Marcus Scholz

20. November 2019

Ob Bobby Wood endlich von Beginn an ran darf, werde ich oft gefragt. Diese Frage stellen sich zunehmend mehr HSV-Anhänger, auch hier im Blog. Und diese Frage bekam nach der Roten Karte von Bakery Jatta noch zusätzlich frisches Futter, da die Wahrscheinlichkeit für eine Startelfnominierung des US-Amerikaners damit stieg, da mit Martin Harnik auf der Außenbahn gerechnet wird. Der erste Ersatz des zuletzt schwächelnden Lukas Hinterseer im Sturmzentrum wäre also anderweitig verplant und nicht mehr verfügbar. Dass sich Lukas Hinterseer in seinem misslungen Comeback-Spiel für die österreichische Nationalmannschaft gegen Lettland (0:1) am Oberschenkel verletzte und heute nicht auf dem Trainingsplatz stehen konnte, ließ Bobby Woods Chancen noch einmal ansteigen. „Bobby ist gut unterwegs. Schon länger“, so Trainer Dieter Hecking, den die Frage nach einzelnen Personalien zuletzt zunehmend nervte. Und ich glaube, Wood wird gegen Dresden am Sonnabend nicht beginnen.

Man merkt dem HSV-Trainer an, dass er Wood eben noch nicht als Startelfspieler zu sehen scheint. Zurecht, wie ich finde. Denn in den Trainingseinheiten ist Wood zweifellos hochmotiviert und bemüht - aber eben nicht immer glücklich im Abschluss. Der US-Amerikaner hat die Mischung aus seiner Körperlichkeit, seinem Tempo und seinem harten Abschluss noch lange nicht wieder optimiert. Seit Jahren nicht mehr, ehrlich gesagt.

Aber schon allein die Tatsache, dass er eben lange nicht (von Beginn an) auf dem Platz stand, lässt die meisten hoffen. So, wie es in den letzten jähren häufiger der Fall war, liegt auch hier die Hoffnung in dem Unbekannten - oder besser gesagt: in dem Unverbrauchten. Und dieses Phänomen könnte sich der HSV zu eigen machen. Oder besser formuliert: Er sollte diese Chance unbedingt ergreifen!

HSV-Fans lechzen nach einem Star aus den eigenen Reihen

Denn dieses Phänomen ist in Hamburg seit Jahren zu beobachten. Immer, wenn irgendwo etwas nicht läuft, sind die, die es nicht verbockt haben, die Hoffnungsträger. So abstrus es auch manchmal erscheint. Xavier Amaechi beispielsweise ist aktuell so ein Phänomen. In nahezu jedem Community-Talk wird die Frage nach dem jungen Engländer, der heute übrigens ebenso wie Hinterseer mit einer Oberschenkelprellung fehlte, gestellt. Dabei haben wir hier ebenso wie alle Kollegen und die Trainer in den letzten Wochen hundertfach wiederholt, dass der junge Außenstürmer noch Zeit braucht. Er ist definitiv noch zu weich. Ihm fehlt die nötige Zweikampfhärte, um sich dauerhaft durchzusetzen und die Gefahr, dass er aktuell aufgefressen wird von den Zweitliga-Hünen ist groß. Und dennoch behaupte ich, dass bei einer Umfrage mehr als die Hälfte dazu tendieren würde, Amaechi mal von Beginn an zu bringen. Weil man wider alle Wahrscheinlichkeit auf den einen großen Star hofft. Die HSV-Fans lechzen nach einem neuen Star aus den eigenen Reihen…

Auch ich habe in der letzten Saison immer wieder gefordert, dass Spieler wie Josha Vagnoman mehr Spielzeit bekommen. Ebenso wie zuvor bei Fiete Arp, Michael Gregorisch, Luca Waldschmidt und anderen Talenten, denen ich den Durchbruch zutraute. Und das auch in Fällen, wo auf der Position dieser Youngster arrivierte Spieler die vermeintlich erfolgssicherere Variante darstellten. Weil ich glaube, dass der HSV diesen Weg hin zum Ausbildungsverein zwingend gehen muss. Schon aus  betriebswirtschaftlichen  Gründen ist das zwingend, sagt auch Finanzexperte Kai Krebs im Interview mit NDR.de: „Signifikant ist auch das Abschmelzen des Anlagevermögens. Bedingt dadurch, dass bilanzmäßig die Spielerwerte lediglich noch 20 Millionen betragen. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn der HSV keine Nachwuchsspieler heranführen kann, hat er bald keine verkaufsfähigen Spieler mehr.“

