Simon Rösel

24. August 2020

Eine neue Saison und ein neuer Trainer bringen meistens auch eine neue Spielweise. Erst recht bei einer Mannschaft wie dem HSV, die keine feste Spielweise als Vereinsidentität hat, wie Bayern München den Ballbesitz oder der FSV Mainz 05 das Konterspiel. Neue Trainer müssen mit den Trümmern des Vorgängers zurechtkommen, denn meistens geht ein Trainer ja, weil er die Mannschaft spielerisch nicht auf Kurs bekommen hat. Diesen Sommer ist das geringfügig anders.

Der HSV hat unter Hecking einige gute Ansätze gezeigt. Spielerisch sah das besser aus, als der Dauerkrampf, den wir unter Hannes Wolf oder Markus Gisdol oder ihren Vorgängern zu sehen bekamen. Außerem wurde Hecking nicht entlassen, sondern einfach sein auslaufender Vertrag nicht verlängert. Trotzdem hatte die Mannschaft auch unter ihm deutliche Defizite, denn sonst wäre sie ja aufgestiegen. Selbst Bielefeld, die als einziges Zweitligateam in allen Saisonphasen stabil waren, haben keine alles überragende Saison gespielt. Und ein befreundeter Stuttgart-Fan bestätigte mir noch einmal, dass der VfB den Aufstieg auch nicht verdient gehabt hätte.

Im heutigen Blog schreibe ich darüber, welche Änderungen in der Spielweise ich für die neue Saison als notwendig erachte – und welche ich Ansätze ich dafür in der bisherigen Arbeit von Daniel Thioune und seinem Team erkenne. Und welche nicht. Allerdings haben die Aussagen von Thioune nach dem Randers-Spiel gezeigt, dass er auch noch lange nicht das sieht, was er sich selber erhofft. Ich konzentriere mich auf drei Überthemen: Die defensive Stabilität, die Standardsituationen und das Ballbesitzspiel. Ein paar andere Erkenntnisse ließen sich auch aus dem Testspiel gegen Midtjylland gewinnen. Allerdings sind solche Spiele im Vergleich zur zweiten Liga ein Sonderfall. Midtjylland wollte selber den Ball haben und das Spiel machen. In der zweiten Liga ist das Gegenteil der Fall wie wir in den letzten beiden Jahren gesehen haben.

Am Ballbesitz führt kein Weg vorbei

Denn machen wir uns keine Illusionen. Nur, weil der HSV nicht mehr den Aufstieg als Saisonziel herausgibt, werden die Gegner ihm nicht plötzlich alle Räume für Konter öffnen. Die meisten werden sich weiter hinten reinstellen und schauen was passiert. Das hat zwei Jahre gut funktioniert und wird auch nächste Saison das Mittel der Wahl sein, um unsere Mannschaft vor Probleme stellen. Das Spiel gegen Randers hat auch noch mal gezeigt warum.

Hecking hatte dafür Lösungen parat. Zum Beispiel Kombinationen mit Kittel und Leibold auf der linken Seite. Oder Doppelpässe der Außenspieler mit Jeremy Dudziak, der sich in den Halbräumen anbot. Daniel Thioune erbt hier also von Hecking einige vernünftige Ansätze auf die er mit seiner eigenen Philosophie aufbauen kann. Wenn er diese Ansätze überhaupt nutzen will. Er kündigte ja bereits an, mehr aus einer stabilen Defensive heraus spielen zu wollen. Außerdem mit mehr Geschwindigkeit nach vorne. Das sind grundsätzlich gute Herangehensweisen. Doch der HSV wird sich mit diesem Kader und einem Etat von 23 Mio. nicht einfach als normaler Zweitligist tarnen können, der mit überraschendem Konterfußball an die Tabellenspitze stürmt. Erst recht die Verpflichtung von Simon Terodde für 1 Jahr ist ein Signal, dass das interne Saisonziel Aufstieg lautet – allen Beteuerungen nach außen zum Trotz. Das werden die Gegner wissen und sich überlegen, wie sie dem HSV weh tun können. Wahrscheinlich wiederum mit viel Defensive, schnellen Kontern und Standardsituationen. Und ohne gute Offensivideen vom HSV wird ihnen das auch gelingen. Es ist eine Binsenweisheit, aber auch ein Terodde braucht Chancen, um Tore zu erzielen.

