Marcus Scholz

27. Oktober 2020

Am Ende ist man es immer selbst. „Ich kann als Trainer Richtungen vorgeben, nicht aber den Antrieb für den Weg dorthin“, hatte Daniel Thioune gesagt, als er sich im Sommer als neuer HSV-Trainer vorstellte.  Es läge immer am Spieler, die Portion Eigenmotivation mitzubringen, die ihn besser als andere macht, so Thioune, dessen Worte selten mehr Berechtigung haben werden in dieser Saison, als jetzt am Freitag im voraussichtlich „ruhigsten Derby aller Zeiten“, wie die Kollegen der BILD heute titelten. Denn dort müssen sich die Spieler allesamt hochfahren, ohne dass sie das Theater der rivalisierenden Fangruppen drumherum haben und  ohne die 57.000 Zuschauer, die ansonsten das Volksparkstadion zum Hexenkessel verwandeln würden. Wobei ich den zuletzt 1000 Anhängern damit wirklich nicht zu nahe treten will, denn die haben tatsächlich ordentlich Dampf gemacht…

Aber zurück zum HSV, der in den letzten Jahren wie auch diese Saison sicher als Favorit in dieses 104. Stadtderby startet – wenn auch mit zuletzt zwei Derby-Niederlagen im Gepäck. Dennoch bin ich vor diesem Spiel deutlich optimistischer als in der letzten Saison. Und das aus gutem Grund. Denn im Gegensatz zur damals immer wieder genannten individuellen Qualität, die als größter Vorzug des HSV galt, nenne ich in dieser Saison den Willen und das Teamplay als große Stärke dieses HSV – neben einer individuellen Qualität, die bei Spielern wie Ulreich, Leibold, Kittel, Onana, Doppelpack-Terodde und beim glücklicherweise wieder genesenen Jeremy Dudziak zweifellos ein Vorteil sein können. Aaron Hunt in seiner aktuellen Form gilt es hierbei sicher auch zu nennen …

Beim HSV wird der Leistungsgedanke gelebt

Dennoch, aktuell zu sehen, wie beispielsweise Simon Terodde am vergangenen Sonnabend beim Stande von 0:1 die Bälle schnell wieder ins Spiel brachte, indem er sie selbst holte – top! Zu sehen, wie die ganze Reservebank bei Toren auf den Platz stürmt - super! Und dann auch noch zu sehen, wie ein unbeschriebenes Blatt wie Stephan Ambrosius hinten alles rigoros wegverteidigte, was auch nur in die Nähe des Tores kam – stark! Dazu ein lautstarker, immer positiver und Sicherheit ausstrahlender Sven Ulreich, eine Top-Verstärkung wie Onana nach seiner Einwechslung und das von außen vorgelebte Selbstvertrauen ergeben eine Mischung, die diesen HSV vom letztjährigen maßgeblich unterscheidet. Dass auch der FC St. Pauli eine meiner Meinung deutlich gefestigtere, spielerisch wie mental  verbesserte Mannschaft hat – zugegeben! Aber das ist in diesem Fall völlig egal!

Solange Terodde und Co. nicht nachlassen und alle wie zuletzt alles versuchen und weiter an einem Strang ziehen, hat der HSV die bessere Mannschaft. Allerdings auch nur dann – womit der Faktor Trainerteam ins Spiel kommt. Ich würde Thioune zu viel loben, wurde gestern nach dem Blog hier kritisiert. Und das mag auch stimmen. Andererseits weiß ich sehr genau, wie wichtig es nunmal  ist, dass der HSV dieses Mal einen Trainer an der Seitenlinie stehen hat, der mit seinem Wirken die Mannschaft verbessert. Thioune macht Dinge anders, er hat das veraltete Hierarchiedenken beim HSV modernisiert und ist voll ins Leistungsprinzip übergegangen. Und genau hier liegt ein ganz elementarerer Unterschied zwischen Thiounes Vorgängern und ihm.

 

Alte Meriten sind schön – zählen aber nichts, wenn sie nicht in der jeweils letzten Trainingswoche bestätigt werden. So sieht es Thioune. Während der Trainer der Vorsaison, Dieter Hecking, auf eine möglichst feste Achse setzte, setzt Thioune auf Flexibilität. Er ist soetwas wie das genaue Gegenteil von Hecking. Vor allem das Spielsystem wird immer maximal auf den nächsten Gegner ausgerichtet, und damit eben auch das Personal. Da kann es schon mal passieren, dass der Matchwinner der Vorwoche plötzlich auf der Bank sitzt – und das wäre unter einem Dieter Hecking ebenso wenig wie bei den allermeisten anderen HSV-Trainern vor Thioune so gewesen.