In diesem Interview bezeichnet Rabe die finanzielle Situation des HSV als „mittelschwere Katastrophe“ und er bezeichnet die Entscheidung, Frank Wettsteins Vertrag als Vorstand Finanzen zu verlängern, als unerklärlich: „Die Entwicklung der HSV Fußball AG unter Frank Wettstein ist -  milde ausgedrückt - eine mittelschwere Katastrophe. Das Nettovermögen zum Stichtag der Ausgliederung des HSV betrug 49 Millionen. Nach fünf Jahren unter Herrn Wettstein beträgt es 68 Millionen, was einem Zuwachs von nur 19 Millionen entspricht. Allein durch die Ausgabe neuer Aktien hat der HSV aber 70 Millionen an Eigenkapital vereinnahmt. Hinzuzurechnen sind natürlich auch noch die als Darlehen vereinnahmten Gelder, auf deren Rückzahlung Investoren verzichtet haben. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann es keinen objektiv nachvollziehbaren Grund für eine Verlängerung geben. Im Gegenteil: Man muss sich wundern, wie lange diesem Wirken des Finanzvorstands ohne Konsequenzen zugeschaut wird.“ Zuvor hatte Wettstein bei der Veröffentlichung der Bilanz am vergangenen Donnerstag noch davon gesprochen, dass man auf einem guten Weg sei.

Dem Heranführen von Talenten steht Aufstiegsdruck entgegen

muss der HSV seine Arbeit in Sachen Talente forcieren. Problem hierbei ist, dass neben dem Heranführen der Talente, das immer auch ein gewisses Zugeständnis von Fehlern beinhaltet, der schnelle sportliche Erfolg - in diesem Fall der Aufstieg - realisiert werden muss. Daher trauten sich die meisten HSV-Trainer nicht, dieses Risiko einzugehen. Oder sie glaubten einfach nicht an die jungen Spieler.

Dieter Hecking hat in dieser Saison einen guten Anfang gemacht, indem der HSV wegging von großen Namen (Lasogga, Papadopoulos, Holtby…) und man endlich auf talentierte Spieler setzte. Mit diesen vergleichsweise namenlosen (nicht zu verwechseln mit günstigen) Spielern wurde eine Mannschaft geformt, die über ihre Homogenität und ihre individuelle Qualität zum Aufstiegsfavoriten avanciert. Und damit bietet sich diesem HSV eine Chance, die er lange nicht mehr hatte. Denn Hecking hat sich den Vertrauensvorschuss erarbeitet, Spieler probieren zu dürfen. Keiner seiner Vorgänger war in den letzten Jahren annähernd so schnell so unantastbar wie der 55-Jährige jetzt schon. Und ich hoffe, dass sich Hecking diese Ausnahmestellung zunutze macht und anfängt, ein Talent nach dem anderen in diese an sich funktionierende Mannschaft einzubauen.

Zugegeben, ein Adrian Fein hat sich diese Position einfach genommen - da musste Hecking nicht viel machen. Josha Vagnoman hat er aus der personellen Not heraus bringen müssen  - und es hat funktioniert. Es ist ganz sicher nicht der Zeitpunkt für waghalsige Experimente. Aber wann genau gibt es den schon? Meine Antwort: Jetzt.

Der HSV ist am Scheideweg - und sollte die Gunst nutzen

Genau genommen schon seit gestern, um es mal etwas sinnbildlich zu formulieren. Denn wenn man sich das Interview mit Kai Krebs genauer durchliest und seinen Ausführungen Glauben schenken darf, dann steht der HSV aktuell an eben diesem Scheideweg: „Das Hauptproblem des HSV besteht darin, nicht investieren zu können. Sofern kein Kapital von dritter Seite zufließen wird, kann die Mannschaft auf dem Transfermarkt kaum verstärkt werden können. Das deckt sich mit den jüngsten Aussagen des Vorstandsvorsitzenden Bernd Hoffmann. Im Falle eines Aufstieges droht nach jetzigem Stand der sofortige Wiederabstieg. Es ist utopisch zu glauben, dass die aktuelle Mannschaft ohne nachhaltige Verstärkungen in der Bundesliga bestehen kann. Das bilanzielle Jahresergebnis ist im Wesentlichen vom sportlichen Abschneiden abhängig.“

