Marcus Scholz

21. Juni 2019

Er wusste genau, was der Sinn der Übungen war. „Jetzt macht er Regeneration“, sagte Ivica Olic, der sich zusammen mit seinem Sohn Antonio heute das Nachmittagstraining ansah. Das wiederum bestand aus einer kleinen Gruppe, die laufen musste - aber dafür früher in die Kabine durfte. Zudem hatten HSV-Trainer Hecking und seines Assistenten Dirk Bremser sowie Tobi Schweinsteiger vier Dreierteams zusammengestellt, die nach dem Aufwärmen ein Fußballtennis-Turnier absolvierten. „Er will, dass die Jungs sich bewegen und Spaß haben. Er will, dass sie nicht gleich zumachen“, so der ehemalige HSV-Angreifer, der unter Dieter Hecking 2,5 Jahre in Wolfsburg spielte und zuletzt sogar als Assistenztrainer Heckings hier beim HSV im Gespräch war. Olic war übrigens die letzten Tagen auch immer wieder mal da. Und er will auch weiter kommen. Heckings Training interessiert ihn - ebenso wie der HSV seinen Sohn Antonio, der seit frühester Kindheit ein Riesenfan ist. „Bin ich immer noch“, so Antonio mit einem gequälten Lächeln, das zeigen sollte, dass er es „trotzdem“ noch ist.

Am Ende sollte Olic senior Recht behalten. Heckings Nachmittagseinheit bestand aus unspektkulärem Fußballtennis. Eine Art aktive Erholung mit Wettbewerbscharakter. Denn je schlechter die Platzierung im Turnier, desto mehr Steigerungsläufe musste man am Ende machen. Die Gewinner waren Gotoku Sakai, Jeremy Dudziak und Edeltechniker Christoph Moritz, der  derlei Spiele liebt und beherrscht. Er besitzt sogar einen eigenen  „Teqball“-Tisch, auf dem man eine Art Fußball-Tischtennis spielt.

„Die Spielformen müssen intensiv sein. Da sieht man, dass die Jungs Vollgas geben“, hatte uns Hecking nach dem Vormittagstraining gesagt. „Nach vier Wochen Urlaub und Montag/Dienstag medizinische Untersuchung - da kann man nicht gleich in die Vollen gehen. Gestern waren sie im Wald, mit 4 x 1000 Metern und hohem Tempo.“ Auch deshalb wurde der Nachmittag heute zur regenerativen Einheit. Hecking: „Natürlich legen wir Wert auf die körperliche Fitness. Aber mir ist es lieber, wenn sie sich diese in den Spielformen holen. Bei den Werten sieht man, dass der eine oder andere zuletzt verletzt war. Da sind die Werte noch nicht ganz so, wie sie sein müssen. Aber die, die fit waren, haben sehr gute Ausgangswerte, so dass wir relativ schnell in spieltaktische Dinge einsteigen können. Diejenigen, die noch Defizite haben, da ist es nicht gravierend. Die brauchen die Substanz, um uns zu helfen.“

Hecking erklärt Schweinsteigers Maulkorb - und das nachvollziehbar

Das soll auch Tobi Schweinsteiger, dessen Redeverbot Hecking heute sehr nachvollziehbar erläuterte. Der neue Cotrainer solle sich erst einmal an alles gewöhnen, alles kennenlernen, um wirklich ein Bild zu haben, bevor er die ersten Fragen beantwortet. Vor allem soll er die Mannschaft zuerst kennenlernen - und eine Art Verbindungsglied zwischen Spielern und Trainerteam darstellen. Was der neue HSV-Trainer ebenfalls deutlich machte: Er stellte sich zum einen vor seine Leute (hier vor Schweinsteiger und die Klubverantwortlichen), zum anderen sortierte er damit die Hierarchie. Auf dem (Trainings-)Platz ist er die unangefochtene Nummer eins. Und das beinhalte zum einen die uneingeschränkte Entscheidungsgewalt - aber eben auch, Verantwortung zu tragen. Heckings Art, Dinge zu kommunizieren, zeugt immer von einer Autorität, die er ausdrücklich für sich beansprucht. Er steht oben, hinter ihm kommt mit seinem langjährigen Assistenten Dirk Bremser die Nummer zwei - und jetzt mit Schweinsteiger eben die Nummer drei. Punkt.

