Marcus Scholz

19. Mai 2020

Dieter Hecking hat eine große Gabe: Ruhe. Der HSV-Trainer ist abgesehen vom Spielfeldrand eher schwer aus der Ruhe zu bringen. Und das demonstriert er. Im Training, bei Pressekonferenzen - eigentlich fast immer. Auch nach dem bitteren, späten Ausgleichstreffer gegen Fürth suchte Hecking das Positive am Spiel. Und er fand es auch.  Die zweite Halbzeit, die Fitness - vieles habe schon gepasst, so ärgerlich der späte Ausgleich auch gewesen sei. Und auch sonst gilt für den HSV-Trainer, dass er eine hohe Verlässlichkeit nicht nur einfordert, sondern sie auch lebt. Auch mannschaftsintern. Wobei ich genau da ein Problem sehe. Denn zu einem wichtigen Spieler zu halten, kann sehr wichtig sein. Seinen Führungskräften zu vertrauen, kann letztlich auch der entscheidende Impuls sein, große Titel zu gewinnen. Ich bin auch bis heute tatsächlich ein großer Freund davon. Es ist aber leider auch immer nur ein schmaler Grat zwischen produktiven Vertrauensbeweisen und Sturheit, die letztlich kontraproduktiv wird.

Bei Daniel Heuer Fernandes brennt seit Saisonbeginn die Diskussion, ob er die Nummer eins ist oder ob es nicht besser Julian Pollersbeck sein sollte. Bei Aaron Hunt ist diese Diskussion nicht erst seit dieser Saison laut. Und sie wird lauter. Auch ich zweifle zunehmend daran, dass Hecking hier richtig liegt. Ich will und werde hier nicht behaupten, dass ich es besser weiß. Ganz im Gegenteil: Ich bin mir sicher, dass Hecking zu seiner Erfahrung auch den deutlich besseren Einblick hat, was die Mannschaft im Moment am meisten braucht. Deshalb werden sich alle meine Thesen sehr eng an den Spielen, Trainingseinheiten und Gesprächen orientieren, die ich geführt habe in den letzten Monaten. Und die haben mich zu der Erkenntnis gebracht, dass der HSV sich eben nicht mehr stur auf das Prinzip der Verlässlichkeit berufen sollte. So sehr ich Hunts fußballerischen Fähigkeiten schätze, so sehr hat er inzwischen auf der anderen Seite verloren.

Dem HSV fehlt ohne Dudziak das Tempo

Wie der „kicker" ihn am Sonntag zum besten Spieler der Partie wählen konnte wird sich mir nie erschließen. Denn mir fehlte genau das, was ihn ausweichen sollte: Dass er in dem Moment am meisten Verantwortung übernimmt, wo die Kollegen am wenigsten funktionieren. Aber leider ist es bei Hunt eher anders herum. Soll heißen: Spielt die Mannschaft gut, brilliert er zuweilen. Abnehmend. Auch am Sonntag, als Adrian Fein im defensiven Mittelfeld nicht funktionierte sondern das Spiel zunehmend verschleppte, Fehlpässe spielte und Bälle verlor, fehlte mir der Spielmacher, der jeden Ball fordert und schnell umschaltet. Dass man mit zunehmendem Alter nicht schneller wird, ist mir klar.

Aber Handlungsschnelligkeit kann Sprinttempo ersetzen - und zumindest das traue ich Hunt allemal zu. So, wie beim Führungstreffer von Jeremy Dudziak in Fürth, als Hunt den Ball direkt prallen ließ und den gegen damit ausgehobelte.
Apropos Dudziak: Der gerade erst genesene Zugang vom FC St. Pauli ist für mich auch wegen Hunt unersetzlich. Denn Dudziak macht genau das, was Hunt fehlt: Er nimmt das Tempo mit, sucht das Einst gegen eins und ist handlungsschnell. Dudziak bringt Tempo ins Spiel und verschafft dem HSV Räume, die Hunt mit dem einen oder anderen Schlenker zu viel verliert. Und wenn das der Fall ist, kann der Pass danach noch so genau kommen - der Gegner hat sich wieder sortiert und kann verteidigen.

