Marcus Scholz

16. Mai 2019

Geht es nach dem Trainingszuspruch, dann könnte es am Sonntag doch leerer im Stadion werden als alle vermutet. Gerade eimal 30 Zuschauer (und wir Journalisten) standen am Trainingsrand und beobachteten, wie (Noch-)Trainer Hannes Wolf seine Spieler auf verkürztem Feld spielen ließ. Und das Ganze hatte so etwas von Jugendfußball. Womit ich nicht die Qualität des Fußballs meine, sondern das, was wahrscheinlich alle von uns noch kennen, die selbst mal gekickt haben. Denn es wirkte in etwa so, wie früher in der Jugend, wenn man die letzte Einheit vor den Ferien hatte und sich als Mannschaft wünschen durfte, was gemacht wird. Meistens kam ein Spiel dabei heraus, in dem viel geflachst und nicht allzu intensive Zweikämpfe geführt wurden, während der oder die Trainer darauf verzichteten, großartig Anweisungen zu geben. Es war damals nicht mehr als ein lockerer Aufgalopp, denn es ging ja um nichts mehr - in etwa so wie beim HSV heute. So betrachtet war der Zuschauerzuspruch vielleicht sogar angemessen…

 

Das Spektakel, mit dem man die  Topspielpreise gegen den MSV Duisburg vor einigen Wochen noch zu rechtfertigen versuchte, fällt aus. Zumindest auf dem Platz. Intern dagegen geht es gerade hoch her. Dort erreichte das „Rette-sich-wer-kann“-Szenario seinen ersten Höhepunkt, als Vorstandsboss Bernd Hoffmann am Dienstag seinen bis dato vertrauten Vorstandskollegen und Sportvorstand Ralf Becker öffentlich kritisierte und sich dieser gestern selbst zerschoss, indem er der BILD steckte, dass man dem Trainer vor dem existenziell wichtigen Spiel gegen Paderborn dessen Aus zum Saisonende hin eröffnet hatte. Später hieß es zwar, der Sportvorstand sei falsch zitiert worden. Er hätte dem Trainer gesagt, dass dieser nur „vielleicht zum Saisonende hin gehen“ müsse - aber das rettete rein gar nichts mehr.

Vielmehr stehen alle Beteiligten jetzt da wie die Amateure - und dazu noch zerstritten. Erste Risse hatte das Becker-freundliche Fachmagazin „kicker“ ausgemacht, nachdem Hoffmann Becker öffentlich mit dem Vorwurf attackiert hatte, dass das sportliche System versagt habe. Wobei dieser Reflex Hoffmanns eigentlich niemanden verwundert. Im Krisenmodus kennt man auf Vorstandsebene halt keine Freunde mehr. Das war schon immer so, das ist nicht neu. Und angesichts der aktuellen Personalstruktur weiß Becker, dass er keine Chance haben dürfte, sich allein aus dieser Situation zu befreien. Er muss vielmehr versuchen, Hoffmann wieder hinter sich zu bringen. Denn der wiederum ist nicht nur in der Lage, den ihm übergeordneten Aufsichtsrat zu beschwichtigen. Vielmehr hört der Aufsichtsrat auf Hoffmann, nicht andersrum.

Und so klar die Machtstruktur beim HSV derzeit auch ist, die letzten Wochen mit gestern als Höhepunkt haben verdeutlicht, dass der HSV wieder in alte Muster verfällt. Sportlich enttäuschend wird öffentlich gelogen und hinter den Kulissen mächtig politisiert. Den Trainer „vielleicht“ zu entlassen, bevor man in das wichtigste Spiel der Saison geht - ein unverzeihlicher strategischer Fehler der sportlichen Leitung. Oder in diesem Fall vom gesamten Vorstand, denn in diesem besagten Gespräch mit dem Trainer waren auch Kaderplaner Michael  Mutzel und Bernd Hoffmann dabei. Allesamt trugen diese Entscheidung, die sie zu dritt nach dem Ingolstadt-Spiel getroffen hatten, also gemeinsam. Dass man das Ganze öffentlich anschließend etwas anders („Es war eine klare Entscheidung: Es gibt keine Trainerdiskussion“) formuliert, okay. Und dass sich jetzt alle versuchen, von dieser fatalen Entscheidung loszusagen - es gehört zum HSV-üblichen „Rette-sich-wer-kann“-Spielchen, das den Niedergang auch für die Zukunft manifestiert. Es gehört hier in Hamburg bzw. beim HSV längst wieder zum guten Ton. Es ist nicht neu.

