Marcus Scholz

19. September 2018

Es wird eine Zeitlang dauern, bis sich alle an die neue Liga gewöhnt haben  
Bei diesem personellen Umbruch und dem Setzen auf den „jungen Weg“ wird es Rückschläge geben  
Wir müssen Geduld haben  
Es geht nur darum, wieder aufzusteigen  
Wir dürfen niemanden unterschätzen und haben viele harte Duelle vor uns  
Dieser HSV braucht wieder eine Idee, eine Philosophie

Nur eine kleine Auswahl von Aussagen, die nach dem Abstieg und vor dem Beginn der neuen Saison inflationär gebraucht und ebenso von allen als richtig abgefeiert wurden. Klar, klingt ja auch alles vernünftig. Das Problem beim HSV ist aber, dass diese Sätze eben nur so lange gelten und befolgt werden, bis die eigene Überheblichkeit wieder Einzug hält. Intern wie extern reichen plötzlich keine Siege mehr, wenn sie nicht zugleich hoch dominant erspielt werden. Selbst absolut zulässige Kritik am Hamburger Spiel wird überhöht.  Die vorhandenen Schwierigkeiten, destruktive und rein auf Konter lauernde Gegner zu bespielen, führen wie gestern dazu, dass Siege sogar als unverdient bezeichnet werden. Und ich frage mich: Mit welchem Recht?

Noch mal: Natürlich stimmt im HSV-Spiel einiges noch nicht. Aber angesichts des risikoreichen neuen Ballbesitzfußballs ist das schon deshalb nicht verwunderlich, weil mit vielen neuen Spielern agiert wird. Dazu hat Titz mit Arp, Vagnoman, David und van Drongelen vier der fünf jüngsten Spieler der Zweiten Liga beim HSV eingesetzt. Insgesamt spielt der HSV mit dem jüngsten Kader aller Profiklubs - Erste Liga mit inbegriffen. Und das auch noch erfolgreich. Was also erwarten wir noch?

„Na ja, die ganzen Fehlpässe hinten raus, die Ideenlosigkeit im Mittelfeld - das muss einem Sorgen machen“, höre und lese ich immer wieder. Und ja, einem bereitet das ganz sicher Sorgen: dem Trainer. Denn der sagt nicht nur, dass man noch zu viele Chancen zulasse, sondern der übt genau an diesen Schwachstellen in fast jeder Trainingseinheit. Und er zieht sein Spiel weiterhin durch. Konsequent und gegen alle Widerstände. Es ist derzeit schwer, an der Statistik vorbei zu argumentieren - und dennoch suchen einige regelrecht danach. Finden sie nichts, bauen sie Konjunktive auf. Natürlich immer, ohne sich selbst festzulegen, also mit einem Fragezeichen. Geht's gut, wird’s nicht weiter erwähnt. Dann war es halt Glück. Im Falle einer Niederlage will man im Nachhinein sagen können: Siehste! Wir haben schon vorher davor gewarnt. Mit Objektivität, geschweige denn konstruktiver Kritik, hat das schon lange nichts mehr zu tun.

Merkt ihr, was hier schon wieder falsch läuft?

Dieser HSV kann seine Selbsteinschätzung gar nicht so runterfahren und neu beginnen, wie er es müsste. Anspruch und Wirklichkeit finden hier irgendwie nicht zusammen. Und das nur, weil sich wieder zu viele Leute im Umfeld und im HSV zu wichtig nehmen. Was das werden soll? Keine Ahnung. Aber gesund ist das nicht. Im Gegenteil. Denn wenn dem Ganzen nicht Einhalt geboten wird, bevor es Überhand nimmt, indem klare Kante gezeigt und klare Ansagen gemacht werden, dann wird sich der HSV wieder selbst schlagen.

Ralf Becker hatte zuletzt mit zwei klaren Sätzen die zweifelhaften Aussagen eines beim HSV schon allein aus sportlichen Gründen gescheiterten Spielers als falsch widerlegt. Und der Sportvorstand ist auch in diesem Fall die große Hoffnung. Denn Becker steht konsequent an der Seite des Trainers und geht den lange geplanten, gemeinsamen Weg auch bei kleineren oder größeren Problemen konsequent weiter mit. Okay, dass man die öffentliche Haltung nicht kontrollieren kann, ist logisch. Aber man kann wenigstens selbst auf dem Boden bleiben und den Leuten das richtige Maß an Demut der neuen Situation gegenüber demonstrieren.

Und das Ganze sogar mit einem Lächeln. Denn in der Liga gab es vier Siege in Folge, mit 12 (von 15 möglichen) Punkten nach fünf Spielen steht der HSV an der Tabellenspitze. Und was passiert hier? Selbst Köln wird als positives Beispiel dafür genannt, wie man in der Zweiten Liga ja eigentlich Fußball spielen muss. Die Kölner, die zwar tatsächlich attraktiven Fußball spielen, die aber gerade am Wochenende fünf Buden gegen einen Aufsteiger kassiert haben. Frage: Was bitte wäre hier passiert, wenn der HSV zuhause fünf Dinger gegen Paderborn kassiert hätte? Richtig: Der HSV wäre mit Hohn und Spott überzogen worden.

Ob der HSV mit dem von der Stimmung her ersten echten Auswärtsspiel in der Zweiten Liga endlich angekommen sei, wurde Titz heute (wie nach jedem Spiel…) gefragt. Dabei sollte sich das Umfeld diese Frage stellen. Denn rund um die Mannschaft sind leider noch zu viele noch immer nicht in der Realität angekommen, die da heißt: Zweite Liga, Fußball arbeiten und Punkte holen. Parallel dazu hat Titz die Aufgabe, die Entwicklung eines neue HSV-Weges voranzutreiben. Und das allein ist schon schwer genug. Aber einigen reicht selbst das nicht. Verliert der HSV, ist alles scheiße. Gewinnt der HSV, dann war es Glück und zumeist sogar unverdient.