Soll heißen: Der HSV muss wie bei der Kaderzusammenstellung auch in der strategischen Ausrichtung mutige Entscheidungen treffen und einen neuen Weg einschlagen. Und wenn man sich ansieht, wie sehr die Fans in Hamburg seit Jahren danach lechzen, eigene Talente zu feiern und so neue Identifikationsfiguren zu bekommen, ist der Moment perfekt. ich behaupte sogar, dass das oft als so kritisch und zu fordernd bezeichnete „Umfeld“ des HSV hier schon einen Schritt weiter ist als die HSV-Verantwortlichen selbst. In dem Interview mit Krebs wird auch nach Klaus Michael Kühne gefragt und Krebs sieht die Abgrenzung zum Investor als ausschließlich positiv an, während er Investments seriöser Investoren für den HSV eher ausschließt - schon allein ob der Personalien Wettsteins, der hier mächtig sein Fett wegbekommt.

Und trotzdem stelle ich an dieser Stelle noch einmal die Frage, die ich in den letzten fünf bis zehn Jahren jedes Jahr wieder stelle: Warum schafft es der HSV nicht, mit Hilfe potenter Partner einen Nachwuchsfonds aufzustellen und in die Ausbildung Hamburger, deutscher und internationaler Toptalente so zu investieren? Genau genommen so intensiv und nachhaltig, dass man sich hierbei vom Rest der Konkurrenz positiv abhebt? Anstatt einem Wood oder Papadopoulos knapp drei Millionen Euro im Jahr zu bezahlen, könnten sich jährlich investierte fünf Millionen Euro in 16, 17 oder 18 Jahre junge Toptalente schnell so auszahlen, dass eine Entschuldung des HSV realistisch wird.

Der Nachwuchs muss eine zentrale Rolle beim HSV einnehmen 

Okay, dazu gehört mehr als das Talent allein. Hier muss vereinsintern massiv in die Ausbildung dieser Spieler investiert werden. In Form von besten Trainingsbedingungen - und von Trainern. Hier muss der HSV in den nächsten Jahren mindestens so arbeitsintensiv auf aufwendig ansetzen, wie zuletzt im Profibereich. Denn dazu gehört ein professioneller Apparat, der sich tatsächlich mit nichts anderem beschäftigt, als mit dem Scouten von derlei Toptalenten. Sportchef Michael Mutzel beispielsweise wird nachgesagt, sich im Nachwuchs der Top-Nachwuchsländer Frankreich und England beispielsweise bestens auszukennen. Was also hindert den HSV noch, hier Jahr für Jahr nach Talenten der Kategorie Jadon Sancho zu suchen? Angesichts der explodierenden Ablösesummen würde „schon“ ein Volltreffer wie der vom inzwischen 100 Millionen Euro wertvollen Dortmunder, der aus der U18 von ManCity zum BVB wechselte, reichen, um 20 Jahre der von mir genannten Investitionen zu refinanzieren. Aber dazu gehört eben auch viel Arbeit, Akribie - und Geld.

Schneller, findiger, investigativer und einfach besser wollten in Hamburg noch alle Sportchefs und Sportvorstände sein, als sie anfingen. Und es wird Zeit, dass einer das mal in die Tat umsetzt. Boldt ist ein junger, investigativer Typ mit der Chuzpe, derartig investigative, mutige Entscheidungen zu treffen. Und der Zeitpunkt, einen solchen Weg einzuschlagen, ist auch gut - um nicht zu sagen: er ist nahezu zwingend. Also:

Trauen Sie sich, Herr Boldt! Trau’ dich endlich, HSV!

In diesem Sinne, bis morgen. Da wird um 10 Uhr trainiert. Öffentlich. Ich melde mich aber wie immer auch morgen früh wieder um 7.30 Uhr bei Euch mit dem MorningCall. Bis dahin wünsche ich Euch allen einen schönen Abend und eine ruhige Nacht!

Scholle

 

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