Marcus Scholz

20. September 2019

Nein, zu dem Thema ist erst einmal alles gesagt. Mehr war Dieter Hecking heute auf der Pressekonferenz nicht zum Thema Bakery Jatta zu entlocken. Der HSV-Trainer fügte noch hinzu, dass die neuen Vorwürfe seitens der BILD-Gruppe nicht ausreichten, um ihn zu einer neuen Reaktion zu bewegen. Er wolle viel lieber über Fußball sprechen. Und das sollte zwei Tage vor einem so interessanten Spiel wie gegen Erzgebirge Aue dann auch tatsächlich möglich sein - was ich ganz ohne jede Ironie auch so meine. Denn der FC Erzgebirge Aue ist für mich neben Sandhausen aktuell die Überraschungsmannschaft dieser Saison in der Zweiten Liga. Elf Punkte und Rang fünf sind es derzeit. Drei Siege, zwei Remis, eine Niederlage - eine starke Bilanz für Aue, nachdem man in der Vorsaison im Abstiegskampf steckte. Aktuell kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der HSV am Sonntag gegen Aue auf eine der formstärksten Mannschaft der letzten Monate trifft. Grund genug für Sportvorstand Jonas Boldt und Trainer Dieter Hecking, nimmermüde davor zu warnen, dass man die Gäste unterschätzt. „Wer auch immer denkt, die schießen wir mal eben aus dem Stadion, der irrt“, sagt Hecking und warnt vor einem alten Laster: „Genau diese Denke müssen wir hier beim HSV rauskriegen. Wir müssen davon wegkommen, dass der ‚große HSV‘, was ja aus der Vergangenheit herrührt, mal eben Aue wegschießt. Das wird nicht passieren. Wer mit dieser Einstellung ins Stadion kommt, der wird eine böse Überraschung erleben.“

So, wie in den ersten 30 Minuten gegen den FC St. Pauli? Eher nicht, sagt Hecking und beantwortet auch die Frage nach möglichen Personalwechseln in der Startelf. „Einige haben zuletzt viel gespielt. Es gibt sicher Überlegungen, dem einen oder anderen auch mal eine Pause zu geben.“ Mit anderen Worten: Nicht nur der Gegner ist anders, sondern auch die eigene Startelf wird sich aller Voraussicht nach verändern. Erste Optionen sind Martin Harnik, Kapitän Aaron Hunt und Jeremy Dudziak, während der zuletzt schwache Khaled Narey, Sonny Kittel und auch der bislang nur langsam und mit Rückschlägen wie gegen St. Pauli seiner Bestform nährkommende David Kinsombi als Kandidaten für die Bank in Frage kommen. „Das kann passieren“, so Hecking, der noch einmal auf die aktuelle Form des Gegners hinwies: „Das ist eine gewachsen, gestandene Zweitligamannschaft, die aus ihren Möglichkeiten was richtig Gutes macht“, so der HSV-Coach, der auch Gästetrainer Dirk Schuster lobt: „Dirk Schuster weiß, wie es geht. Der steht für eine klare Ordnung auf dem Platz. Und Aue wählt aktuell den spielerischen Ansatz. Das ist keine Mannschaft, die nur mit langen Bällen auf gut Glück spielt. Das ist eine Mannschaft, die jedem Gegner wehtun kann. Diese Mannschaft ist nicht ungefährlich.“

Der HSV braucht mehr Spieler, die Verantwortung übernehmen

Um selbst wieder gefährlicher zu werden, bedarf es beim HSV mehr Verantwortungsträger im Mittelfeld. Spieler, die wie Adrian Fein offensiv jeden Ball fordern, und defensiv jedem Ball nachgehen. Spieler, die sortieren - wie es ein Kinsombi in Bestform sicher könnte. Aber, wie Ihr lesen könnt, bei Kinsombi spreche ich noch immer im Konjunktiv. Denn der Mittelfeldmann ist zwar auf einem guten Weg, sich wieder in die Form besserer Kieler Zeiten zu spielen. Aber er war am Millerntor sowohl läuferisch trotz der abgerissenen 10,82 Kilometer in 80 Minuten oft nicht auf der Höhe. Er lief schlichtweg zu viele falsche Wege, war bei Angriffen selten anspielbar und wirkte in seinen Entscheidungen - abgesehen von der Vorbereitung der Hinterseer-Chance in der zweiten Halbzeit - zu zögerlich. Und obwohl kein Spieler von sich aus draußen bleiben will, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass Hecking eine solche Maßnahme gegenüber Kinsombi nicht nur gut vertreten, sondern auch bei dem Spieler auf Verständnis hoffen kann.

