Guido Müller

13. Oktober 2020

Gestern war ich am Volksparkstadion. Wollte einfach mal mit eigenen Augen sehen, ob Daniel Thioune die Wohlfühl-Oase etwas trockengelegt hat. Eines vorweg: an der Intensität der zweistündigen Trainingseinheit gab es meines Erachtens nichts zu bekritteln. Einem gut viertelstündigen lockeren Aufgalopp folgten Sprints über eine kleine Steigung (nicht zu vergleichen mit dem berühmt-berüchtigten Magath-Hügel in Wolfsburg - oder war es auf Schalke?) - aber immerhin.

Danach standen über mehr als eine halbe Stunde hinweg Pässe auf dem Stundenplan. Also das saubere Aufbauspiel von hinten heraus. Direkt, nur mit einem Ballkontakt. 

Die Torhüter Sven Ulreich und Daniel Heuer Fernandes wurden zur selben Zeit vom Co-Trainer ins Schwitzen gebracht. Einen Qualitätsunterschied zwischen den beiden konnte ich dabei keinen ausmachen. Aber das liegt an der Natur der Dinge: im Training war ich auch immer Weltmeister. Im Spiel hingegen: na ja. Schwamm drüber. Ist lange her. 

Doch Heuer Fernandes scheint den Kampf gegen die scheinbar übermächtige neue Nummer 1 anzunehmen. Und davon kann am Ende auch der HSV nur profitieren. 

Training ohne sieben

Fehlen taten übrigens gestern sieben Spieler auf dem Platz: Amaechi war mit der englischen U-20-Nationalmannschaft unterwegs, Leibold verletzt, Terodde blieb lieber im Kraftraum (dabei ging es, seinem Trainer zufolge, aber nur um Belastungssteuerung), Ambrosius und Wintzheimer sind bis auf weiteres in Corona-Quarantäne und David Kinsombi und Josha Vagnoman absolvierten ein mit Ballverarbeitungs-Aufgaben angereichertes Lauftraining. 

Gegen halb zwölf bat dann Thioune auch seine beiden Keeper zum Rest der Mannschaft und es gab ein intensives Abschlussspiel auf verkürztem Feld. 

Bis an den Rand ihrer Belastungsgrenze wurden die Profis offensichtlicherweise nicht getrieben - aber das ist zu diesem Zeitpunkt der Saison auch gar nicht von Nöten. Denn wir stehen am Beginn der Spielzeit (auch wenn wir schon Mitte Okober haben), und für das grobe Konditionsbolzen war schließlich die Sommervorbereitung da.

Ich habe versucht, ein wenig die Atmosphäre innerhalb der Mannschaft aufzunehmen, so gut das eben geht als Außenstehender (und mehr als fünfzig Meter vom Geschehen entfernt), und meine, eine positive Stimmung vorgefunden zu haben. Aber wie gesagt: Die Saison ist noch jung. Gerade erst geboren. Die wirkliche Crunchtime kommt erst ab der Rückrunde. Noch ist alles irgendwie im Honeymoon-Modus. Spieler und Trainer lernen sich immer noch kennen und mussten bis auf den Pokal-k.o. (und der ist ja fast schon jährliche Tradition) auch bisher noch keine Täler gemeinsam durchschreiten. 

Ich kann auch ehrlich gesagt gut auf solche Täler verzichten. Aber die Wahrscheinlichkeit sagt mir: sie werden kommen. Und wie die Mannschaft (und Trainer) dann miteinander umgehen, wird über vieles von dem entscheiden, das sich der Klub vorgenommen hat. Wobei: eigentlich hat er sich ja gar nichts vorgenommen. Offiziell zumindest. Kein A-Wort, kein “wir müssen natürlich jetzt rauf in die Bundesliga”. Step by step - und das ist im Fußball immer noch die beste Herangehensweise. 

Step by step - wie auch der HSV insgesamt sich in den letzten zwölf Monaten neu aufgestellt hat. Man muss sich vergegenwärtigen, dass noch im Mai 2019 der Trainer, der Sportvorstand und der Chef-Scout andere waren, als im Oktober 2020. Von dem Dutzend Spieler, die seitdem ausgetauscht wurden, ganz zu schweigen.

Boldt muss bleiben

Federführend bei dieser Neuausrichtung war sicherlich Jonas Boldt. Schon als dessen Verpflichtung damals bekannt gegeben wurde, durchzuckte mich eine Art Blitz der Eingebung. “Das ist er!”, waren meine Gedanken. Wobei es natürlich falsch ist, das Schicksal eines Klubs wie der HSV nur von einer einzigen Person abhängig zu machen. Und nebenbei bemerkt: bei einigen anderen Managern oder Sportvorständen oder welche Titel sie auch immer gehabt haben mögen, war ich in der jüngeren Vergangenheit (also in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren) ähnlich optimistisch. Und wurde dann doch durch die Realitäten eines besseren belehrt. 