Einer, der hergekommen ist, um eine tragende Rolle auf dem Platz zu spielen, ist David Kinsombi. Der 23-Jährige war vor seinem Wechsel zuletzt  Mannschaftskapitän bei seinem letzten Klub Holstein Kiel und stellte sich heute vor. In dem Interview (siehe Video) ist zu erkennen, dass der defensive Mittelfeldspieler auch hier in Hamburg gewillt ist, Verantwortung zu übernehmen. Er hat die richtige Mischung aus großer Anspruchsdenken und Demut gefunden. Er weiß um die Schwere der Aufgabe in der Zweiten Liga - vor allem auch für sich selbst nach dem Schienbeinbruch aus dem Winter. Die letzten drei Wochen der alten Saison konnte er wieder trainieren. Hier beim HSV trainiert er wieder problemfrei mit, sagt er. Und obgleich er keine  Angst vor einem Rückfall hat, wie er sagt, trainiert er doch mit einem Schienbeinschoner im rechten Stutzen. „Ich würde mich totärgern, wenn ich das nicht machte und durch einen Schlag oder Tritt aufs Schienbein plötzlich zwei, drei Wochen in der wichtigen Vorbereitung verpassen würde“, so Kinsombi.

Der Marketingstudent ist der einzige im Team, der mit Stutzen bis zu den Knien trainiert. Und auch wenn er es anders sieht: Auf mich macht er noch nicht den Eindruck, als sei die schwere Verletzung abgehakt. Noch zieht er nicht voll durch. Aber das Warten auf ihn lohnt sich. Sagt auch Hecking: „David Kinsombi war so ein bisschen das Gesicht des Aufschwungs in Kiel. Er war einer der prägnanten Figuren. Durch die Schwere der Verletzung hat er das vergangene halbe Jahr verloren. Wenn er das macht, was er in Kiel gemacht hat – nämlich voranzugehen, dann wird er hier auch hier eine gute Rolle im zentralen Mittelfeldfeld finden können“, lobte ihn Hecking heute und fügte hinzu: „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Er ist ein total offener Typ. So habe ich ihn in den vergangenen Tagen wahrgenommen. Ich habe den einen oder anderen Bekannten in Kiel, die mir alle gesagt haben, dass ich mich auf ihn freuen kann.“

Douglas Santos ist zurück - und soll morgen mittrainieren

Ebenfalls freuen kann sich Hecking über die rechtzeitige Rückkehr von Douglas Santos und Rick van Drongelen. „Sie machen die sportmedizinischen Untersuchungen. Ich denke, dass sie am Sonnabend das erste Mal mit uns auf den Platz gehen werden. Özcan wird am Montag die sportmedizinischen Untersuchungen machen und am Dienstag einsteigen. Bei Janjicic ist die Rückkehr für den 29. Juni geplant. Der macht an dem Tag auch gleich die medizinischen Tests und wird am Tag darauf einsteigen. Bates wird noch etwas brauchen. Beim Einstieg am Montag hat er mir gesagt, dass er noch ca. drei Wochen braucht. Eher noch etwas länger. Bis dahin macht er Individualtraining.“

Wieder voll dabei ist Bobby Wood. Wobei das „wieder“ noch etwas zu früh ist. Finde ich. Denn ich erinnere mich noch sehr gut an Woods erste Phase beim HSV, die relativ gut wie plötzlich wieder vorbei war. Wood wurde zum Problemfall. Außer zu Papadopoulos und Aaron Hunt pflegte er in Hamburg keine freundschaftliche Beziehung. In Hannover soll er sich sogar von Beginn an komplett isoliert haben. Aktuell indes scheint er heiß zu sein - sagt zumindest Hecking: „Man sieht, dass Bobby seine Chance suchen möchte. Ich habe heute angefangen, mit dem einen oder anderen Spieler zu sprechen. Bobby wird sicher auch auf der Liste stehen. Mit ihm werde ich auch ein Gespräch führen, um zu erfragen, wie er seine Situation einschätzt und zu erfahren, warum es zuletzt in Hannover und davor beim HSV nicht so gut gepasst hat. „Mich interessiert die Vergangenheit aber wenig. Jeder hat seinen Ansatz mit jedem Spieler.“

Hecking sieht Wood auf einem guten Weg

Hecking macht, was er machen muss: Er stellt bei denen die Uhr wieder auf Null, die mit Negativerlebnissen im Gepäck kommen. Auch, weil er es muss. „Ich glaube, dass wir auch nicht in der Situation sind, Bobby Wood einfach beiseite zu stellen. Wir sind in einer Situation, in der die Baustelle Kader groß ist. Da hat jeder die Chance, sich in den kommenden Wochen so zu präsentieren, dass er dem Kader guttut. In den ersten Einheiten macht Bobby einen sehr spielfreudigen Eindruck. Er ist körperlich sehr präsent. Das sieht erst mal gut aus.“