Natürlich ist Hunt einer der erfahrensten Spieler im Kader - nein, er ist der erfahrenste. Und er ist als Typ wichtig für die Mannschaft, wie nicht nur Christoph Moritz uns zuletzt gesagt hatte. Die Mannschaft schätzt Hunt ob seiner spielerischen Fähigkeiten - er gibt dem Rest Sicherheit. Dennoch behaupte ich inzwischen, dass Hunt derjenige sein sollte, der reinkommt, wenn Ruhe benötigt wird. Bis dahin aber sollte Hecking gerade im Mittelfeldzentrum mehr auf Explosivität, Kreativität und Mut Wert legen. Die jüngeren (jung sind Schaub und Co. fußballerisch längst nicht) Wilden sollten ran dürfen, um dem HSV-Spiel den Esprit zu geben, den man braucht, um eben nicht mehr Spiele wie in Fürth zu verwalten. Dass Hecking aktuell in der Phase zunehmenden Drucks Wert auf gefestigte Spieler regt - okay. Aber ein Josha Vagnoman beispielsweise hat gezeigt, dass es sich einfach lohnt, den eigenen Talenten auch zu vertrauen, ihnen Verantwortung zu übertragen. Das wird zwar nicht immer gutgehen - logisch. Aber das tut es auch mit den erfahrenen Spielern nicht mehr.

Hunt kann der Beste sein - ist es aber zu selten

Das größte Problem hierbei sind tatsächlich die Leute drumherum. Auch wir Journalisten. Wir katalysieren Kritiken. Manchmal zurecht, weil wir auch vorher schon darauf hingewiesen haben. manchmal aber auch nicht. Und bei Personalien wie  jetzt Hunt frage ich mich immer, wie ich entscheiden würde, wenn ich der Verantwortliche Trainer wäre und mich entsprechend am Ergebnis messen lassen müsste. Aktuell intensiver denn je. Vor dem Spiel in Fürth hatte ich mich mit meinen Kollegen der Rautenperle und der Tageszeitungen immer wieder darüber unterhalten. Und auch bei uns ist die Meinung: Hunt kann der Beste sein - aber er war es auch schon lange nicht mehr. Und während die einen (wie ich bis zuletzt) weiter an Hunt festhalten würden, haben die anderen sich (wie ich jetzt) dafür ausgesprochen, im Zentrum solange auf Dudziak und Schaub zu setzen, bis diese ausgewechselt werden müssen. Sollte man zu dem Zeitpunkt dann einen defensiver orientierten Mittelfeldspieler brauchen, nimmt man Kinsombi oder Moritz. Braucht man offensiveres Spiel, wäre Hunt immer noch da.

Problem hierbei: Hunt müsste die Rolle auch annehmen und sich nicht in seiner Ehre verletzt sehen. Bislang hatte ich tatsächlich den Eindruck, als würde Hecking Hunt langsam auf eben genau diese Rolle vorbereiten. Seit Sonntag zweifle ich wieder daran. Gleiches gilt übrigens für die Position des Torhüters - allerdings aus anderen Beweggründen. Denn bei Torhütern wie Daniel Heuer Fernandes hätte auch ich einen langen Geduldsfaden. Warum? Weil er es kann! Der Deutsch-Portugiese ist ein guter Torhüter, wie er im Training und in vielen Spielen schon gezeigt hat. Das heißt nicht, dass er der beste HSV-Keeper ist. Aber er wurde nunmal zur Nummer eins erklärt. Das macht aber kein Trainer einfach mal so, sondern immer sehr wohl gut überlegt. Denn genau diese Entscheidung ist in aller Regel die weitreichendste. Niemand auf dem Platz braucht mehr Vertrauen als der Torhüter. Isso…

