Simon Rösel

7. Oktober 2020

Das Transferfenster ist zu und der Königstransfers des HSV ist ein Ersatztorwart aus der Bundesliga. Das könnte ein Zeichen sein, dass unser Verein bescheidener geworden ist. Und dass Transfers beim inzwischen eindeutiger auf die Lücken im Kader reagieren. Denn einen Torwart, der dem HSV Spiele gewinnt und Punkte rettet haben wir hier lange nicht mehr gesehen. In meinem Porträt lest ihr, wie Sven Ulreich an Drucksituationen gewachsen ist – und was er sich nicht gefallen lässt.

Druck von Anfang an

Es ist Frühjahr 2008. Der VfB Stuttgart ist noch amtierender Deutscher Meister. Doch die darauf folgende Saison läuft überhaupt nicht nach Plan. Der VfB stolpert durch das Mittelfeld der Tabelle. Eine mögliche Titelverteidigung ist schon Mitte der Hinrunde unrealistisch. Dafür wird auch neue Torwart Raphael Schäfer verantwortlich gemacht. Im Sommer kam er aus Nürnberg als Nachfolger des Meistertorwarts Timo Hildebrand, der nach Spanien zum FC Valencia gewechselt war. Doch zuvor hatte er noch mit dem 1. FC Nürnberg gegen seinen zukünftigen Verein das Pokalfinale gewonnen. Und seine ausgelassenen Jubelszenen waren den VfB Fans – und vielleicht auch manchen Verantwortlichen – etwas zu ausgelassen.

Nach einigen unglücklichen Auftritten stand er so stark in der Kritik, dass Trainer Armin Veh sich zu einem Wechsel entschloss. Am 19. Spieltag zum Heimspiel gegen Hertha BSC Berlin stellte er einen neuen Torwart auf. Den 19-jährigen Sven Ulreich. Ulreich ist in Schorndorf in der Nähe von Stuttgart geboren und spielte schon als 10-jähriger für den VfB. Parallel dazu durchlief er die Jugendnationalmannschaften des DfB bis rauf zur U21. Und mit Ulreich im Tor läuft es bald besser. Das Debüt gegen Berlin geht zwar 1:3 verloren, aber danach startet der VfB eine Siegesserie mit fünf siegreichen Spielen in Folge.

Doch Armin Veh spürte den Druck und gibt ihn ungefiltert an seinen jungen Torwart weiter. Nach einer 0:3 gegen Leverkusen beschuldigt er Ulreich öffentlich: „Wir haben durch zwei Torhüter-Fehler verloren. Das haben alle gesehen. Da bringt es nichts, den Torhüter zu schützen.“ Im nächsten Spiel steht wieder Raphael Schäfer im Tor und als er nach der Saison den VfB verlässt kommt Jens Lehmann von Arsenal London als gerade zurückgetretener Nationaltorwart und neue Nummer Eins. Ulreich sagte später in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung, dass er mit etwas mehr Rückendeckung auch damals schon zur Nummer Eins hätte werden können. In der nächsten Saison geht es für ihn zurück in die zweite Mannschaft des VfB. Armin Veh wird in der Zwischenzeit entlassen – seine Tournee über die Trainerbänke der Bundesliga führt ihn bald auch beim HSV vorbei.

Endlich Stammtorwart

In der darauf folgenden Saison ist Ulreich die etatmäßige Nummer Zwei hinter Lehmann. Er kommt in vier Spielen zum Einsatz, als Jens Lehmann eine Tätlichkeit gegen den Mainzer Bancé begeht und nach der Roten Karte für mehrere Spiel gesperrt ist. Es war übrigens dasselbe Spiel nach dem Jens Lehmann einem Mainzer Fan die Brille klaute. Im Sommer beendet Jens Lehmann schließlich seine Karriere und Ulreich wird zur neuen Nummer Eins. Trainer Christian Groß macht ihn als 22-jährigen zum Stammkeeper. In den nächsten drei Jahren absolviert er alle 102 Bundesligaspiele.