 

Jeremy Dudziak wieder einzubauen birgt indes sportlich wenig bis kein Risiko. Der Ex-St.-Paulianer war bis zu seinem Reservistendasein immer bis ungefähr zur 70. Minute ein Aktivposten - ehe er kräftemäßig abbaute. Und ich tippe mal, das werden die meisten so sehen. Anders bei Aaron Hunt. Der Kapitän wird nicht nur hier im Blog sehr kontrovers diskutiert. Er sorgt bei fast allen HSV-Fans für  emotionale Diskussionen. Die einen lieben ihn, die anderen verteufeln ihn. Und ich persönlich glaube, dass Hunt eine wichtige Rolle in diesem Team nicht nur einnimmt. sondern sie auch lebt. In der Kabine ist er für alle Ansprechpartner, auf dem Platz ist er einer, der vielleicht in einigen Szenen zu langsam schaltet oder läuft. Aber er ist immer auch einer der Spieler, die Verantwortung übernehmen wollen und anspielbar sind. Gegen den FC St. Pauli war Hunt für mich einer der Faktoren zu Beginn der zweiten Halbzeit, dass das Spiel des HSV strukturierter wirkte.

Das Wechselspiel Hunt/Kittel kann gewinnbringend genutzt werden

Kittel raus und Hunt also rein -  dieses Wechselspiel klingt erst einmal unverständlich für viele. Ich aber glaube, dass dieses Wechselspiel den großen Vorteil birgt, dass Hunt seine eh immer wieder notwendigen Pausen bekommen und Kittel sich so langsam in die Rolle des Spielgestalters reinleben kann. Denn so torgefährlich Kittel in den bisherigen Pflichtspielern auch war - den Chef auf dem Platz hat er noch nicht spielen können. Im Gegenteil: Erst als im Zentrum neben fein auch Hunt die Führung annahm, kam Kittel auf Außen besser zur Geltung. Kittel ist für mich eher der Spielertyp, der jedes Spiel entscheiden und schon allein dadurch eine Ausnahmestellung einnehmen kann. Aber er ist von seinem ruhigen, eher introvertierten Habitus keiner, der Kommandos gibt, der Mitspieler stellt und der das Spieltempo bestimmt.  Schon deshalb wäre eine dauerhafte Lösung mit Kittel als Lenker im Zentrum für mich auf verlorenem Posten.

Vielleicht wird er sogar nie der Dirigent werden - aber das muss er auch nicht. Zumindest nicht bei diesem HSV. Eine solche Rolle können Fein, Hunt und ein hoffentlich bald wieder topfitter Kinsombi einnehmen. Kittel sollte stattdessen alle Freiheiten bekommen, die man als Spieler offensiv bekommen kann. Sol heißen: Er sollte auch nicht mit organisatorischer Verantwortung überlastet werden. „Sonny ist ein sensibler Typ, der Vertrauen braucht, um richtig aufzutauen“, sagt Harald Gärtner, der Kittel bei Ingolstadt als Sportchef begleitet hat. „Aber wenn man ihn machen lässt und er merkt, dass er angenommen wird - dann wird er einer der Spieler sein, die den Unterschied ausmachen können. In jedem Spiel.“ Aber ich bin mir sicher: Hecking wird das wissen und in seine Aufstellung mit einbeziehen.

Pollersbeck spielt am Sonntag bei der U21 gegen Norderstedt

Apropos entscheidende Spieler: Die hat auch Aue in seinen Reihen. Und während Hecking von Aue-Kapitän und Keeper Martin Männel begeistert ist („Fußballerisch einer der Besten der Liga, er ist quasi der elfte Feldspieler“), „muss“ Julian Pollersbeck am Sonntag zeitgleich zu den Profis bei der U21 in der Regionalliga ran. Um 14 Uhr geht es im Edmund-Plambeck-Stadion gegen Eintracht Norderstedt ran. „Er wird dort spielen, um wieder Praxis zu bekommen“, so Hecking heute, ehe er ankündigte, dass auch Tom Mickel in den nächsten Wochen häufiger in der U21 spielen soll. Und wenn ich schon bei den Reservisten bin, noch ein Blick auf die Verletztenliste. Ewerton macht zwar Fortschritte, wird aber noch einige Zeit ausfallen. Dafür kehrte Timo Letschert am Mittwoch ins Mannschaftstraining zurück. „Bei ihm sieht es gut aus. Timo ist aber immer noch ein wenig vorsichtig. Er muss jetzt das Vertrauen ins Knie wieder bekommen. Aber das war problemlos. Für Sonntag reicht es zwar noch nicht, aber vielleicht ist er nach einer weiteren Trainingswoche schon beim Spiel in Regensburg wieder im Kader dabei.“

