Marcus Scholz

24. Dezember 2019

Alle, die den MorningCall hören, wissen es schon. Für alle anderen fasse ich noch einmal in aller Kürze zusammen, was heute beim HSV wichtig zu wissen ist. da wäre zum einen ein Interview von Klubboss Bernd Hoffmann, der sich optimistisch zeigt, in der aktuellen Konstellation den Aufstieg zu realisieren. Im selben Moment nennt der Klubboss den Wiederaufstieg aber auch „Geschäftsgrundlage“ und erhöht sportlich den Druck und begründet ihn nachvollziehbar mit den finanziellen Folgen . Marcell Jansen als e.V.-Präsident lobt das erste halbe Jahr und neben der sportlichen Leitung auch den Gesamtvorstand, während Adrian Fein beim FC Bayern seinen bis 2021 laufenden Vertrag verlängern soll und der Santos-Berater Haase den HSV auf 1,2 Millionen Euro vor dem Landgericht verklagt. Zudem hat das Abendblatt mit zwei HSV-Legenden Uwe Seeler und Jochen Meinke gesprochen. Herausgekommen ist ein tolles, menschliches Stück, in dem sich die beiden an ihre nunmehr 74 (!!) gemeinsamen Jahre als Freunde und Fußballkollegen beim HSV erinnern.

 

Apropos Erinnerung: Wir hatten Euch gefragt, welche Momente Euch in der Hinrunde am meisten im Gedächtnis geblieben sind. Und auch ich möchte mich heute noch einmal kurz erinnern. Zumal es bei mir meist weniger die offensichtlichen Highlights sind, die mir am meisten hängen bleiben. Dass der Jatta-Moment mit seinem Treffer gegen Hannover als Abschluss einer menschlich zu verurteilenden Zeitungskampagne gegen ihn hängen bleibt - logisch. Ein absoluter Gänsehautmoment im Volksparkstadion! Aber wenn man 20 Jahre lang Saisonvorbereitungen sieht und die dazu formulierten Ziele im Hinterkopf hat, achtet man irgendwann auf andere Dinge. Und die spielen sich vermehrt in den Tagen zwischen den Spielen ab - vor allem im Training.

Mein Eindruck der Hinrunde: Gesamtbild stimmt

Wie präsentiert sich der Trainer, ist er souverän oder spürbar angespannt? Nimmt die Mannschaften seine Ansagen an oder machen einige ihr eigenes Ding? Wenn ja: Wie reagiert der Coach darauf? Und: Wie machen sich die Neuen? Ergänzen sie den HSV nur quantitativ oder füllen sie Lücken aus und verstärken somit den Kader? Alles Fragen, die ich mir auch in diesem Sommer gestellt habe vor dem ersten Training am 17. Juni 2019.

Mit Hecking hatte der HSV kurz zuvor bereits einen neuen Trainer präsentiert, der bei seiner Präsentation schon andeutete, was man auch im Nachgang von ihm geboten bekam: Unaufgeregte Erfahrung und Souveränität. Zudem hatte der neue Sportvorstand Jonas Boldt Neuzugänge präsentiert, die nominell den HSV besser machten. Und das, ohne sich dabei mit fremden federn zu schmücken. Vielmehr wurde die Arbeit von seinem Vorgänger Ralf Becker explizit gelobt. Eben so, wie man es macht, wenn man anständig ist.

Wichtiger aber als „nominelle Stärke“ und andere Vorschusslorbeeren waren für mich die Eindrücke, die der Rest der Vorbereitung, offenbarte. Denn es kristallisierten sich schnell ein paar Faktoren heraus, die entscheidend sein sollten: Rick van Drongelen wurde als Abwehrchef immer selbstbewusster und im Mittelfeld schien der HSV mit Adrian Fein ein echtes Juwel gefunden zu haben. Denn Fein, der schon körperlich mit seiner bulligen Präsenz auffällt, dominierte das Spielgeschehen des HSV vom ersten Tag an. Im Training und in den Testspielen begeisterte er nicht nur mich am Rand immer wieder mit seiner hohen Ballsicherheit, seiner Antizipation und seinem Gespür für das Spiel. Ein  richtiger Sechser, der auch auf der Acht und ggf. auch auf der Zehn spielen kann - viel mehr konnte man nicht finden für diese Position beim HSV, die zuvor Orel Mangala besetzt hatte. Dessen Wechsel zurück zum Stammverein VfB Stuttgart hatte beim HSV die schier unlösbare Frage aufgeworfen, wie dieser Abgang kompensiert werden sollte. Und Fein lieferte nicht nur die Antwort, sondern er überkompensierte den Abgang.