Trotzdem ist er in dieser Zeit nicht unumstritten. Manche ärgern sich, dass der VfB stattdessen Bernd Leno nach Leverkusen abgab. Ein Freund von mir ist Stuttgart-Fan und hat viele Spiele von ihm im Stadion gesehen. Er sagt: “Nach Hildebrand und Lehmann waren wir torwarttechnisch natürlich verwöhnt. Mir sind vor allem seine Reflexe auf der Linie und sein Talent im 1 gegen 1 in Erinnerung geblieben, mit denen er so manche Defizite z.B. in der Strafraumbeherrschung wieder wett machte. Aber er leistete sich auch Patzer und strahlte nicht immer Sicherheit aus. Das traf aber in den Jahren zwischen Meisterschaft und erstem Abstieg für einige unserer Spieler zu. So gesehen war Sven Ulreich ein bisschen Sinnbild für den VfB in dieser Zeit, der oftmals unglücklich aussah und hinter seinen zu hohen Erwartungen blieb.“

Ulreich ist zu dieser Zeit einer dieser klassischen Bundesliga-Torhüter, die ihr Tor zuverlässig auf gutem Niveau hüten. Deren Qualitäten aber erst wirklich sichtbar wird, wenn man auf sie verzichten muss. Als Huub Stevens in der Saison 14/15 das zweite Mal als Feuerwehrmann zum VfB kommt, setzt er zunächst auf Thorsten Kirschbaum als Nummer Eins. Ein Torwart, dem der Spiegel „allenfalls gehobenes Zweitliga-Niveau“ bescheinigt. Erst als Kirschbaum sich verletzt, rückt Ulreich wieder für den Rest der Saison zurück ins Tor und sichert schließlich mit dem VfB den Klassenerhalt.

Doch die Degradierung durch Stevens war eine Kränkung zu viel. Obwohl Ulreich ein Junge aus der Region ist und der VfB „sein Verein“ ist, lässt er nicht mehr alles mit sich machen. Nach dem Druck von Veh, dem Misstrauen der eigenen Fans und der Degradierung durch Stevens will er nicht mehr in Stuttgart spielen. Und vor Beginn der nächsten Saison sagt ihm die sportliche Leitung, dass sie nicht mehr voll auf ihn setzt. Das Maß ist voll. Trotz seines Ehergeizes braucht er ein Umfeld, das ihm vertraut. Und er findet es. Auf der sichersten und wärmsten Bank der Bundesliga – beim FC Bayern München. Ein Wechsel den zu diesem Zeitpunkt die wenigsten nachvollziehen können. In Stuttgart ist man zunächst nicht traurig über den Wechsel. Bis der Verein in der ersten Saison ohne Ulreich aus der Bundesliga absteigt. Unter VfB Fans kursierte eine Zeitlang die Facebook-Seite „Euer Ulle“, die satirisch das VfB Geschehen kommentierte und die Posts so unterzeichnete, wie Ulreich es tat. Leider ist die Seite inzwischen verschwunden und existiert nur noch in kleiner Reloaded-Form.

Der Stellvertreter

Manuel Neuer ist zu diesem Zeitpunkt wohl der einzige Torwart in der Bundesliga bei dem klar ist, dass Ulreich nicht an ihm vorbeikommt. Er nimmt die Rolle, die vorher Pepe Reina und Tom Starke ausgefüllt haben, bereitwillig an. In seiner ersten Saison in München macht er drei Spiele. Jeweils eins in Liga, Champions League und Pokal. In der darauffolgenden Saison sind es wenigstens fünf in der Liga, weil Manuel Neuer einen Mittelfußbruch erleidet. Dann verletzt Ulreich sich selbst am Ellenbogen und wird in der Liga wiederum von Tom Stark vertreten. Doch in der darauffolgenden Saison hat Neuers Fußverletzung zur Folge, dass Ulreich mehr ins Rampenlicht rückt als je zuvor. Neuer kommt zwar nach dem Sommer zurück, doch sein hält nur drei Spiele an. Die ganze Saison bis kurz vor die WM 2018 hat er mit seinem Mittelfuß und dem Rehatraining zu tun. Ulreich macht in dieser Saison insgesamt 29 Bundesliga-Spiele als Bayern-Torwart. Und nachdem er zu Beginn noch einige Wackler in seinem Spiel drin hatte, entwickelt er sich für den Rekordmeister zu einem echten Rückhalt.