Apropos gut aussehen:  Ich weiß nicht, wer von Euch die U21-Nationalmannschaft bei der EM in Italien verfolgt. Aber ich weiß, dass wahrscheinlich jeder hier inzwischen mitbekommen hat, dass Luca Waldschmidt groß aufgeht. Genua der Angreifer, der es beim HSV in zwei Jahren auf gerade einmal 35 Ligaeinsätze (zwei Tore, drei Assists) brachte - wobei davon nur acht Spiele von Beginn an waren. Fünf Millionen Euro hat der SC Freiburg im Sommer 2018 zahlen müssen, um den damals tief frustrierten Linksfuß ins Breisgau zu lotsen, wo er auf Anhieb 30 Spiele (16-mal Startelf, 14-mal eingewechselt) in der ersten Bundesliga absolvierte und dabei neun Tore und drei Torvorlagen schaffte. Heute ist Waldschmidt bei allen auf dem Zettel - und er hat inzwischen einen Marktwert jenseits der 10-Millionen.

Waldschmidt straft den HSV ab

Vor allem aber macht Waldschmidt das, was so viele Talente mit dem HSV machen: Er straft die Verantwortlichen mit Leistungsexplosionen bei den neuen Klubs ab. Neben ihm standen gestern übrigens mit Levin Öztunali und Jonathan Tah zwei weitere Ex-HSVer auf dem Platz, die in jungen Jahren beim HSV verkannt werden, bzw. (wie im Fall Tah zumindest) nicht gehalten werden konnten. Und das auch, weil man nicht genug Wert auf intensive Betreuung legte. Vor allem aber, weil man nicht den Mut hatte, den Talenten langfristig zu vertrauen, sie zu stützen und ihnen Fehler zuzugestehen. Im Fall Waldschmidt war das fahrlässig. ich weiß nicht, wie oft ich geschrieben habe, dass man dem schnellen Linksfuß endlich über einen längeren Zeitraum die Chance geben solle, weil er immer  für ein Tor gut ist. Und auch beim HSV sah man das ähnlich - trotzdem spielte Waldschmidt nicht.

Stattdessen ließ man ihn nach einer Verpflichtung mit seinen jungen 20 Jahren aus hier weitgehend auf sich allein gestellt. Logisches Ergebnis: Waldschmidt fasste weder sportlich noch privat wirklich Fuß. Und das änderte sich auch im zweiten Jahr nicht. Da kam es dann zu genau dem fatalen Kräftemessen, das hier in Hamburg schon viele Talente geschluckt hat: Der Trainer erwartete vom Spieler den ersten Schritt - weil er ja ansonsten auf viele andere, gute Spieler setzen konnte. 2016 waren mit Waldschmidt Spieler wie Halilovic, Kostic, Walace, Santos und Bobby Wood für zusammen knapp 40 Millionen Euro. Sie alle mussten natürlich spielen, um die handelnden Personen damals (Beiersdorfer als Vorstandsboss und Labbadia als Trainer) nicht sofort für ihre Einkäufe in die Kritik geraten zu lassen. Okay, Waldschmidt war mit seinen 1,3 Millionen Euro Ablösesumme als Talent aus Frankfurt sicher damals kein Schnäppchen - aber man hätte ihn in Hamburg dazu ausbilden können. Eben so, wie es jetzt der SC Freiburg gemacht hat.

Waldschmidts Entwicklung war abzusehen - und sollte als Mahnbeispiel dienen 

Dort hat Christian Streich die Steilvorlage des HSV mit Kusshand aufgenommen und genutzt, indem er den Frust Waldschmidts mit viel Vertrauen in Leistung umgemünzt hat. Waldschmidts Entwicklung war eine mit Ansage  - und sie ist ein vernichtendes Zeugnis für alle Beteiligten von damals. Vor allem aber ist diese Entwicklung das x-te Mahnbeispiel für alle hier Verantwortlichen, endlich den Umgang mit den Talenten grundlegend zu überdenken. „Wir müssen es so sehen: wir sind ein Ausbildungsverein“, hatte Ralf Becker bei uns im Rautenperle-Talk auf der Couch erklärt. „Endlich!“ habe ich damals gedacht. Aber bislang sind das nur Worte geblieben.

Mal sehen, inwieweit Hecking diese Haltung beim HSV verändert. Und obgleich er vom Profil her weniger der Talententwickler denn der Mann für gestandene Profis ist, so hatte er zuletzt selbst über die Aufgabe beim HSV gesagt, dass sie für ihn deshalb so reizvoll sei, weil er sich noch einmal neu erfinden könne…

In diesem Sinne, bis morgen. Da wird um zehn Uhr am Volksparkstadion trainiert.

 

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