In der letzten Saison hakte das Ballbesitzspiel vor allem an der mangelhaften Spieleröffnung der Innenverteidiger. Spielkommentatoren bemängeln zwar oft die fehlenden Vorstöße ins letzte Drittel, doch wenn die fehlen ist das nicht zwangsläufig den Offensivspielern anzulasten. Entscheidend ist viel mehr, in welche Räume sie von hinten geschickt werden oder in welchen Räumen sie den Ball bekommen. Doch letzte Saison reichte es oft, wenn die Gegner Adrian Fein aus dem Spiel nahmen, der sich dann auch spätestens seit dem Restart im Formtief befand. Das Duo van Drongelen/Letschert wusste dann nicht mehr, wohin mit dem Ball. Selbst ohne Ballbesitz als Hauptoffensivstrategie braucht der HSV unbedingt jemanden, der von hinten heraus das Spiel eröffnen kann und dabei mehr Souveränität ausstrahlt als Letschert und van Drongelen es taten. Gerade wurde Holger Badstuber in die Oberliga-Mannschaft des VfB Stuttgart versetzt. Nur so eine Idee. Und gegen Midtjylland haben Klaus Gjasula und Jonas David haben hier ein paar brauchbare Ansätze gezeigt. Aber ob gerade David die Leichtigkeit in der Spieleröffnung auch unter Wettbewerbsdruck zeigt, bleibt abzuwarten. Das sollten wir von einem 21-jährigen auch noch nicht erwarten. Trotzdem wird der HSV Lösungen für den Ballbesitz brauchen. Spätestens im ersten Saisonspiel. Und bisher sind sie noch nicht zu sehen.

Gute Standardsituation sind Pflicht

Alle klugen Gedanken zum Ballbesitz helfen aber nichts, wenn eine Mannschaft die Basics nicht beherrscht. Wer erinnert sich von euch noch an die zahlreichen Eckenvarianten, mit denen der HSV seine Gegner in der letzten Saison regelmäßig überraschte? Richtig! Ich mich auch nicht. Es gab genau eine Variante. Vier, fünf Spieler am ersten Pfosten, die den Ball ins Tor oder zu einem Mitspieler verlängern sollten. Bezeichnend war die Szene im furchtbaren Spiel gegen Sandhausen, als die Verlängerung einmal gelang und dann kein Spieler am zweiten Pfosten stand, um den Ball zu verwandeln. Gleichzeitig haben Standardsituationen der Gegner so oft zu Toren geführt, dass ich immer Angst hatte, wenn ein gegnerischer Schütze zur Ecke oder zum Freistoß schritt – zu oft wurde meine Angst bestätigt.

Das muss sich ändern! Die Gegner des HSV müssen vor Standardsituationen Angst haben. Ansonsten können sie gefahrlos die Spieler in Strafraumnähe foulen oder Bälle zur Ecke klären und müssen danach nichts befürchten. Natürlich ist es für ein Trainerteam vor und während der Saison schwierig, alle Defizite gleichzeitig abzustellen. Aber die Standardsituationen sind ja keine besondere Fähigkeit für die man spezielle Spieler braucht, sondern wie ihr Name sagt: Standard. Auch hat die Standardabwehr selten was mit der besonderen Qualität der Spieler zu tun, sondern ist vor allem eine Konzentrationssache. Oder kennt ihr einen Spieler, der dafür bekannt ist, Standardsituationen besonders gut zu verteidigen? Ich auch nicht. Weil es keine besondere Qualität ist. Offensiv sieht das schon anders aus.

Hier muss der HSV in der neuen Saison genügend Überraschungen parat haben. Sonst können Gegner wieder in aller Ruhe den Ball zur Ecke klären, ohne dass ihrem Tor danach besondere Gefahr droht. Zumindest im Training standen bisher auch schon mehrfach Standardsituationen auf dem Programm. Gegen Midtjylland kann ich mich allerdings nur an eine Ecke erinnern. Die wurde kurz ausgeführt. Und bietet auch zu wenig Stoff, um über die offensive Qualität Standardsituationen zu spekulieren. Defensiv gab es gerade in der Anfangsphase etwas mehr zu verteidigen. Hier sah die Eckenverteidigung wenigstens nicht furchtbar aus.

Das Tor mit dem Leben verteidigen

Furchtbar ist ein gutes Stichwort. Denn furchtbar wurde es letzte Saison immer dann, wenn der HSV sich darum bemühte, dass eigene Tor konsequent zu verteidigen. Oben schrieb ich bereits, dass jede Zweitligamannschaft außer der HSV sich hinten reinstellen kann und dabei mehr oder wenig stabil ist. Besonders durch die späten Gegentoren nach dem Restart zeigte sich beim HSV hier eine eklatante Schwäche. Diese Schwäche hat aber weniger mit dem Talent oder der oft zitierten Qualität der Spieler zu tun, sondern ist in erster Linie eine Einstellungssache. Ich suche für viele Spielszenen gerne nach taktischen Erklärungen, aber der Defensive fehlte vor allem die mentale Stabilität und Ordnung. Denn während das Offensivspiel Geduld und gute Fähigkeiten erfordert, ist die Defensive auch eine Frage von Einsatz und Konzentration. Eine Mannschaft muss das Tor mit ihrem Leben verteidigen wollen. Daniel Thiounes VfL Osnabrück hat das dem HSV in beiden Spielen letzte Saison gut vorgemacht.

