Marcus Scholz

20. Juni 2019

Der „Alte“ fehlte heute. Seine Tochter heiratete, daher war Cheftrainer Dieter Hecking privat verhindert. Dafür aber stand heute ein Neuer auf dem Platz: Tobias Schweinsteiger. Der neue Cotrainer soll als das mit 37 Jahren jüngste Mitglied des Trainerstabes so eine Art Verbindungsglied zwischen den Trainern und der Mannschaft sein. Der Bruder von Weltmeister Bastian Schweinsteiger ist beim HSV sowas wie der Mann mit dem Ohr am Gleis - und dem Maulkorb vom Verein. Denn Schweinsteiger, dessen private Verhältnisse dem Boulevard glamouröse Geschichten en masse versprechen, soll sich erst einmal richtig einfinden und einleben, ehe er uns Reede und Antwort steht. Sinnvoll, wie ich finde. So schade es natürlich in Sachen Berichterstattung auch ist.

Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Oder ganz genau genommen: Was nicht war, soll hier endlich werden. Denn in der großen Saisonanalyse des Vorstandes ist ein Punkt ganz maßgeblich herausgefiltert worden: Mangelnder Zugriff auf die Mannschaft. Hannes Wolf hatte selbigen demnach schon im Zuge der Wintervorbereitung verloren. Auch, weil ihm ein Typ wie Schweinsteiger fehlte. Zumindest war Wolf, dessen größte Qualität weniger der Austausch mit den Spielern bzw. die Empathie an sich ist, zunehmend selbst verunsichert und hatte niemanden, der ihm von den Strömungen innerhalb der Mannschaft berichten konnte. Er hatte sehr wohl gemerkt, dass etwas aus dem Ruder läuft und hatte auch versucht, mit seinen Mitteln gegenzusteuern. Allerdings sehr erfolglos, wie wir inzwischen alle wissen.

Schweinsteiger - der mit dem Ohr am Gleis

Jetzt also Schweinsteiger als Bindeglied und - wie es bei jeden Trainerwechsel üblich ist -  viele persönliche Gespräche zu Beginn. Aaron Hunt hatte bereits das Vergnügen, heute mit Cotrainer Dirk Bremser nach der Vormittagseinheit. Fünf Minuten lang quatschten die beiden sichtlich gut gelaunt und tauschten sich freundschaftlich aus. Es ist halt alles noch jung, frisch und dementsprechend unverbraucht - womit man auch den ersten Auftritt von Schweinsteiger umschreiben könnte.  Er beobachtete viel, lächelte und suchte den Smalltalk zwischendurch, um dann auch wieder Übungen vorzugeben und motivierende Worte zu finden. Auffällig: Wenn Schweinsteiger etwas in der versammelten Runde ansagte, bzw. etwas ankündigte, applaudierte er zum Schluss kurz und die Mannschaft tat es ihm gleich. So, wie es viele Mannschaften machen, um Zusammenhalt zu demonstrieren.

Noch auffälliger ist, dass der HSV zur neuen Saison fast alles das verändert, was er als Neuerungen vor der abgelaufenen Saison versucht hatte. Immer wieder hatte man damals betont, den mit Abstand jüngsten Kader aller 36 Profiklubs der beiden Bundesligen zu haben. Zudem holte man mit Christian Titz einen Bundesliga unerfahrenen und mit Hannes Wolf einen sehr jungen Trainer dazu. Am Ende scheiterte man auch daran, dass die Mannschaft in allen Bereichen dem Aufstiegsdruck nicht gewachsen war. Die Folge: Mit Dieter Hecking holte man einen sehr erfahrenen Trainer dazu, der wiederum auf zweitligaerfahrene Spieler auch breiteren Fußballeralters setzt.

Ewerton soll kommen - und verändert die Altersstruktur weiter

Lukas Hinterseer mit 28 Jahren dürfte hierbei sehr zeitnah von Nürnbergs Innenverteidiger Ewerton überholt werden. Denn der Brasilianer muss seine Ausstiegsklausel mit einer festgeschriebenen Ablösesumme von gut 2 Millionen Euro bis End eJuni ziehen. Und der HSV hat signalisiert, ihn selbst dann verpflichten zu wollen, wenn man bis dahin noch keinen Spieler verkauft hat. Und auf diesem Gebiet deutet sich nichts an. Oder besser: noch nichts. Denn sowohl bei Douglas Santos als auch bei Pollersbeck, van Drongelen und Sakai behaupte ich, wird es noch Interessenten geben. Die Frage hierbei wird nur sein, ob die einhergehenden Ablöseangebote ausreichen. Bei Santos wäre das ein zweistelliger Millionenbetrag, bei Pollersbeck eine Summen in der Nähe seiner damaligen Kosten (kam für 3,5 Millionen Euro aus Kaiserslautern). Und bei van Drongelen sollten es rund fünf Millionen Euro plus werden - so hofft man zumindest.

