Marcus Scholz

24. Februar 2020

Heute ist kein wirklich guter Tag. Zu viel brauner Jubel in Hamburg - und das hat unterschiedliche Gründe, wobei ich nur einen davon aufgreifen möchte. Denn dieser eine Grund ist die Derbypleite vom Wochenende, die sicher bei allen HSVern noch nachwirkt. Spiele gegen den Stadtnachbarn sind vielleicht nur so viel Punkte wert wie alle anderen 32 Zweitligaspiele der Saison. Aber Derbys haben eben doch eine andere Bedeutung. Vor allem für die Fans beider Klubs. Auch deshalb hat Aaron Hunt ungewollt weit daneben gelegen, als er sagte, es sei eben nur eine Niederlage. Denn die Niederlage vom Sonnabend hat den HSV in der Tabelle den zweiten Platz gekostet und gezeigt, dass die Mannschaft von Trainer Dieter Hecking selbst nach drei Siegen aus vier Spielen nicht über die Sicherheit verfügt, ein 0:1 - geschweige denn ein 0:2 - wegzustecken und weiter dominant aufzutreten. Die Frage ist nur, ob das psychologische oder sportliche Gründe hat.

Dem HSV würden weiterhin spielerische Lösungen fehlen, hatte ich am Sonnabend nach dem Spiel geschrieben. 70 Minuten klang nach dem 0:1 fand der HSV keine Mittel, seinen Ballbesitz von 70 Prozent in Torchancen umzumünzen. Stattdessen kassierte man das 0:2 und ein 0:3, das (diskutabel) aberkannt wurde. Der "Kicker" und auch unser Analyst Tobias Escher haben das in ihren Bewertungen ähnlich geschildert. Wobei sich unser Taktikfuchs (Ganzer Artikel hier) letztlich auf die psychische Komponente als Hauptmanko festlegte:

Der Grund für die Niederlage lag eher in der Psychologie als in der Taktik begründet. Der HSV hatte in den ersten zwanzig Minuten durchaus Lösungen gegen St. Paulis mannorientierte Defensive. Diese Lösungen konnten sie nach dem 0:1 aber nicht mehr abrufen. Zu nervös waren die Hamburger, zu groß war die Angst vor der zweiten Derby-Niederlage in einer Saison.

Ich weiß ziemlich genau, wie HSV-Trainer Dieter Hecking reagieren würde, wenn er darauf angesprochen würde: Er würde es leugnen. Vehement sogar. Er würde sich vor die Mannschaft stellen und sie stark sprechen. Womit wir zu dem Problem kommen, wie ich es sehe. Denn meiner Meinung nach resultiert die Unsicherheit aus den fehlenden Lösungen. Wie schon zweimal gegen Darmstadt und den FC St. Pauli sowie in Wiesbaden, Kiel, Bielefeld, Osnabrück und Sandhausen sind wiederkehrende Probleme wie fehlende spielerische Lösungen gegen vermeintlich unterlegene Gegner durchaus als Zeichen für ein bestehendes Qualitätsdefizit zu werten. Behaupte ich. Auch dann, wenn man nominell die Qualitäten im Kader hat.

Heckings Selbstkritik war/ist berechtigt

Und deshalb sehe ich die Selbstkritik von Hecking auch nicht als selbstlos oder als Alibi für die Mannschaft an, sondern als schlichtweg gerechtfertigt. Gegen den FC St. Pauli waren Letschert, Schaub und Co. auch nach dem 0:1 und 0:2 spielbestimmend. Aber ohne klare Linie. Denn wie Tobias es schon geschrieben hat, wurden weder konsequent die Eins-gegen-Eins-Duelle gesucht, noch positionell rochiert, um Räume zu gewinnen. Die taktischen Wechsel fruchteten nicht. Weil die dazugehörigen Anweisungen bei der Mannschaft nicht ankamen, wie Hecking zugab. Zum anderen aber eben auch, weil die eingewechselten Spieler nicht die Qualität auf den Platz brachten, die sie nominell haben.

Martin Harnik steckt seit Wochen im Tief, David Kinsombi schon seit Monaten. Lukas Hinterseer war es bislang nicht - musste jetzt aber trotz zuvor fünf Treffern aus sechs Spielen auf der Bank Platz nehmen, ehe er als Einwechselspieler weitgehend wirkungslos blieb. Den Österreicher wird das in seinem Selbstvertrauen nicht wirklich gestärkt haben, während der für ihn spielende Joel Pohjanpalo unterstrich, eher ein Joker denn ein Startelfspieler zu sein. Schon diese Entscheidung dürfte ausreichen, um Hecking seinen Teil an der Derbypleite zuzugestehen. Wichtiger als das wird aber sein, dass der HSV schon am Sonnabend beim FC Erzgebirge Aue (Dritter in der Heimtabelle) Mittel findet, seine nominelle Qualität in Ergebnisse umzusetzen. Denn nur darauf kommt es an.