Fazit: Es wird interessant sein, zu sehen, wie Trainer Hecking auf die Niederlage gegen den FC St. Pauli personell reagiert. Vor allem wird’s interessant zu sehen sein, wie die Mannschaft eine etwaige Rotation  umsetzt. Gehts nach Hecking, dürfte das kein Problem werden. Man würde ja immer sagen, dass der HSV einen guten, ausgeglichenen Kader habe. Und den Beweis dafür könne man jetzt gegen Aue endlich auch antreten.

Neue Beweise im Fall Jatta? Mitnichten. Nur weitere Indizien. 

Und bevor ich hier zum Abschluss noch eine Vorschau auf morgen gebe, noch ein Abschlusskommentar zum Thema Bakery Jatta. Ich hatte Euch nach den eingestellten Ermittlungen gegen Jatta schon angekündigt, dass sich die Kollegen der BILD-Gruppe damit nicht zufrieden geben werden. Allerdings hätte ich erwartet, dass sie nach ihrer bisher ausschließlich auf Indizien basierenden Berichterstattung bei der nächsten Attacke gegen Jatta mit einem echten Beweis um die Ecke kommen. Aber da habe ich mich geirrt. Stattdessen geht man den eingeschlagenen Weg komplett unbeirrt weiter. Mehr noch: Der Sportchef selbst fordert sogar eine Reaktion von HSV, Jatta und den Behörden. Viel weiter von unserem Rechtssystem und deren Auslegung (im Zweifel für den Angeklagten) kann man sich kaum noch entfernen.

Aber: Für alle, die jetzt jubeln und mich ins #TeamJatta einsortieren: Da gehöre ich nicht hin. Ich halte alle extremen Bewegungen für falsch. Und in diesem Fall kann ich von mir nicht behaupten, den Sachverhalt zu wissen, daher werde ich mich nicht auf irgendeine Seite schlagen, sondern mich schlichtweg an meinen ethisch-moralischen Werten und vor allem den in Deutschland geltenden Gesetzen entlang hangeln. Für mich ist daher ohne jede Einschränkung klar, dass Bakery Jatta so lange unschuldig und auch ausnahmslos so zu behandeln ist, bis man ihm das Gegenteil bewiesen hat. Und dafür reichen Indizien einfach nicht. Weder in den letzten Wochen noch heute.

Der Fall Jatta ist nicht neu aufgenommen - er war nie beendet

Aber wem sage ich das? Das alles werden die Damen und Herren Berichterstatter auch allesamt wissen. Für sie ist die Causa Jatta ist ein Politikum. Die BILD-Kollegen haben hier nicht etwas „wieder neu aufgegriffen“ - sie haben das Thema schlichtweg nie beendet und ihre vollmundigen Appelle für mehr Respekt, Fürsorge und Verständnis nach dem Enke-Freitod selbst mit Füßen getreten. Ich kann für den HSV und vor allem Jatta selbst nur hoffen, dass seine Version am Ende entweder bewiesen werden kann - obgleich ich ihm nie eine Beweispflicht seiner Unschuld anlasten würde. Oder aber, dass Jatta das ganze Theater, das er selbst als „Hexenjagd“ bezeichnet hatte, psychisch unversehrt übersteht. Sollte es am Ende irgendwann  doch einen Beweis für Jattas Täuschung geben, wäre das mit aller dafür vorgesehen Härte zu ahnden. Es würde aber, und da lege ich mich heute schon fest, nichts daran ändern, dass man hier in der Berichterstattung mit jeder Geschichte ohne eben diese entscheidenden Beweise sowohl gegen Gesetze als auch vor allem gegen unabdingbare Grundwerte unserer Gesellschaft verstoßen hat.

 

 

In diesem Sinne, bis morgen! Da wird um 13.30 Uhr am Stadion wieder öffentlich trainiert. Wir werden morgen wieder zusehen, Euch den bevorstehenden Gegner vorzustellen und die Ausgangslage vor dem Spiel zu skizzieren.

 

Bis dahin!

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