Wobei meine Hoffnungen vielmehr die sind, dass der HSV einen guten Abnehmer für Spieler wie Kyriakos Papadopoulos findet. Für Spieler, deren Verletzungsanfälligkeit im krassen Gegensatz zu den Erwartungen an sie steht und die zudem noch viel Gehalt kosten. Oder für Spieler wie Bobby Wood, die hier in Hamburg schon einmal an ihrer Bocklosigkeit gescheitert sind. Denn gerade diese Mentalität gilt es hier in seinen Anfängen zu unterbinden, worauf auch die Neuzugänge hindeuten. Mit Kiels Ex-Kapitän David Kinsombie, Talent Adrian Fein sowie Bochums Toptorjäger Lukas Hinterseer und dem offenbar immer gut gelaunten Jan Gyamerah hat man sich ebenso gutes Zweitliganiveau wie positive Stimmung dazugeholt. Mit Daniel Heuer-Fernandes und Sonny Kittel sind zwei Mentalitätsspieler mitaußergewöhnlich großem Entwicklungspotenzial dazugekommen.

 

Und mit Jeremy Dudziak hat der HSV einen Spieler, der beim Stadtrivalen als „schlampiges Genie“ galt. Der öffentlich ebenso wortkarge wie intern durchaus extrovertiert auftretende Linksfuß musste das eine oder andere Mal wieder in die Spur gebracht werden, brachte es aber in vier Jahren beim FC St. Pauli auf mehr als 90 Zweitligaspiele und erfüllten seiner Mutter damit einen Traum - denn die ist riesengroßer St. Pauli-Fan. Dass sie jetzt nicht allzu erfreut sein dürfte, dass ihr Sohn  (selbst früher Bayern-Fan) beim verhassten Stadtrivalen HSV spielt - logisch.

Dudziak enttäuscht seine Mutter mit dem Wechsel zum HSV

Ob er sie vorher gefragt habe, was sie zu einem Wechsel zum HSV sagen würde? Dudziak lächelt. „Ich habe ihr zumindest Bescheid gegeben, als es weit war…“ Dudziak, der flexibel im Mittelfeld sowie auf den Außenverteidigerpositionen einsetzbar ist, wirkte heute insgesamt noch sehr ruhig. Und da ich Sonny Kittel bei seinem Auftritt schon wortkarg nannte, belasse ich es auch bei der Beschreibung „ruhig“. Aber, und darauf setze ich: Ich glaube, dass sowohl bei Kittel als auch bei Dudziak der Respekt vor der Wirkung ihrer Worte in der Öffentlichkeit dafür sorgt, dass sie noch nicht so recht aus sich herauskommen. Und auch das ist eine gesunde Form des Respekts vor der neuen Aufgabe. Dass sich dieser schnell verändern kann, wenn die ersten guten Auftritte gezeigt sind - logisch.  Auch dazu neigt der Fußballer an sich. Das haben wir schon oft erlebt in Hamburg. Es setzt aber eben auch voraus, dass diese Spieler zunächst einmal Leistung zeigen - und dann reden. Und das war in Hamburg längst nicht immer so. In letzter Zeit sogar viel zu selten. Von daher verändert der HSV zweifelsfrei seine Altersstruktur im Kader - aber eben auch die Mentalität der Mannschaft. Und damit reagiert man auf das, was man als einen der Hauptgründe fürs Scheitern in der Vorsaison ausgemacht hatte.

Und das ist bei aller angebrachten Kritik darüber, dass man hier innerhalb eines Jahres erneut alles eintest und neu aufbaut, nicht verkehrt.  Sollte das Konzept von Hecking, Boldt, Bremser, Schweinsteiger und Co. aufgehen, dürfen wir uns auf eine Mannschaft freuen, die weniger sabbelt und mehr macht. „Arbeiten. Dann arbeiten, noch mehr arbeiten - und dann kommt das Reden“, hatte Hecking erklärt. Und um im neuen HSV-Jargon zu bleiben: Das hat mich gepackt. Es ist zumindest ein Weg, der nach einem Plan aussieht. Ich kann nur hoffen, dass der HSV diesem Plan auch endlich mal ausreichend Geduld schenkt. Denn dass die hier in Hamburg fehlt, das ist nicht erst seit der letzten Saison offen sichtlich und eines der größten Probleme überhaupt gewesen.

Das Frage nach ausreichend Geduld wird sich auch in der neuen Saison stellen

In fünf Wochen beginnt die Saison und in knapp drei Monaten werden wir in etwa sehen können, ob sich die neue Mentalität beim HSV auch wie erhofft durchsetzt. Dass das nur funktioniert, wenn der Erfolg einhergeht, ist allen bewusst. Auch Dudziak: „Diesen Druck kennen wir. Der ist immer da. Und der ist auch gut.“ Wobei, sollte der Druck dann doch mal zu groß werden, wie es dem einen oder anderen HSVer in der abgelaufenen Saison passiert ist, ist ja ab sofort ein neuer Ansprechpartner im Team…

In diesem Sinne, bis morgen. Da wird wieder um zehn und um 15.30 Uhr trainiert. Bislang sind beide Einheiten für draußen, also auf den Trainingsplätzen angesetzt. Und ich werde Euch morgen Abend davon berichten, nachdem ich wie immer um 7.30 Uhr mit dem MorningCall bei all denen von Euch aufschlagen werde, die sich einen schnellen Überblick über alle Geschehnisse machen wollen.

Bis dahin!

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