Das ist die Grundvoraussetzung. Denn ohne die richtige Einstellung nützt die beste Organisation nichts. Damit würde ich auch entschieden der Version des Trainerteams zum Scheitern in der letzten Saison widersprechen. Tobias Schweinsteiger sagte vor einigen Wochen im Abendblatt-Podcast, dass sie bereits im September die Fehler gesehen hätten, warum es letztendlich nicht gereicht habe. Im Winter hätten sie es dann nicht geschafft, die Mängel über den Transfermarkt zu beheben. Damit schieben sie die Verantwortung von sich weg. Wenn die Mannschaft sich in zahlreichen Spielen die letzten 20 Minuten hinten reinstellt und den Gegner damit einlädt, das Spiel zu drehen, ist das nicht nur eine Frage des Führungsspielermangels oder der mangelnden Fähigkeiten der Spieler. Es ist vor allem eine Frage, wie das Trainerteam sie auf die Aufgabe vorbereitet hat: Mental, taktisch und physisch. Und Führungsspieler müssen nicht immer verpflichtet werden, ein Trainer kann auch Spieler zu Führungsspielern aufbauen. Außer er setzt ihnen wie im Fall Hinterseer/Pohjanpalo einen Leihspieler vor die Nase und demontiert damit ihren Führungsanspruch.

Jeder Profifußballer ist von seinen athletischen und taktischen Fähigkeiten eigentlich in der Lage das eigene Tor zur verteidigen. Nicht umsonst tun sich auch Erstligisten gegen gut organisierte Zweitligamannschaften oft schwer. Der HSV muss es nächste Saison draufhaben, sich bei einem Vorsprung auch mal zwanzig Minuten vor dem eigenen Tor zu verbarrikadieren, ohne, dass der Gegner damit eingeladen wird, dass Spiel noch zu drehen. Die Frage wird es sein, welche Spieler dafür am besten geeignet sind. Gjasula ist gegen Midtjylland auf jeden Fall schon robust zu Werke gegangen. Und genau dafür wurde ja geholt. Ich könnte mir eine Innenverteidigung aus Gjasula + David/Ambrosius in der Theorie durchaus vorstellen. Und Thioune anscheinend auch. Andererseits wurde Gjasula ja in erster Linie geholt, um im Mittelfeld schlagkräftiger zu werden. Wir werden sehen, was daraus wird. Zumindest die Viererkette stand in der ersten Halbzeit mit Gjasula stabiler als in der zweiten Halbzeit. Klar, es war nur ein Testspiel, aber es werden eben nicht nur taktische Spielereien getestet, sondern auch die Arbeitseinstellung der Spieler.

Trotzdem mache ich mir um die Defensive insgesamt weniger Sorgen. Dass Daniel Thioune verteidigen lassen kann, hat er gezeigt. Osnabrück stellte lange die beste Abwehr der zweiten Liga. Und er hat ja die defensive Stabilität auch angekündigt. Aber es bleibt abzuwarten, ob er die Abwehr des HSV stabilisieren kann, ohne wie Hannes Wolf, dabei das Offensivspiel abzutöten. Bisher müssen wir leider feststellen, ist noch jeder Zweitligatrainer in Hamburg daran gescheitert, dem Team die richtige Balance zu geben.

Stabilität muss sich über eine gewisse Zeit aufzubauen. Um die Zeit dafür zu bekommen, hat die sportliche Leitung nun die neue Bescheidenheit ausgerufen. Doch die auszurufen ist leicht. Sie wirklich zu leben, wenn der Saisonstart nicht funktioniert, wird eine ganz andere Nummer. Denn wie schnell gute Vorsätze in Hamburg im Tagesgeschäft zerrieben werden, haben wir leider schon zu oft gesehen. Wie ich es schon am Anfang geschrieben habe: Der HSV wird sich mit seinem Etat, dem Terodde-Transfer und seinem Kader nicht einfach als normaler Zweitligist tarnen können. So richtig stabil sah das bisher nicht aus. Aber das muss es in dieser Phase auch noch nicht sein.

Was glaubt ihr, mit welcher Herangehensweise könnte der HSV in der nächsten Saison am ehesten Erfolg haben? Und woher könnte Stabilität kommen?

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