„Becker spricht mit Santos-Berater“, „Becker erzielt Einigung mit Hinterseer“, „Becker holt U19-Talent vom VfL Bochum“ - so die sportlichen Zeilen, die zeigen, was hier wieder falsch läuft. Denn der Aufsichtsrat hat offenbar nicht vor, schnell zu reagieren. Besser gesagt: Es ist sogar  offen, ob überhaupt reagiert wird, wenn die Aufsichtsräte in der kommenden Woche zusammenkommen, um die Saison zu rekapitulieren. Denn anzunehmen ist, dass bis dahin der Trainer entlassen ist. Wahrscheinlich ist, dass Wolf am Sonntagabend nach dem letzten Spiel noch entlassen wird. Verkündet würde das dann per Pressemitteilung. Stilecht halt.

Die große Frage ist inzwischen eh, wer der Nachfolger wird. Die Kollegen von der BILD setzen auf Dieter Hecking. Der wird frei im Sommer und ist ein enger Freund der Redaktion. Die Kollegen von der Mopo setzen auf Bruno Labbadia als Topkandidaten und der „kicker“ glaubt an eine überraschende Lösung mit Ditmitrios Grammozis oder Markus Anfang. Letztgenannte sollen zumindest die Favoriten von Becker sein, so der Kicker-Kollege heute in seiner Ausgabe. Und so uneins sich alle bei der Nachfolger-Suche für Wolf auch sein mögen, so wissen alle, dass sich die Trainerfrage intern zum Streitthema ausweitet. Denn während Becker den forschen, entwicklungsfähigen Weg á la Wolf gern mit einem jungen zw. zumindest frischen Trainer weitergehen will, setzt Hoffmann bei der Trainersuche auf den Faktor Erfahrung. Das Ende in dieser Angelegenheit bleibt also offen - der Ärger scheint garantiert.

Funfact am Rande: Vor zwei Wochen hatten Kevin und ich uns zusammengesetzt und länger über die Themen für die lange Sommerpause gesprochen. Hätten wir gewusst, dass uns der Vorstand thematisch über die spielfreie Zeit hinweghelfen würde, wir hätten viel Zeit gespart…

Gespart werden am Sonntag wohl auch die Blumen zum Abschied der Spieler, die den HSV verlassen. Weil man Pfiffe befürchtet. Das hatte ich gestern zwar schon geschrieben, allerdings muss ich dazu noch etwas anfügen. Denn genau diese Haltung ist es, die den HSV lähmt: die Angst vor der Öffentlichkeit. Dieser HSV ist längst ein öffentlichkeitswirksam geführtes Unternehmen. Leitende Angestellte versuchen hier längst nicht mehr, mit mutigen Entscheidungen den HSV weiterzuentwickeln und ihm so ein neues, frisches Gesicht zu verleihen. Nein, Mut zahlt sich beim HSV lange nicht mehr aus. Wagt man es dennoch, wird man beim ersten Gegenwind von außen geopfert. Christian Titz kennt das Problem.

Nein, dieser HSV lernt einfach nicht dazu und läuft aktuell mehr denn je Gefahr, in seinem eigenen Muff zu ersticken. Finanziell ist man davon eh nie weit entfernt. Und sportlich ist man so schlecht wie in der 132 Jahre alten Vereinsgeschichte noch nie. Erschwerend hinzukommt, dass die neue Saison von einem inzwischen entlassenen Trainer mitgestaltet wurde. Und das auch noch zusammen mit einem Sportvorstand, dessen Zukunft internen Machtkämpfen zum Opfer fallen könnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass in der neuen Saison also ein neuer Trainer und ein neuer Sportchef/Sportvorstand mit den immer wieder als Alibi genutzten „Altlasten“ arbeiten müssen, ist fast groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass es nächste Saison sportlich ähnlich bescheiden läuft wie in dieser Saison. Nichts Neues also - womit wir offenbar das Leitbild des HSV gefunden hätten.

Und bevor ich den Blog beschließe, noch etwas Fußball: Pierre Michel Lasogga pausierte heute mit Oberschenkelproblemen, sein Einsatz am Sonntag ist offen. Khaled Narey und Julian Pollersbeck hingegen waren wieder auf dem Platz, wo Trainer Hannes Wolf im Trainingsspiel überraschend mit Vagnoman, Köhlert und Arp im vermeintlichen A-Team spielen ließ. Mal sehen, wie sich das heute um 15.30 Uhr beim nächsten Tranig darstellt.

 

In diesem Sinne, bis morgen.

Scholle

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