 

Ich habe diesbezüglich gerade mit einem Stuttgarter Kollegen gesprochen, der mir aus Stuttgart in der Hinrunde sehr ähnliche Probleme geschildert hatte. Auch der VfB hatte spielerische Überlegenheiten nicht in die entsprechenden Siege ummünzen können. Er sagte mir damals beim Trainerwechsel, dass der VfB sein Problem jetzt abgelegt hätte. Bislang hat er (aus HSV-Sicht leider) Recht behalten. Ich diskutiere oft mehr über den HSV, als mir Recht ist. Mit meinem Stuttgarter Kollegen ebenso wie mit vielen Freunden, die mich ob meines Jobs immer wieder auf den HSV ansprechen. Und eine Sache ist nicht nur bei mir vordergründig, sondern bei allen: Die Defensive.

HSV hat defensiv und offensiv ein Tempoproblem

Denn obwohl der HSV bislang nach Bielefeld die wenigsten Gegentore kassiert hat, ist ein Tempodefizit in der Innenverteidigung nicht mehr zu leugnen. Auch jetzt im Derby gegen den FC St. Pauli war das bei dem ersten Gegentreffer deutlich zu erkennen. Rick van Drongelen und Timo Letschert haben die richtige Mentalität, um immer alles für die Mannschaft zu geben.  Auch das ist wichtig. Aber das allein reicht nicht. In einigen wichtigen Momenten treffen sie schlichtweg die falsche Entscheidung. Wie gegen Pauli, wo van Drongelen auf ein taktisches Foul gegen den schnelleren Henk Veerman verzichtete und das Laufduell verlor. Da die eigene Offensive leider nicht in jedem Spiel mindestens zwei Treffer erzielt, reicht ein Gegentreffer schon, um den Sieg zu verpassen. Diesmal wurden es sogar zwei…

Alternativen in der Defensive bieten sich für Trainer Dieter Hecking allerdings kaum. Der Brasilianer Ewerton ist keinen Deut schneller als seine niederländischen Konkurrenten. Soll heißen, es kommt hierbei vor allem darauf an, gestaffelt zu stehen oder einfach die Bälle weit weg vom eigenen Defensivbereich zu halten. Letzteres geht dabei nur, wenn das eigene Offensivspiel schon im defensiven Mittelfeld beginnend funktioniert. Und hier wiegen die beiden Ausfälle von Jeremy Dudziak und Adrian Fein doch deutlich schwerer als man zunächst angenommen hat. Auch der viel gelobte Gideon Jung kann dieses Defizit nicht auffangen.

Ausfälle von Dudziak und Fein wiegen (zu) schwer

Auf meine Frage hin, ob sich durch die personelle Umstellungen von Adrian Fein hin zu Gideon Jung etwas am Spielsystem verändern würde, hatte Hecking geantwortet: „Nein.“ Und ich behaupte, mit dieser Antwort lag/liegt er falsch. Denn bei Jung ist zu erkennen, dass er nach Ballgewinn deutlich länger braucht, um eine Anspielposition zu finden. Vor allem aber kurbelt er das Offensivspiel damit nicht an, sondern geht oft auf den sicheren Querpass. Das wiederum kostet Zeit und ermöglicht es dem Gegner, sich defensiv wieder zu sortieren, ehe der HSV das Überraschungsmoment zu nutzen wusste. Gleiches gilt aktuell übrigens für Aaron Hunt, der nicht im Ansatz das Tempo ins Offensivspiel bringen konnte, wie Jeremy Dudziak zuletzt. Dessen Ausfälle machen sich beim HSV immer besonders stark bemerkbar, finde ich.

 

Ergo: In der Defensive ist man zu langsam, in der Offensive momentan ebenso. Und wenn der Mittelstürmer nicht wie gewohnt funktioniert, man dann auch noch darauf verzichtet, über die Außenbahnen und im Eins-gegen-Eins Risiko zu gehen und Räume zu schaffen und seinen Topjoker schon auf dem Platz hat - dann kommt heraus, was wir am Sonnabend im Derby gesehen haben, nämlich nichts. Das einzig Gute daran: Es sind alles komplett irdische, hausgemachte und lösbare Probleme für einen guten, erfahrenen Trainer mit einem guten Kader.

Aue war schon einmal ein guter Prellbock

Von daher dürfen wir hoffen, dass Heckings Selbstkritik keinen populistischen Hintergrund hatte sondern einer klar analysierten Einsicht geschuldet war, die schon gegen Aue in Lösungen mündet. So deutlich wie im Hinspiel, wo man gegen den FC Erzgebirge Aue 4:0 im eigenen Stadion gewinnen konnte, muss es nicht gleich werden. Aber auch ein 1:0 bedeutet drei Punkte. Und die braucht der HSV dringend.

Von daher wird es sehr interessant sein, die nächsten Tage über das Training zu beobachten. Ich werde das schon morgen um 10 und um 15.30 Uhr für Euch machen und Euch am Abend davon berichten. Zuvor gibt es natürlich wieder um 7.30 Uhr im MorningCall die volle Dosis HSV-Information. Bis dahin wünsche ich Euch allen einen schönen Montagabend!

Scholle

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