Doch bei Boldt habe ich auch nach über einem Jahr (trotz Verpassens der letztjährigen Ziele) immer noch ein gutes Gefühl. Der Mann kommt mit seiner ruhigen, besonnenen Art überzeugend daher. Zudem hatte er bei Bayer Leverkusen in Rudi Völler einen exzellenten Lehrmeister. Und von diesem know-how, so meine Hoffnung, wird der HSV in der Zukunft profitieren. Wie er es bei einigen Transfers ja auch schon getan hat. Und bei weichenstellenden Rahmen-Personalien wie Horst Hrubesch. Und die Bosse im Aufsichtsrat dürften das genauso sehen. 

Die Thematik Vertragsverlängerung ploppte in den letzten Wochen immer mal wieder auf. Logischerweise, denn Boldts Arbeitspapier endet im kommenden Sommer. Will man also kohärent handeln, sollte man diese Kuh so früh wie möglich vom Eis kriegen. Denn schon in etwas mehr als zwei Monaten steht erneut das Transferfenster offen. 

Dann sollte ein Sportvorstand (und sein Team) das Sagen haben, der auch über den Sommer 2021 hinaus für die Planungen verantwortlich zeichnet. Ansonsten haben wir dasselbe Grundproblem wie in den vergangenen Jahren: nämlich dass Spieler von Personen geholt werden, die wenige Monate später schon nicht mehr im Verein sind. Und deren Nachfolger - nachvollziehbarerweise - wiederum eigene Vorstellungen von einer Kader-Zusammenstellung haben. Wenn sich sowas über Jahre fortsetzt (wie beim HSV leider geschehen), braucht man kein Genie zu sein, um zu erkennen, woran es hapert: an mangelnder Kontinuität. Denn das alte Sprichwort “viele Köche verderben den Brei” ist, neben seinem offensichtlichen gastronomischen Bezug, wohl extra für den Fußball-Sport geprägt worden. Auf jeden Fall bewahrheitet es sich, seit es Fußball gibt. 

Also, bitte so schnell wie möglich diese Personalie festzurren. 

Ambrosius - der Hamburger Jung als Gesicht einer neuen Ära

Wie ich es auch bei einem Stephan Ambrosius befürworten würde. Ich weiß: die Eindrücke von zwei, drei Spielen können trügen. Aber Fußball ist halt auch immer ein Stück weit ein Wettspiel. Verein XY “wettet” auf Spieler Z (indem er ihm einen Vertrag anbietet). Wettet darauf, dass Z dem jeweiligen Team helfen kann bzw sich noch entwickeln wird. 

Ich jedenfalls, vor allem unter dem Eindruck des Paderborn-Spiels, würde auf Ambrosius wetten. Das tut der HSV wohl insgeheim auch. Die Frage ist: wieviel Geld ist ihm diese “Wette” wert? Ich weiß nicht, was Ambrosius bislang für ein Gehalt eingestrichen hat. Könnte mir vorstellen, dass es diesseits der 200.000-Euro-Grenze liegt. Wenn ich aber sehe, wie stabil der Hamburger Jung (das kommt noch hinzu!) in fast allen Zweikämpfen gegen die Paderborner war (zwei oder dreimal sind die gegnerischen Spieler förmlich von ihm abgeprallt wie von einer Mauer!), wie ruhig er selbst unter Drucksituationen (nach sogenannten “Schweine-Anspielen”) geblieben ist, dann muss ich sagen: für diesen Spieler sollte man sich vielleicht etwas mehr strecken. Die kolportierte (wenn auch mit einigen Tricks  schon in einigen Fällen umgangene) Gehaltsobergrenze von 600.000 Euro sollte hier ausgereizt werden. 

Das wäre für einen interessierten Klub, zumal wenn er aus Englands Premier League kommt, natürlich immer noch ein Witz. Und von diesem locker zu überbieten. Aber Geld sollte für einen 21-jährigen Fußballer nicht alles sein. Sich beim Klub deiner Geburtsstadt durchzusetzen (und der HSV - Vereinsbrille aufgesetzt - ist ja auch nicht irgendein Klub!) und mit ihm eventuell eine neue, erfolgreiche Ära zu prägen, ist doch eigentlich unbezahlbar. Mal sehen, wie weit Leeds United (die angeblich im Winter einen neuen Anlauf bezüglich Ambrosius planen) am Ende geht. Und wie der HSV dann reagiert. 

Zum Schluss noch ein kurzes up-date von der Corona-Front: Manuel Wintzheimer, der mit dem zuvor positiv getesteten Stephan Ambrosius die deutsche U21-Nationalmannschaft vorzeitig verlassen musste, wurde gestern negativ getestet und steht Thioune somit ab morgen wieder zur Verfügung. 

In diesem Sinne wünsche ich den Blog-Lesern weiterhin viel Gesundheit. Bleibt negativ! 

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