gemacht.“ Stimmt.

Das macht es nicht besser. Es ist auch keine Entschuldigung – aber eine rationale Erklärung. Losgelöst von aller Enttäuschung, der Fan-Wut und nachlassender Euphorie hat der HSV das Spiel noch ein wenig mehr verloren, als Kiel es für sich gewonnen hat. Und für alle: Damit will ich in keiner Weise Kiels Leistung schmälern, die mich sehr positiv überrascht hat. Apropos (sorry für den Abstecher): Alle reden über Kiels Südkoreaner Lee, der wirklich der stärkste Mann auf dem Platz war. Allerdings gefiel mir Kiels Mathias Honsak auch extrem. Er hat sicher nicht alles aus seinen Möglichkeiten gemacht – aber er hatte sie auch, weil er sich gut freilief, den Ball sensationell im Tempo mitnahm. Das könnte ein richtig guter Fang für Kiel werden... Aber zurück zum Thema: Der HSV hat am Freitag aus seiner anfänglichen Dominanz eine Verunsicherung erwachsen lassen, die Kiel bestärkt – und letztlich sogar zum Sieg geführt hat.

Und daran muss Trainer Titz arbeiten. „Er muss jetzt zum Psychologen werden“, er solle „sich in die Köpfe der Spieler schalten“ und noch mehr komische Dinge waren gestern zu hören. Dabei glaube ich nicht einmal, dass es allein ein Problem des Kopfes war. Es war das Zusammenspiel aus Taktik und dem Druck, das Spiel vor 57.000 Zuschauern im eigenen Stadion gewinnen zu müssen. Denn nachdem die Taktik in den ersten 20 Minuten aufging, aber nicht zum Erfolg führte, wuchs eine Verunsicherung, die bei einem derart risikoreichen Offensivfußball wie dem von Titz schnell zu Fehlern führt. Dazu kam, dass David Bates seine (überraschend) starke Leistung gegen Monaco nicht noch mal abrufen konnte. Im Gegenteil. Die Viererkette stand nicht sicher, einfache lange Bälle in deren Rücken führten zu gefährlichen Szenen für die Kieler, die schnell erkannten, wie und vor allem: dass sie diesen HSV sogar schlagen können. „Machst Du sie vorne nicht – kriegst du sie hinten“ heißt es im Fußball immer wieder. Und auch diesmal kam es genau so.

Deswegen aber einen kompletten Spielstil in Frage zu stellen ist totaler Unsinn. Aber irgendwie typisch für das Umfeld des HSV – womit ich uns Journalisten voll mit einbeziehe.

Anstatt dem Trainer und seiner Mannschaft das in den letzten Saisonspielen und der Vorbereitung erspielte Vertrauen auch weiter zu gewähren, wird von einem „Ende der Euphorie“ und einer Stimmung, die im Keller ist, geschrieben und gesprochen. Das Titz-System  sei für Zweitligafußball nicht kompatibel, meinen einige Experten zu wissen. Und das sind ausgerechnet die zuallererst, die das schon am Anfang der Titz-Ära prophezeiten, dass dessen System nicht Erstligatauglich sei und diese Prognose nach einigen Spielen dann wortlos unter den Teppich kehrten. Stattdessen jubelten sie mit und viele machten sogar genau die Euphorie aus, die es jetzt, nach dem ersten saisonspiel mit schlechtem Verlauf schon gar nicht mehr gibt.

Wahnsinn. Hier beim HSV etwas aufbauen zu wollen, ohne dafür jeden Tag von links und rechts mit Heckenschützen rechnen zu müssen, die gestern und wahrscheinlich auch morgen wieder zu den ersten Schulterklopfern gehören, funktioniert leider noch immer nicht. Langsame Entwicklung geht hier nicht, obwohl sie alle immer wieder als die beste Lösung anpreisen. Worte und Taten liegen beim HSV weiter auseinander denn je. Früher bei den Verantwortlichen im Verein – heute bei den Außenstehenden. Und genau das ist meiner Meinung die mit Abstand größte Schwäche dieses HSV, obgleich man in den letzten Jahren wirklich auf allen anderen Ebenen auch versagt hat.

Hier heißt es nur Weltklasse – oder Versager. Dazwischen gibt es fast nichts. Dabei gab es durchaus rationale, differenzierte Erklärungen wie die der Spieler und der Verantwortlichen. Allesamt machten deutlich, wie enttäuschend schwach ihr Spiel war und dass man zu viele Fehlentscheidungen getroffen hatte. Aber sie machten auch deutlich, dass sie daran glauben, das richtige System zu spielen. An diesem Freitag eben nur erschreckend schwach umgesetzt.

Dass alles das auch an gewissen Maßnahmen nichts ändert ist logisch. Der HSV MUSS defensiv nachlegen und hat auch in Person des Sportvorstandes Ralf Becker schon bestätigt, das zu machen. Zudem muss man sich ernsthaft (weil zum wiederholten Male) Gedanken machen, ob man im offensiven Bereich ausreichend gut aufgestellt ist. Aaron Hunt darf allein ob seiner Verletzungsanfälligkeit kein derart wichtiger Schlüsselspieler sein, dass ohne ihn nichts geht. Beziehungsweise: Wenn die Verantwortlichen das dennoch so sehen sollten, müssen sie einen Backup holen.

Denn wenn das Spiel gegen Kiel eine sportliche Lehre deutlich gemacht hat, dann die, dass der HSV hier bei nur einem fehlenden Prozentpünktchen gegen jeden Gegner Probleme haben wird, seine Spiele zu gewinnen. Und hierin mögen sich viele Eurer Meinungen mit meiner unterscheiden: Aber ich glaube, das haben alle nicht nur vorher gesagt, dass es so ist – sondern das wissen sie nach diesem Auftaktspiel auch. Ich glaube, dass diese Niederlage  ein Stück Leichtigkeit aus den Aktionen der Mannschaft nehmen wird, ganz klar. Um wieder richtig selbstbewusst und mit breiter Brust die Favoritenrolle anzunehmen, müssen die verlorenen Punkte zurückgeholt und einige mehr eingespielt werden. Und ich glaube, dass das passieren wird...

In diesem Sinne, bis morgen.

Scholle

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