Philipp Marquardt

2. Juli 2020

Philipp Marquardt ist Sportjournalist und berichtet für Transfermarkt.de über den Hamburger SV und den nationalen Fußball. Für die Rautenperle schaut er sich insbesondere die Transfermarktsituation der Rothosen genau an.

Von der zu großen Erwartungshaltung und vom ungemeinen Druck haben schon viele erzählt. Vom Druck, der von Medien, Fans und dem Umfeld ausgeht und sich wie ein viel zu enges Korsett um die Protagonisten des HSV legt und nachhaltige Erfolge erschwert oder gar verhindert. All das ist nichts Neues. Nur Staub, der immer wieder aufgewirbelt wird. Beispiel gefällig?

„Vielleicht war ich im Kopf einfach nicht Profi genug. Aber das Problem habe ich ja in Hamburg nicht exklusiv. Schon viele Spieler vor mir haben es nicht geschafft, hier ihr Potenzial abzurufen. (…) Beim HSV ist es so: Spielst du und triffst nicht, sitzt du nach zwei Spielen direkt wieder auf der Bank. Ein paar Wochen später kommt dann ein neuer Trainer und alles fängt wieder von vorne an. Dazu kommen etliche Berichte, dass man schon wieder nicht getroffen hat. Da fängt der Kopf an zu rattern.“

Diese Sätze stammen von Sven Schipplock. Ja, genau. Der Schipplock, der mit seinem viel umjubelten Last-Minute-Siegtreffer beim 2:1 in Kiel die letzten Zweifel am Aufstieg auflöste – von Arminia Bielefeld. Der 31-Jährige streifte zuvor 32-mal das HSV-Trikot über. Bilanz: Null Tore. Schipplocks kritische Worte stammen aus einem „Bild“-Interview aus dem Mai 2018, als der einstige Bundesliga-Dino bekanntermaßen seinen Sonderstatus verlor.

Zwei Jahre später ist der HSV vom deutschen Oberhaus gefühlt so weit entfernt wie Dennis Diekmeier von der Torjägerkanone. Wobei: Lassen wir das. Auch Trainer Dieter Hecking missfiel das kritische Umfeld, bemängelte erst kurz vor dem Saisonfinale die angeblich immer zu schnell viel zu schlechte Stimmung. Der Druck, ja genau… Das Verblüffende an der Geschichte: Seit der Corona-Pause spielte der HSV neunmal vor leeren Rängen. Gut, es gab keinen Applaus und keine Anfeuerungen der treuen Fans. Genauso wenig aber gellende Pfiffe oder Beschimpfungen. Zumindest von der Tribüne aus kann der Druck nicht allzu groß gewesen sein.

Wenn es ins Bild passt und man von anderen womöglich tiefer sitzenden Problemen ablenken möchte, dann lässt sich das Märchen, dass rund um den HSV alle viel zu kritisch sind, natürlich immer wieder schnell herauskramen. Blöd wird’s nur dann, wenn einem die Grundlage dafür entzogen wird. Die Wahrheit, die sich auch mit Zahlen belegen lässt: Der HSV ist erneut gescheitert. Und Coach Hecking hat es aus Gründen, die noch zu erforschen sind, nicht geschafft, das fraglos vorhandene Potenzial des Teams auszuschöpfen. Warum, weshalb, wieso? Die Verantwortlichen und der erfahrene Trainer werden diese Frage intensiv besprechen (müssen).

Denn klar ist: Auf dem Papier hatte der HSV die zweitbeste Besetzung der 2. Liga, und zwar hinter Aufsteiger VfB Stuttgart. Laut „Transfermarkt“ betrug der Marktwert des Hamburger Kaders etwa 47 Millionen Euro. Stammkräfte, Ergänzungsspieler und Talente auf dem Sprung zum Profiteam miteingerechnet. Aber auch längst aussortierte Profis wie Bobby Wood. Die Schwaben erreichten einen Gesamt-Kaderwert von 59 Mio. Euro. Das Erschütternde aber: Danach folgten mit größerem Abstand Hannover 96 (34 Mio.), der 1. FC Nürnberg (28 Mio.) und Zweitliga-Meister Arminia Bielefeld (20 Mio.). Relegationsteilnehmer und HSV-Schreck Heidenheim liegt mit knapp 20 Mio. Euro auf Rang sechs. Im ersten Jahr nach dem Abstieg war der Hamburger Kader übrigens sogar 57 Mio. Euro wert. Dass der damalige Aufsteiger Paderborn mit einer 24-Millionen-Mannschaft den Ex-Dino düpierte, vervollständigt das traurige Bild.