Vor allem Jupp Heynckes stärkte ihm in dieser Zeit den Rücken und brachte ihn wie auch die ganze Bayern-Mannschaft zurück auf Kurs. Nach dem der Transfer zum HSV feststand, habe ich mit einem Kollegen telefoniert, der den FC Bayern eng begleitet. Er sagte mir: „Nach den Fehlern am Anfang war seine Entwicklung enorm. Der hat das richtig gut gemacht. So gut eigentlich, dass niemand Manuel Neuer in dieser Zeit vermisst hat.“ Auch Ulreich selber sagt, dass er sich im Training bei den Bayern noch einmal weiterentwickelt habe. Besonders die Explosivität bei Paraden auf die Toni Tapalovic als Torwarttrainer großen Wert lege, habe er direkt in sein Spiel mit integriert. Natürlich lässt sich die Wettkampfpraxis nicht ersetzen, aber wenn etwas dem nahe kommt, ist es wahrscheinlich das Training gegen Stürmer wie Lewandowski, Müller oder Robben.

Allerdings bleibt aus dieser Zeit auch sein Patzer gegen Real Madrid in Erinnerung, als er einen Rückpass von Tolisso durchrutschen lässt und Karim Benzema so das 2:1 für Real Madrid ermöglicht. Trotzdem haben sie in München die Leistung von Sven Ulreich aus dieser Saison maximal positiv in Erinnerung. Und genauso positiv registrierte die sportliche Leitung wie Ulreich in der kommenden Saison ohne Murren zurück ins zweite Glied rückte. Gerade in einer Mannschaft, die so mit Alphatieren gespickt ist wie der FC Bayern, ist so ein Verhalten eher unüblich. Doch trotz seiner Rolle als Stellvertreter hatte Ulreich gute Beziehungen zu den Führungsspielern der Mannschaft, vor allem mit Müller und Lewandowski schien er sich gut zu verstehen. Mein Münchener Kollege sagte, dass Ulreich wirklich ein ausgesprochen feiner Kerl sei. Und das meinte er durchaus in Abgrenzung zu vielen Fußballern, die zwar umgänglich seien, aber eben nicht in so herausragendem Maß wie Ulreich. Hans-Dieter Flick hätte in dieser Saison auch lieber Ulreich als zweiten Keeper behalten. Doch letztendlich konnte sich Hasan Salihamidžić durchsetzen, der als größter Fürsprecher des neuen Ersatzkeepers Alexander Nübel gilt.

 

Was der HSV von Ulreich erwarten kann

Wahrscheinlich muss sich der HSV bei seinem ehemaligen Flügelflitzer bedanken, dass durch seinen Transfer von Nübel der Ulreich-Wechsel zum HSV möglich wurde. Hier wird Ulreich wohl direkt die neue Nummer Eins werden. Nach außen kommunizieren Boldt und Thioune, dass Heuer-Fernandes um seinen Platz kämpfen wird. Doch dieses außen würde wohl mit großem Unverständnis reagieren, wenn Ulreich nicht für den Rest der Saison das HSV-Tor hüten wird. Die Erwartung an Ulreich ist nichts weniger, als dass auf der Torwartposition endlich Ruhe einkehrt.

Die letzte starke Nummer Eins des HSV war René Adler – und der wurde zu oft von seiner Verletzungsanfälligkeit ausgebremst. Danach kamen talentierte (Pollersbeck) oder bestenfalls solide (Mathenia und Heuer-Fernandes) Torhüter. Aber keiner der für die Mannschaft der sogenannte „echte Rückhalt“ waren. Die Erfahrung beim FC Bayern kommt Ulreich zudem für die Aufgabe beim HSV entgegen. Denn in dieser Zweitliga-Saison wird er auch meistens nicht pausenlos in Aktion sein, sondern vielmehr einige entscheidende Bälle zu halten haben – auf die kommt es dann aber umso mehr an. Ich persönlich erwarte von Ulreich, dass er auch mal einen scheinbar unhaltbaren Ball hält und so dem HSV Punkte sichert, die er in den letzten Jahren zu oft verloren hat.

Dass Ulreich es ernst meint, wenn er eine Aufgabe angeht, illustriert vielleicht noch eine private Geschichte aus seiner Münchener Zeit. Bei einem Essen im Restaurant fiel ihm sein Ehering zwischen die Bodendielen. Doch der bedeutete ihm so viel, dass er die Mitarbeiter dazu brachte die Dielen vom Boden aufzureißen. Tatsächlich fand er den Ehering wieder. Wenn er seine Zeit beim HSV mit dem gleichen Engagement angeht, dann können wir uns auf einen tollen Torwart freuen. Auf unseren Ulle.

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