Fein und Leibold bärenstark, Kittel begeistert

Dazu brillierte ein Sonny Kittel im Training und Testspielen mit seiner herausragenden (Schuss-)Technik, Hinterseer kam mit der Empfehlung von gefühlt 300 Zweitligatreffern und ein Ewerton war noch nicht einmal fit, bevor er hier (auch von mir) schon als großartige Verstärkung gefeiert wurde. Nur einen hatte man irgendwie zu Beginn nicht so übermäßig auf dem Schirm: Tim Leibold. Der sei zwar ein richtig guter Fang - aber einen Santos, der nicht umsonst zu einem Champions-League-Teilnemer wechselte, könne er eben nicht ersetzen. Die Frage war vielmehr, wie nah er rankommen würde. Und obgleich ich zu Beginn der Vorbereitung nicht sofort überzeugt war, so hat Leibold es Fein nachgemacht und die Position auf seine Art sogar verstärkt besetzt.

 

Rechne ich zu alledem noch das erfahrene Trainerteam mit Trainer-Youngster Tobi Schweinsteiger hinzu, das vom ersten Tag an einen sehr guten Eindruck hinterlässt - dann ergibt das alles ein sehr stimmiges Bild. gerade auch, weil zu erkennen war, dass die entscheidenden Brücken stabil gebaut wurden: Das Verhältnis Mannschaft zu Trainer ist stabil und gewann nicht zuletzt durch die Jatta-Affäre zusätzlich Halt. Und die Brücke zwischen Trainer(team) und Vorstand ist von gegenseitigem Respekt und vor allem auch von inhaltlich gestütztem Zusammenhalt geprägt. Hecking und Boldt machten erst wieder deutlich, was hier in Hamburg gefühlt ewig gefehlt hatte: Ein starker und vor allem auch vom Vorstand gestützter Trainer.

Und so zog ich am ersten Spieltag, als Darmstadt nach Hamburg kam, schnell Vergleiche zur Vorsaison, wo der HSV eine Art Projekt mit Christian Titz startete, hinter dem man intern aber längst nicht so stand wie hinter der Mission Wiederaufstieg mit Hecking. Und das sollte sich nach dem enttäuschenden, letztlich im Zustandekommen auch glücklichen 1:1 gegen Darmstadt auch noch einmal zeigen. Denn nervös wurde hier niemand. Im Gegenteil: Beim 4:0 in Nürnberg folgte eine Reaktion, die mir deutlich machte, dass in dieser Mannschaft alles steckt, was man braucht, um aufzusteigen. Und davon bin ich noch immer überzeugt.

1. FC Nürnberg zeigt, wie hässlich Fußball sein kann

Weil man hier inzwischen gelernt hat, Fehler zu erkennen und so anzusprechen, dass sie nicht gleich Massenpanik und Existenzängste auslösen. Nein, sie werden heckingisch unaufgeregt erkannt, analysiert und mit den vermeintlich besten Lösungen beantwortet. Im Winter in Form von Neuzugängen. Und ich bin jetzt schon gespannt, wie es sich anfühlen wird, wenn ich am 30. Januar zum ersten Rückrundenspiel 2020 gegen den 1. FC Nürnberg ins Stadion fahre. Gegen einen Gegner, mit dem ich persönlich meine nachhaltigste nicht-sportliche Erinnerung an die Hinrunde  verbinde.

Denn mit der Information ausgestattet, dass der 1. FC Nürnberg nach dem 0:4 gegen den HSV sogar eigene Ermittler angeheuert hatte, die in Sachen Jatta entscheidende, belastende Fakten in dessen Heimat Gambia finden sollten, sprach ich damals mit Nürnbergs 1. Stellvertretenden Aufsichtsratsboss Stefan Müller. Und der versicherte hoch und heilig, dass man sowas nicht machen würde. Im Off sprachen wir sogar darüber, wie man so eine Geschichte gerade in Erinnerung an Robert Enkes Freitod veröffentlichen und öffentlich noch forcieren könne. Ich war sogar kurz geneigt, Müller ob dessen Vehemenz zu glauben. Aber es dauerte keine 24 Stunden, da bestätigte sich das perfide Verhalten der Nürnberger, als bekannt wurde, wie eng sie mit der SportBild koalierten und versuchten, im Doppelpass Informationen zu bekommen, die Jattas Passfälschung beweisen würden.