„Das Umfeld in Köln ist ähnlich“, hatte mir Ex-HSV-Trainer und Köln-Sportchef Armin Veh nach dem letzten Bundesligaduell in Hamburg gesagt und hinzugefügt: „Der Unterschied ist nur, dass bei uns zwar auch - aber eben nicht nur - nach den Fehlern gesucht wird.“ Und Veh hat Recht damit. Daher verspreche ich eines: Ich werde da nicht mitmachen. Ich werde ganz normal die Kritik an den einzelnen Auftritten aufschreiben, fehlende Verbesserungen im Laufe der Saison kritisieren und Verbesserungen loben. Das Maß der Dinge ist und bleibt bei allem der Wiederaufstieg - ganz klar.

Daran werde ich den Trainer und alle anderen messen. Aber ich werde dabei nicht den Anspruch erheben, dass diese Mannschaft auf dem Weg dahin die Zweite Liga nach Belieben dominieren muss. Denn Fakt ist: Es sind beim HSV vor allem die internen wie in Teilen auch externen Kritiker selbst, die sich schon wieder zu wichtig nehmen und gar keine Besserung zulassen. Weil ihnen der Weitblick - oder wenigstens die Geduld dafür fehlt. Bei einigen reicht es schon, dass sie einfach ihre Interessen nicht ausreichend bedient sehen.

Klar, Titz’ Weg kann schiefgehen. Und er wird sich dem Urteil dann auch stellen müssen, denn er geht weiterhin von Spiel zu Spiel unverändert hohes Risiko. Gegen Dresden brachte er den 17 Jahre jungen Josh Vagnoman von Beginn an und ließ den südkoreanischen Top-Angreifer Hee-chan Hwang draußen. Er rotierte in der Startelf und kündigte an, das weiterhin zu machen, so lange die englischen Wochen andauern. Und sollte er diesen Weg punktetechnisch erfolgreich zurücklegen, „droht“ insbesondere ein Nebeneffekt: Plötzlich wissen alle, dass sie nicht nur 14 oder 15 aufstiegsreife Spieler im Kader haben, sondern sogar 20 oder mehr. Titz aktiviert schlummernde Reserven und junge Potenziale. Kurzum: Er entwickelt. Und darum geht's beim neuen HSV grundsätzlich. Da wäre ein Mindestmaß an Geduld und Vertrauen angesichts der letzten Monate allemal gerechtfertigt.

Das musste ich unbedingt mal loswerden.

Titz selbst wirkte heute angeschlagen - allerdings nur gesundheitlich. Er hat sich eine ordentliche Erkältung eingefangen. Dennoch stellte er sich heute wieder am Tag nach dem Spiel unseren Fragen und betonte selbstkritisch, dass er die Tabellenführung als nette Begleiterscheinung nicht überbewerte. Er sprach zudem an, was ihm noch nicht gefallen habe. Aber auch, was schon ganz gut war. Denn auch das gibt es… Aber seht und hört selbst:

 

In diesem Sinne, morgen ist frei. Und am Freitag geht es dann mit einer nicht öffentlichen Einheit weiter. Ich melde mich morgen wieder bei Euch!  Wobei, nein: Tobias Escher meldet sich morgen bei Euch mit seiner vollumfassenden taktischen Analyse des Spiels in Dresden. Und das mit sehr interessanten, neuen Erkenntnissen, weshalb der HSV noch Probleme hat, sein System über 90 Minuten durchzuziehen. Aber eben auch, weshalb die Gegner noch viel mehr Probleme mit dem HSV haben...

Zweifelsfrei mal wieder sehr lesenswert.

Bis dahin, Scholle

 

BREAKING:

Bernd Hoffmann hat einen neuen Dreijahresvertrag als HSV-Vorstandsvorsitzender unterschrieben. Als Präsident tritt er per sofort zurück. Das Amt des e.V._Präsidenten muss damit neu besetzt werden. Die Pressemitteilung im Wortlaut:

AUFSICHTSRAT BESTELLT BERND HOFFMANN ZUM VORSTANDSVORSITZENDEN BIS 2021

DER 55-JÄHRIGE LEGT SEIN AMT ALS VEREINSPRÄSIDENT MIT SOFORTIGER WIRKUNG NIEDER.

Der Aufsichtsrat der HSV Fußball AG hat Bernd Hoffmann zum Vorstandsvorsitzenden bis 2021 bestellt. Der Aufsichtsratsvorsitzende Max-Arnold Köttgen sagt: „Diese strategische Entscheidung wurde von unserem Gremium einstimmig getroffen. Wir sind überzeugt, dass die bisherige Interimslösung auch auf Dauer sinnvoll und zielführend für den HSV ist. Wir haben weiterhin schwierige Aufgaben vor uns, die es mit einem starken Vorstandsteam anzugehen gilt.“

Hoffmann, der das Amt des Vorstandsvorsitzenden seit Ende Mai 2018 kommissarisch bekleidet hatte, wird sich ab sofort vornehmlich um die Belange der HSV Fußball AG kümmern. Sein Amt als Vereinspräsident legte er mit sofortiger Wirkung nieder. „Ich freue mich über das Vertrauen des Aufsichtsrates“, sagt er.

FAQs

 
 

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