Thioune suggeriert seinen Spielern, dass jeder immer die Chance hat, sich für das nächste Spiel zu empfehlen. Und allein das fördert die Eigenmotivation der Profis unter der Woche schon eine sehr gute Zweitligamannschaft letzte Saison anfänglich sehr gut zu verwalten wusste. Ein Gjasula musste das im negativen Sinne spüren, als er nach schwacher Leistung plötzlich vom Mentalitätsmonster und Co-Kapitän auf dem Platz zum Reservisten degradiert wurde. Ein Aaron Hunt vor ihm ebenso, bis er sich wieder in die Stammelf spielte. Fakt bei alledem ist: Thioune ist berechenbar für die Spieler. Seine Entscheidungen sind nachvollziehbar und durch den daraus resultierenden Erfolg (noch) unantastbar. Das wird sich nach Niederlagen sicher ändern, und im Laufe der Saison werden ebenso sicher auch der eine oder andere Spieler mehr oder weniger offen rummucken. Aber Thioune wird sich seinen Stand bis dahin gesichert haben. Weil sein Weg der der Spieler ist. Respektvoll und fair. Vor allem unvoreingenommen und objektiv, wie sich auch an Personalien wie beispielsweise Stephan Ambrosius manifestiert, der sich hier vom Nachwuchskicker binnen weniger Wochen mit starken Leistungen zum Abwehrchef hochgearbeitet hat.

 

Bei anderen als Thioune wäre Ambrosius sicher auch in der Startelf gewesen, allerdings wären ihm Spieler wie Leistner und Heyer (als Wunschspieler des Trainers) immer wieder vorgezogen worden. Slomka, Gisdol, Hecking und andere lobten junge Talente zwar immer – aber sie hatten einfach nicht den Mut, voll auf die Youngster zu setzen. Thioune macht das – und bleibt so authentisch. Er grämte sich auch nicht, wider alle Kritik (auch hier von mir) die Torwartposition bis in die Saison hinein unentschieden zu lassen. Und das nur, weil er vermeiden wollte, seine eigenen Worte fressen zu müssen.  Er wusste, dass er einen Spieler wie Ulreich nicht für Daniel Heuer Fernandes auf die Bank setzen würde und ging lieber das Risiko ein, von außen für diese zögerliche Haltung kritisiert zu werden, als bei der Mannschaft unglaubwürdig zu werden. Etwas, was übrigens vielen Trainern zuvor ziemlich egal war.

Thioune bleibt authentisch - und die Mannschaft folgt

Und diese Art bringt Erfolg. Thomas Doll hat diese Art in Hamburg versucht – und damit lange Zeit Erfolg gehabt. Doll und Thioune in dieser Art noch deutlich übergeordnet hat selbst Jürgen Klopp diesen Verzicht auf hierarchische Distanz zwischen ihm und seinen Mannschaften stets gelebt und sich mit ihnen gegen alle Widerstände verbündet. Er hat nach innen eine unbedingte Einheit signalisiert, und diese von seiner Mannschaft auf dem Platz zurückbekommen. Die große Gemeinsamkeit dieser drei genannten Trainer: Es ist immer ein Geben und Nehmen, ohne dass sich eine Seite wichtiger nehmen darf als die andere. Als ein Team eben – so hat es Thioune diesem HSV eingeimpft. Und genau das macht diesen HSV stärker als den aus der Vorsaison.

Apropos: Thioune gegen St. Paulis neuen Trainer Timo Schultz in dessen erster Profisaison ist vom Alter wie den Inhalten her ein scharfer Kontrast zur Konstellation der vergangenen Saison: Da standen sich die beiden Fußballlehrer Dieter Hecking und Jos Luhukay gegenüber, die es zusammengezählt auf mehr als 110 Lebensjahre und mehr als 1000 Spiele als Profitrainer brachten. Und allein das verspricht – zumindest mir – große Spannung für das Derby am Freitag, in dem sich der HSV-Coach über die Rückkehr von Toni Leistner und Jeremy Dudziak freuen darf. Während Rick van Drongelen bekanntermaßen mit Kreuzbandriss ebenso wie Bakery Jatta wegen einer Adduktorenzerrung ausfällt, kann Thioune also wieder nahezu aus dem Vollen schöpfen.

 

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle noch etwas ausführlicher auf die Personalie Jonas Boldt eingehen – aber das werde ich morgen machen. Dieses vereinspolitisch schwere Thema passt thematisch irgendwie nicht hier rein, finde ich. In diesem Sinne, bis morgen!! Da melde ich mich wieder pünktlich um 7.30 Uhr mit dem MorningCall und werde Euch am Nachmittag zusammen mit Kevin (für den urlaubenden Janik) Eure Fragen im Communitytalk beantworten. Bis dahin!

Scholle

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