 

Es war nach 20 Jahren als HSV-Reporter, in denen ich etliche zwar offensichtliche aber eben nicht nachzuweisende Betrügereien mitbekommen musste, der nächste Tiefschlag für mich als Fußball-Romantiker. Nach der schnellen Erkenntnis im allerersten Monat als HSV-Reporter im Jahr 2000, dass die Fußballer lange keine unzerstörbare Einheit,  sondern lediglich eine mal mehr und mal weniger harmonierende Ansammlung von Ich-AGs sind, ein Tiefschlag, der mir jede Hoffnung nimmt, dass sich das Business Profifußball noch mal in menschlich vertretbare Sphären zurückentwickelt. Ein trauriges Highlight, oder? Aber leider ist das Leben eben auch nicht nur bunt.

Jatta schweißt HSV zusammen - das neue Leitbild?

Und das mussten beim HSV im ersten Halbjahr der Saison einige erfahren. Leider. Jan Gyamerah verletzte sich im Training so schlimm, dass sich der Anblick seines verdrehten Beines bei mir bis heute verankert hat. Seine schmerzerfüllten Schreie höre ich tatsächlich bis heute. Dazu noch der bittere lange Ausfall von Youngster Josha Vagnoman und natürlich auch der traurige Moment, als bekannt wurde, dass Dieter Heckings Vater gestorben war. Alles Momente, die uns nachhaltiger zum Nachdenken anregen sollten.

Aber es waren auch alles Momente, die bei dem HSV von heute noch einmal verdeutlichten, dass man hier eine Einheit darstellt, wie man sie lange nicht mehr hatte. Von daher ist mein Moment der Hinrunde weniger ein einzelner als eine Summe von Momenten, in denen dieser HSV (natürlich auch aus Eigeninteresse) bewies, dass Menschlichkeit noch zählt.

Und natürlich hatte dieses Gefühl, diese Bestätigung einen Moment, in dem es besonders deutlich wurde. Und das war natürlich die 75. Minute am 1. September 2019, als Bakery Jatta den Ball zum 3:0 gegen Hannover 96 in die Maschen nagelte und nicht nur das mit 54.732 Zuschauern besetzte Volksparkstadion in Ekstase versetzte. Nein, in diesem Moment demonstrierten, oder besser gesagt: feierten Mannschaft, Trainer, Vorstand und Fans zusammen einen gemeinsam und bedingungslos loyal gemeisterten Leidensweg, der als Beispiel für den neuen Zusammenhalt bis heute dient und weiter dienen sollte. Vielleicht schafft es der HSV ja, diese gemeinsame Erfahrung so zu konservieren, dass es als DAS Leitbild der nächsten 100 Jahre gilt. Und so sehr ich den HSV auch in der Ersten Liga sehe - DAS gilt auch völlig unabhängig von der Liga.

 

In diesem Sinne, Euch allen ein paar schöne Tage im Kreise Eurer Liebsten. Genießt die Ruhe - aber schaut hier immer wieder rein. Denn wir werden natürlich auch während der Feiertag für Euch da sein. Mit spannenden Videos, mit zwei tollen Blogs aus Euren Reihen - und natürlich mit allem, was es rund um den HSV in dieser Zeit zu berichten gibt. Der MorningCall ist zudem ab dem 27. Dezember wieder für Euch da.

Vielen Dank an Euch alle!

Aber bevor ich hier für heute schließe, möchte ich mich bei meinem Rautenperle-Team bedanken. Bei Kevin, Christian, Janik und Olli, die Tag für Tag dabei sind, Infos sammeln, Videos produzieren und diesen Blog mit mir zusammen entwickeln. Aber vor allem möchte ich mich natürlich bei Euch bedanken. Im Namen des gesamten Rautenperle-Teams möchte ich mich für eine Hinrunde bedanken, die mir noch einmal deutlich gemacht hat, warum ich hier sieben Tagen die Woche diesen Blog schreibe: Weil es eben doch noch sehr, sehr viele gibt, die den Fußball lieben und mit dem HSV leiden, ohne aufzugeben.

Dabei auch noch zu sehen, wie dieser Blog seit nunmehr zwei Jahren von Tag zu Tag wächst, ohne dabei in den Diskussionen an inhaltlicher Substanz zu verlieren - DAS ist schon außergewöhnlich, das ist großartig! In Zeiten von Social Media und Fake News bilden wir hier inzwischen alle zusammen ein Eiland, auf dem ich mich nicht nur inhaltlich - sondern vor allem auch emotional zuhause fühle. Dank Euch!

 

Und wenn Ihr mir noch einen Wunsch zu Weihnachten erlaubt, dann nur eines: Ich wünsche mir, dass das hier genau so produktiv, menschlich wertvoll und inhaltsstark bleibt. Egal wie groß das Ganze noch werden mag.In diesem Sinne: Frohe Weihnachten Euch allen! Nein: Uns allen! Und bis sehr bald!

Euer Scholle

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