Als „Transfermarkt“-Redakteur weiß ich, dass der Vergleich der Kaderwerte kein Abbild der wirklichen Abschlusstabelle sein kann. Aber diese Zahlen geben sehr wohl Aufschluss darüber, was unter normalen Umständen realistisch gewesen wäre. Potenzial, Leistungsdaten, Standing, Alter, die Nachfrage am Transfermarkt, marketingtechnische Aspekte – viele Komponenten spielen bei der Festlegung dieser Spielermarktwerte eine Rolle.

Oftmals hieß es im vergangenen Jahrzehnt, alle Spieler werden beim HSV schlechter. Ausnahmen? Gibt es nicht. Nun ist das leicht gesagt. Die Mannschaft erreicht ihre sportlichen Ziele von Jahr zu Jahr nicht, daher müssen zu viele Spieler zu unbeständig agiert haben. Folglich werden in der Summe alle Profis mit der Zeit schlechter. Ich machte mir vor zwei Jahren die Mühe, mithilfe der Entwicklung der Spielermarktwerte seit 2009/10 herauszufinden, was wirklich dran ist. Ergebnis: Bei etwas mehr als der Hälfte (52,3 Prozent) ist die Aktie der Spieler während der HSV-Zeit gesunken. Aber: 34 von insgesamt 88 Akteuren, die bis zum Abstiegsjahr verpflichtet wurden, verbesserten sich im Trikot mit der Raute sogar. In Prozent: 38,6.

So unfassbar karriereschädigend können Einsätze beim ruhmreichen HSV also nicht sein. Es ist möglich, im Hamburger Trikot gute Leistungen zu bringen. Ein Filip Kostic war beispielweise kein Fehleinkauf im klassischen Sinn. Sicherlich kein Führungsspieler und kein Profi, der vorwegmarschiert. Aber der Offensivmann deutete immer wieder an, zu was er in der Lage ist. Im Kollektiv mit seinen HSV-Kollegen funktionierte es am Ende zu selten, abzulesen war das letztlich an den Resultaten und der Tabelle. Was Kostic leisten kann, wissen sie bei Eintracht Frankfurt nur allzu gut.

Es wäre für alle handelnden Personen, die die Geschicke des HSV verantworten, beim Aufarbeiten der Saison und dem damit verbundenen Aufsammeln der Scherben besser, sich nichts vorzumachen und nach den tief unter der Oberfläche sitzenden Gründen zu suchen, warum es Jahr für Jahr „gelingt“, Konkurrenten mit teils deutlich schlechteren Voraussetzungen vorbeiziehen zu lassen. Dass es mit neuem Personal und dem x-ten Umbruch im nächsten Anlauf klappen wird? Keiner kann das wissen und vorhersehen. Und natürlich ist es nicht hilfreich, dass Jahr für Jahr eine hohe Fluktuation vor allem in der Führungsetage herrscht. Aber wie oft hört man von Spielern, dass sie sich um das, was außerhalb des Platzes geschieht, „keine Gedanken machen“? Und Manager und Aufsichtsräte haben noch nie Tore geschossen oder verhindert. Zumindest nach ihrer Profikarriere.

Die HSV-Mannschaft stand einmal mehr wie ein aufpolierter und zuverlässiger Wagen startklar in der Garage, um ans Ziel zu fahren – nur Hecking und seinem Trainerteam fehlte der passende Schlüssel. Vielleicht hat ihn beim nächsten Mal ein anderer Fahrer in der Hand…

P.S.: Das "Thema Jatta" haben wir nicht vergessen. Allerdings wollen wir uns mit Statements zurückhalten, bis der Sachverhalt geklärt ist. Über die Entwicklungen bleibt ihr über unseren News-Ticker bis dahin informiert. (d. Red.)

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