Bei dem Torhüter gibt es nur "ganz oder gar nicht"

Und: Hätte ich heute die Wahl, für das Bielefeld-Spiel den Torhüter bestimmen zu dürfen, ich würde Heuer Fernandes aufstellen. Obwohl ich nach wie vor der festen Überzeugung bin, dass Julian Pollersbeck der talentiertere Keeper ist und der HSV mit ihm keinen Deut schlechter dastünde. Auch das aus ganz simplen Gründen. Denn zum ersten ist Pollersbeck in den letzten Monaten leider zu oft verletzt. Zum anderen hinterlässt es, die aktuelle Nummer eins auszutauschen, Spuren. Das bis dahin aufgebaute Vertrauen ist mit einem Schlag weg. Funktioniert die neue Nummer eins nicht auf Anhieb - dann mal gute Nacht! Dann hat die Mannschaft ein echtes, ein riesengroßes Problem. Vor allem auch der Trainer.

Nein, im Gegensatz zum Mittelfeldzentrum würde ich auf der Torhüterposition trotz der vielen Fehlpässe vom Sonntag nicht wechseln. Ich würde stattdessen das machen, was Hecking macht: Heuer Fernandes weiterhin das volle Vertrauen nicht nur aussprechen, sondern ihn öffentlich schützen und intern maximal stützen.

 

Der HSV kann sich Zweifel auf der Torwartposition nicht erlauben. Die werden von außen (wie hier im Blog nachzulesen) schon zur Genüge reingetragen. Auf eine Art ja auch jetzt gerade mit diesem Blog. Und egal wie, wenn der HSV am Ende aufsteigt, ist alles vorher Gesagte Makulatur. Dann hat der Trainer (fast) alles richtig gemacht. Und auch würde das (ehrlich gesagt sogar sehr gern!) dann eingestehen. Aber ich hoffe, dass der HSV bei seiner immer wieder angekündigten Neuausrichtung trotzdem den Mut hat, auch noch so altverdiente Spieler auszutauschen, wenn sie nicht mehr ans notwendige Limit kommen. Denn nichts ist schlimmer - ich behaupte: auch für die Altverdienten - als mitgeschleppt zu werden.

In diesem Sinne, bis morgen. Mit dem MorningCall, den wir in ungebrochener Konstanz um 7.30 Uhr wieder ausspielen werden, um Euch schon in den ersten Minuten des Tages zu 100 Prozent auf den Stand der Dinge zu bringen. Am Nachmittag werden wir dann natürlich auch wieder versuchen, all Eure Frage im Community-Talk zu beantworten. Bis dahin wünsche ich Euch allen erst einmal einen schönen Rest-Dienstag. Die Mannschaft wird morgen wieder um 10 Uhr unter Ausschluss der Öffentlichkeit trainieren. Bis dahin!

Scholle

FAQs

 
 

Über uns

Die Rautenperle - das ist ein Team aus jungen Medienschaffenden und Sportjournalisten mit großer Affinität zum HSV. Wir sind 24/7 bei den Rothosen am Ball und produzieren frischen Content für Rautenliebhaber.

Unser Ziel ist es, moderne, unabhängige Berichterstattung und attraktiven, journalistischen Content für junge und jung gebliebene HSV-Anhänger zu bieten. Wichtig ist uns dabei, eine neue Art des Sportjournalismus zu präsentieren: dynamisch, zeitgemäß, zielgruppengerecht. Weg von verstaubten Zeitungsspalten und immergleichen Phrasen.

Die Rautenperle ist aber nicht nur ein Ort, um sich zu informieren, sondern soll auch immer ein Ort des Austausches und des Miteinanders sein. Wir wollen eurer Leidenschaft einen Platz im Netz bieten: zum Diskutieren, zum Mitfiebern, zum Mitmachen.